Selbsterkenntnis und Eigensinn


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8.01 Entstehen von Wissen

8 Wer antwortet?


Der Wissenschaftshistoriker E. P. Fischer schreibt
[1]: Verglichen mit dem Teich des Wissens bleibt unser Unwissen von atlantischen Ausmaßen. Der Horizont des Nichtwissens weicht sogar zurück, wenn wir ihm näher kommen. Mit diesen Sätzen eröffneten zwei angelsächsische Herausgeber 1977 ihre "Enzyklopädie der Ignoranz". Die zitierten Sätze beziehen sich dabei auf einen klassischen Gedanken von Isaac Newton (1643 - 1727), der sich als Wissenschaftler zeitlebens mit einem Kind verglich, das am Strand spielt und sich an den gefundenen Muscheln ergötzt - während der riesige Ozean unerforscht vor ihm liegt.

In dem sich öffnenden Horizont steckt weniger Vergeblichkeit denn Hoffnung: nämlich das Versprechen, daß die Suche nach dem Wissen nie vollendet sein wird. Mit anderen Worten: Wissenschaft ist das nie zum Abschluß kommende und somit grenzenlose Abenteuer der Menschheit. In der besagten Enzyklopädie finden sich Fragen, die auf den ersten Blick sehr einfach wirken, obwohl sie bis heute trotz aller Fortschritte rätselhaft bleiben - zum Beispiel "Warum gibt es Blutgruppen?" Daneben stehen Probleme, die mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein kaum erfaßbar erscheinen - etwa "Warum verstehen wir den Schmerz nicht?". Bis heute weiß niemand, wie eine befriedigende Antwort auf diese Fragen aussehen könnte oder welche Elemente sie wenigstens enthalten müßte.

An vielen Fronten stoßen wir auf Grenzen des Wissens. Damit ist natürlich auf ein großes, unerreichbares Vorbild angespielt: die "Kritik der reinen Vernunft" von Immauel Kant (1724 - 1804). Gleich im ersten Satz der berühmten Vorrede zur ersten Auflage ging Kant auf die Grenzen des Wissens ein: Demnach hat die menschliche Vernunft "das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft". Damit steckte der große Philosoph der Aufklärung deutliche, ewige Grenzen des Wissens ab.

Wenn wir von den Grenzen der Wissenschaft sprechen, meinen wir damit oft implizit die Grenzen der Physik, die zumindest im 20. Jahrhundert noch das große Vorbild aller Wissenschaft war. Aber natürlich ist Wissenschaft mehr als Physik. Um diese Einschränkung hinter sich zu lassen, könnte die Wissenschaft anfangen, Hermeneutik
[2] zu werden, oder sich daran machen, die "Fragen nach dem Warum" zuzulassen, die Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) einst so vermißte.

Warum-Fragen haben ganz allgemein Tücken. Sie lassen sich stets aus zwei Richtungen beantworten: von der Ursache und vom Ziel, der Bestimmung her. Wer etwa wissen möchte, warum ein Herz schlägt, kann entweder etwas über Kalziumionen lernen, die Muskelbewegungen in Gang setzen. Oder er kann etwas über das Blut lernen, das bewegt werden muß, um die Zellen eines Organismus mit Sauerstoff zu versorgen und so am Leben zu halten.

Die bekannteste Beschränkung der Wissenschaft allerdings stammt von Karl Popper, ausführlich beschrieben in der "Logik der Forschung". Das Bemühen um Erkenntnis beginnt demnach mit einer Hypothese, die sich in einem Experiment bewähren können muß. Stellt sie sich als falsch heraus, dann erzwingt diese Falsifizierung eine neue Vermutung, die dann ein neues hypothetisches Wissen darstellt, das bis zu seiner Widerlegung gültig ist. Auf diese Weise kann wissenschaftliches Wissen nur hypothetisch - und folglich niemals endgültig - sein, und die eigentliche Aufgabe eines Forschers besteht darin, Experimente auszuhecken, die seine Hypothesen möglicherweise als Irrtum entlarven könnten.

Diese Grundidee der Falsifizierung hat bis heute viele Anhänger, obwohl zahlreiche Erfahrungen der Wissenschaftsgeschichte nicht mit ihr zu vereinbaren sind. (Poppers "Logik der Forschung" ist selbst historisch längst falsifiziert. "Was kümmert die Philosophie die Grenzen, die sie den Naturwissenschaften vorschreibt?") Wolfgang Pauli hat das Unzureichende der Falsifizierung schon 1957 betont: Er hoffe, notierte er in seinem Aufsatz "Phänomen und physikalische Realität", niemand glaube mehr, "daß Theorien durch zwingende logische Schlüsse aus Protokollbüchern abgeleitet werden". Diese Ansicht sei veraltet.

Pauli zufolge kommen Theorien "durch ein vom empirischen Material inspiriertes Verstehen" zu Stande, das aufzufassen ist als ein "zur Deckung Kommen von inneren Bildern und äußeren Objekten und ihrem Verhalten". Damit rekurrierte der Atomtheoretiker auf den griechischen Philosophen Platon: "Die Möglichkeit des Verstehens zeigt aufs Neue das Vorhandensein regulierender typischer Anordnungen, denen sowohl das Innen wie das Außen des Menschen unterworfen sind."

Mit diesen beim ersten Lesen vielleicht ungewohnten Gedanken kehren wir zu den inneren Bildern zurück, die nicht nur von Johannes Kepler (1571 - 1630) zur Erkenntnis benötigt wurden und mit denen sich andere als die bislang betrachteten Grenzen offenbaren, die es auf dem Weg zum Wissen (der Wahrheit) gibt. Pauli argumentierte auf der Ebene der Psychologie. Es sei erwiesen, "daß jedes Verstehen ein langwieriger Prozeß ist, der lange vor der rationalen Formulierbarkeit des Bewußtseinsinhaltes durch Prozesse im Unbewußten eingeleitet wird." Auf dieser vorbewußten Erkenntnisstufe sind statt klarer Begriffe Bilder mit starkem emotionalem Gehalt wirksam, die nicht gedacht, sondern "malend" geschaut werden: "Die gesuchte Brücke zwischen Sinnesempfindungen und Ideen oder Begriffen scheint durch anordnende Operatoren oder Faktoren (die ich nicht als "rational" bezeichnen möchte) bedingt zu sein, von denen auch diese vorbegriffliche Schicht der symbolischen Bilder beherrscht wird." So nachzulesen in Paulis Buch "Physik und Erkenntnistheorie".

Dieser Aspekt des Wissens, der in der abendländischen Philosophie nicht gut untersucht ist, weist auf eine Grenze hin, die in uns selbst liegt. Es geht um präexistente innere Bilder und um unanschauliche Ordnungsfaktoren. Für beide wurde im Laufe der europäischen Geistesgeschichte der Begriff "Archetypus" verwendet. Kepler hat diesem Ausdruck bereits im 17. Jahrhundert die erste wissenschaftliche Fassung gegeben. Er beschrieb, was für ihn Erkennen heißt, nämlich "das äußerlich Wahrgenommene mit den inneren Ideen zusammenzubringen und ihre Übereinstimmung beurteilen, was man sehr schön ausgedrückt hat mit dem Wort 'Erwachen' bei einem Schlaf". Kepler war davon überzeugt, daß Sinneserfahrungen die "innen vorhandenen Gegebenheiten" hervorlocken, die "dann in der Seele aufleuchten, während sie vorher wie verschleiert waren".

Das bedeutet, daß unser Wissen aus uns selbst kommt und zwar durch eine in jedem Menschen angelegte Vorstellungsfähigkeit, die in Form von symbolischen Bildern in das Bewußtsein treten kann. Das Wissen ist dann einerseits durch den Bildervorrat begrenzt, den das Unbewußte beherbergt, und andererseits durch unsere Fähigkeit, an das innere Reservoir heranzukommen.

Was den ersten Faktor angeht, so stellt der archetypische Bildervorrat allein deshalb eine Grenze unseres Wissens dar, weil seine Quelle, der Archetypus, zugleich mit den inneren Imaginationen die äußeren Erscheinungen bestimmen muß und damit sich nicht der Trennung unterwirft, die das europäische Denken seit rund 400 Jahren als selbstverständlich akzeptiert, nämlich die Trennung in Körper und Geist. Über diese Grenze setzen wir uns hier hinweg. Statt dessen lenken wir die Aufmerksamkeit auf die zweite Bemerkung, die nach dem Wechselspiel zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten fragt. Diese Stelle scheint nämlich grundsätzlich geeignet, um besser als durch eine "Logik der Forschung" festzulegen, worin eine wissenschaftliche Methode besteht.

Pauli zufolge ist es das ureigenste Wesen der Wissenschaft, "eine Sache immer wieder vorzunehmen, über den Gegenstand nachzudenken, sie dann wieder beiseite zu legen, dann neues empirisches Material zu sammeln, und dies, wenn nötig, durch viele Jahre fortzusetzen". Auf diese Weise werde "das Unbewußte durch das Bewußtsein angekurbelt und, wenn überhaupt, kann nur so etwas dabei herauskommen".

Mit diesem Gedanken werden ganz offensichtlich deutliche Grenzen gezogen - und zwar für den, der Wissenschaft nur halbherzig betreibt und nicht wagt, sich auf sein Unbewußtes einzulassen. "Ich glaube, daß man Wissenschaft nicht nebenbei betreiben kann", notierte Pauli. Anders formuliert: Der Verstand allein bringt mich nicht an die Grenzen des Wissens. Ich muß schon mein Leben mit all seinen Fähigkeiten einsetzen, um dahin zu kommen - also auch meine Gefühle, Ahnungen, Träume, Phantasien und mehr. Wenn ich
wissen möchte, muß ich mein Leben ändern.



  • [1] E. P. Fischer in "Spektrum der Wissenschaft" Dossier: "Grenzen des Wissens"; 2/2002
  • [2] [zu griechisch hermeneúein aussagen, auslegen, erklären]. Im engeren Sinn die Kunst und Theorie der Auslegung von Texten, im weiteren Sinn das Verstehen von Sinnzusammenhängen in menschlichen Lebensäußerungen aller Art. Die hermeneutische (verstehende) Methode, die in Gegensatz zur erklärenden der Naturwissenschaften gesetzt wird, will Bedeutung und Sinn von Äußerungen und Werken des menschlichen Geistes aus sich und in ihrem Zusammenhang verstehen. Aus dieser Perspektive unterscheidet sich das hermeneutische Wissenschaftsverständnis substanziell von dem der Naturwissenschaften. Hans Georg illustrierte, daß Wissenschafts-, Alltags- und Stammeskulturen auf traditionell bedingten kohärenten Realitätsdeutungen beruhten.




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