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9 Eigensinn
Typisches Beispiel für meinen Eigensinn ist für mich mein elterliches Verlangen nach Erziehung, denn damit fängt ja viele Maskenhaftigkeit an. Eltern mögen noch so lieb sein, mögen noch so klare und wohlerwogene Erziehungsprinzipien leben. Was der Erzogene davon wahrnimmt oder gar wie er davon in sein Weltbild einbaut, ist vom Elternwillen völlig unabhängig; entscheidend: sie machten aus einem Menschen einen Zögling. Ich sehe das an den so unterschiedlichen Geschwistern ein und derselben Familie. Diese Menschen könnten manchmal von verschiedenen Sternen stammen.
Denn die Ursachen emotionaler Verwirrung und gestörten Verhaltens liegen weniger in früheren oder jetzigen Erlebnissen, sondern eher in den dauerhaften, irrationalen Gedanken über diese Ereignisse und in ihrer gedanklichen Wiederholung. Die gedankliche Wiederholung führt auch zu definitiver Wiederholung, d.h. ich inszeniere meinen Gedanken, projiziere ihn von der Vergangenheit in die Zukunft und "erschaffe" so immer wieder von neuem dieselbe persönliche Realität. Das schafft mir ein Daheim-Gefühl in meiner alltäglichen Wirklichkeit.
Ganz gleich, wie sehr ich mich von den auslösenden Ereignissen ursprünglich irritiert oder gar tief verletzt gefühlt habe, ich bleibe verwirrt, weil ich mich selbst pausenlos mit den irrationalen Gedanken darüber indoktriniere[1], die ich in der Vergangenheit selbst geschaffen oder übernommen habe von anderen. Und das tue ich, nicht die Eltern. Auch hier gilt: Das Problem sind nicht die Dinge, nein, es ist das Sehen, genauer, es ist meine getroffene Wahl für einen bestimmten Blickwinkel.
Es ist in Ordnung zu glauben, mich habe jemand verletzt. Aber wenn ich daran leide und das Leiden satt habe, dann ist es an mir, mich aus dem Glauben daran zu lösen, den Blickwinkel zu verändern. Ich habe nur die Alternative: ich kann meinen Gedanken glauben oder aber sie untersuchen.
Auch ohne Erziehungswillen, es wird das vorgelebte Verhalten des Zentralsozialpartners - in unserer Gesellschaft fast immer eines Erzogenen, egal, ob eines Gehorsamen oder komplementär eines Revoltierenden - aufmerksam kopiert. Das ist feste Verdrahtung des Hirns aus der Anpassungsleistung des Neugeborenen. Das geschieht so selbstverständlich wie Spracherwerb, ohne Arg, ohne bösen Willen. Manche Verwirrung wird in aller Unschuld über Generationen weitergetragen und erzeugt immer wieder, als Beispiel, dieselbe Krankheit. Familienaufstellung kann da tiefe Einblicke geben.
Wortlos dröhnte es schon in dem Säugling: "Du bist so nicht in Ordnung - Hör auf mich, es ist zu Deinem Besten - erst wenn Du so bist wie ich das will, wirst Du als Mensch anerkannt" oder, noch kränkender, "... wenn Du erreicht hast, wovon ich nur träumen konnte ...". Später, welch ein Widersinn, soll dann der Schüler zur Freiheit, zum Demokraten[2] erzogen werden. Erziehung gibt solch schreckliche Würze dazu, weil sie dem durch Erziehung Verwirrten auch noch seine Verwirrung zur Schuld machen will: "Stell Dich nicht so an".
Einen anderen Tummelplatz für meinen Eigensinn bietet mir die Technik. Dieser Eigensinn findet täglich seinen Ausdruck in unserer Verliebtheit in die allgegenwärtigen Phantasien über triviale Maschinen. Ich sehe in meiner Handlung jetzt nur die Ursache für die Folge gleich. Tatsächlich ist diese Handlung eingebunden in eine Kette von Folgen, deren Tragweite, Anfang oder Ende, wegen der Unwißbarkeiten aus den Regeln II. Ordnung und wegen meines Unwissens II. Ordnung ich gar nicht überblicken kann mit meinem Verstand, selbst wenn ich ihn per Computer noch so sehr erweitere.
Ich mag mein warmes, helles Zuhause, den Herd, das Bett, die Bücher. Ich weiß, daß dies alles viel Technik voraussetzt, Kraftwerke, Fabriken, Netze von Infrastrukturen. Das Instrument der "Technikfolgenabschätzung" zeigt immer wieder, daß die mit den Technikfolgen sich entwickelnden höheren Komplexitäten in höherer Ordnung unwißbar und damit unvorhersagbar sind. Ökologie-Wissenschaft hat inzwischen nur einen Zipfel des Unwissens in Händen. Trotzdem wissen wir schon heute genug, um zu erkennen, daß unsere Technik diesen Planeten verwüstet, so weitergeführt, daß wir uns damit umbringen.
Können wir wissen, daß wir uns umbringen werden? Wir wissen nicht wie das geschehen wird. Es gibt kein ökologisches Gleichgewicht. Der Erfolg dieser Metapher steht in einem direkten Zusammenhang mit der Krise der Umweltbewegungen und der Ökologie als Wissenschaft. Der in München lehrende Ökologe Joseph H. Reichholf hat in seinem Buch "Comeback der Biber", dessen Untertitel "Ökologische Überraschungen" darauf hindeutet, wie wenig genau Vorhersagen in der Ökologie sind, an einigen Fallbeispielen die Schwierigkeiten ökologischer Begriffsbildung durchgespielt.
Das fängt schon an mit dem Begriff des Ökosystems. "Ökosysteme sind keine 'natürlichen Funktionseinheiten' oder gar so etwas wie 'Super-Organismen', sondern willkürlich, zumeist aus praktischen Gründen abgegrenzte Ausschnitte aus dem Naturhaushalt", schreibt Reichholf. Das hat Vorteile und Nachteile. Nur indem man einen bestimmten Lebensraum wie einen See, einen Wald oder ein Korallenriff abgrenzt und ihm ein Innen und Außen zuordnet, bekommt man die in ihm lebenden Arten und ihre Wechselbeziehungen in den Blick. Aber auch dann wird man sich in der Regel in dem Gewirr der Lebenserscheinungen noch verlaufen. Denn in den meisten Ökosystemen ist die Artenzahl einfach zu hoch - und häufig noch nicht mal ganz bekannt -, als daß daraus etwas anderes folgen könnte als wirre Schaubilder, in denen andauernd etwas schwankt, kommt und wieder geht.
Eine Vorstellung, was Natur sei, läßt sich daraus nicht ableiten. Noch weniger könnte man mit den Ergebnissen so etwas wie eine unberührte Natur fundieren. Wann soll es die wo und wie gegeben haben, wenn sich alles immer andauernd verändert und eine Rekonstruktion der Natur ohne die "zweite Natur" - was nichts anderes als den Menschen meint - gar nicht möglich wäre? Trotzdem sind die Schriften und Forderungen der Naturschützer von Begriffen wie dem von der "Störung des Naturhaushalts" durchzogen, und hierzulande stehen sie sogar im Naturschutzgesetz. Eine Natur, wie sie sein soll, wird so zur Leitidee ihres aktuellen praktischen Schutzes. Erkennbar wird die "pädagogische Krankheit" der Erzogenen, die "das Beste wissen".
Und ist es nicht genauso mit mir, wenn ich meinen Verstand einen rechten Sinn suchen lasse? Wo sind die Grenzen von dem Sinn suchenden Ich, wo sein Außen, wo sein Innen? Was gehört zu dem einen und was zu dem anderen? Ist das Außen dieses "Ich" die Haut des Körpers, ist das da, wo die Schallwellen meiner Wörter das Ohr des Gegenüber treffen oder da, wo die Inhalte der Wörter mit dem Wissen des Hörers interagieren? Genauso könnte ich fragen für das "System Körper" oder für das Konstrukt eines "Selbst". Alles das sind künstlich aus dem unwißbaren Lebensraum aus praktischen Gründen abgegrenzte Ausschnitte und auch dann wird man sich in der Regel in dem Gewirr der Lebenserscheinungen noch verlaufen.
Sind das nicht alles willkürliche Setzungen, Attribuierungen, Ansichten, wechselhaft von Ereignis zu Ereignis, alles Wildwuchs aus dem fetten Humus kaum rekonstruierbarer Traditionen? Es gibt noch viel zu erforschen.