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1 Einleitung
Vorweg, ich bin Kriegskind (*1935), Kind von Kriegskindern (*1909 und *1910) und habe Kinder. Also ist wohl alles, was ich zu diesem Thema schreibe, durchsetzt von meinen blinden Flecken. Zusätzlich, alles, was ich als meine Erfahrungen mit meiner Familie hier schreibe, das wird jemand anders vermutlich ganz anders beschreiben können - zumindest weiß ich, dass meine fast 6 Jahre jüngere Schwester z.B. des festen Glaubens ist, mir seien meine Eltern, die sie als liebevoll und gewährend erinnert, immer und bis heute verhasst, obwohl das schon nie gestimmt hatte - sie waren nur mir nicht sehr Vertraute - und obwohl ich, nach vielen RC-Sitzungen [1], schon Anfang der 80er Jahre in einem Artikel in der FMK-Zeitschrift [2] meine Liebe zu meinen Eltern und mein Mich-Aufgehoben-Fühlen in deren Liebe sogar öffentlich gemacht habe (siehe Anhang 13.1, III Personaler Bezug, 12.5, S. 63f).
Der Blick auf die besonderen Schicksale von Kriegkindern, zumal von deutschen Kriegkindern, hat sich erst in den 80er Jahren geöffnet, sehr lange nach den Erfahrungen an Vietnam-Heimkehrern mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) in den USA (1958 - 1975) und Kindern aus afrikanischen Kriegsgebieten. Offenbar liegt in Deutschland noch immer ein dickes Tabu darüber, weil z.B. eine Relativierung der Opfer des Naziregimes zu befürchten sei. Andere beklagen die Inflationierung des Trauma-Begriffs. Das mag ja alles richtig sein.
P.A.Levine beschreibt sehr einfühlsam bis zurück ins Mittelalter die Namen und die Folgen solcher traumatischen Ereignisse , das wir heute als Krankheit benennen, und den heilsamen Umgang damit. "Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde dem Leid der Soldaten durch die neuen Bezeichnungen jede Würde genommen. Man sterilisierte es zu Kampfmüdigkeit oder Kriegsneurose. Der erste Begriff suggeriert, ein Soldat müsse sich lediglich an Großmutters Rat halten und sich lange und gut ausruhen, damit alles wieder in Ordnung kommt. Diese verächtliche Reduzierung war besonders beleidigend und ironisch, wenn man bedenkt, dass viele Soldaten die Fähigkeit zu erholsamem Schlaf völlig verloren hatten. Noch schlimmer war die abwertende Benutzung des Wortes Neurose, das den »Bombenschock« von Soldaten auf einen »Charakterfehler« oder eine hartnäckige persönliche Schwäche – wie den »Ödipuskomplex« – reduzierte, statt das Entsetzen zu berücksichtigen, das angesichts explodierender Bomben oder der tiefen Trauer über gefallene Kameraden und des Horrors, dass Menschen sich gegenseitig um bringen, völlig angemessen war. Diese neuen Bezeichnungen trieben einen Keil zwischen Zivilisten, Familien und Ärzte und die brutale Realität des tiefen Leidens der Soldaten." [Levine]
Die Historikerin Svenja Goltermann [3] hat die Leiden der Heimkehrer in die deutsche Nachkriegsgesellschaft untersucht. Niemand kam damals auf die Idee, die Soldaten als traumatisiert zu beschreiben. Nicht mal die Soldaten selbst. Sie hat für ihr Buch (Svenja Goltermann: "Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg"; DVA) psychiatrische Akten von ehemaligen Wehrmachtssoldaten ausgewertet. Das Buch wurde mit dem deutschen Historikerpreis 2008 ausgezeichnet.
Man sollte vorwegsagen, dass die Kriegsheimkehrer nicht in die Psychiatrie gegangen sind, weil sie dachten, dass ihre Störungen eine Folge des Krieges sind. Sie suchten eine Begründung dafür, warum sie sich selber plötzlich so verändert fühlten. Die Mehrzahl der Fälle wurde von ihren Familien in die Psychiatrie gebracht. In den allerersten Nachkriegsjahren stellte sich die Frage noch gar nicht. Die Kriegsopferrente wurde erst 1950 bundeseinheitlich geregelt. Die Kriegsheimkehrer, die nach 1950 in die Psychiatrie kamen, erzählten tatsächlich überwiegend in einer ganz anderen Form. Sie wussten genau, welche Diagnosen anerkannt wurden.
Was Goltermann aus den Akten herausholte, sind narrative Überlieferungen, Erinnerungsfragmente, die im öffentlichen Diskurs nicht auftauchten. Manche Familien werden andere Wege gefunden haben, mit den psychischen Beschwerden ihrer Angehörigen umzugehen. Und damals haben die Psychiater gesagt, "tut uns leid, wir können diesen Zusammenhang zwischen Krieg und psychischen Auffälligkeiten nicht herstellen". Es ist frappierend, dass trotz der Erfahrung von zwei Weltkriegen die psychiatrische Lehrmeinung über eine grenzenlose seelische Belastbarkeit des Menschen nicht erschüttert wurde.
Diese Betrachtungsweise findet sich in ganz Europa. Auch in den USA. Dort war zwar die Psychoanalyse viel verbreiteter, aber die Psychoanalyse sucht den Grund in der frühen Kindheit. Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist erst in den letzten Jahren des Vietnamkriegs entstanden, als es eine breite Anti-Vietnamkriegs-Bewegung gab. Da wurden alle anderen, also auch die Holocaust-Überlebenden, mit hineingelesen, so dass wir heute den Eindruck haben, die Diagnose sei in Zusammenhang mit den Holocaust-Überlebenden entstanden.
Es ist uns heute völlig fremd, dass der Krieg nicht mit den Leiden der Menschen in Zusammenhang gebracht wurde. Aber wenn wir die Nachkriegsjahre begreifen wollen, müssen wir das zur Kenntnis nehmen. Selbst die Opfer des Nationalsozialismus sahen über Jahre die Verfolgung nicht als Ursache ihrer psychischen Beschwerden an. Das galt sogar in Staaten wie Israel.
Zweifellos sind die Ergebnisse der Traumaforschung sehr wichtig. Die Historikerin Goltermann sieht aber, dass in die Diagnosefindung und Diagnoseetablierung immer politische Interessen und moralische Wertsetzung eingehen. Insofern interessiert mehr, welche Art von moralischen Wertsetzungen eigentlich dazu führen, dass eine neue Diagnose entsteht. Und welche Auswirkungen hat die Etablierung einer neuen Diagnose dann wieder darauf, wie wir historische Ereignisse wahrnehmen?
Wenn wir pauschal von Traumatisierung sprechen, wird vieles wieder zugedeckt. Dann geraten all diejenigen aus dem Blick, die deshalb litten, weil sie etwa dachten, sie hätten im Krieg versagt, oder denen schlicht der soziale Abstieg zu schaffen machte. Es macht jedenfalls einen kolossalen Unterschied, ob wir ohne oder mit Traumadiagnose auf die Nachkriegszeit zurückblicken. Das ruft ganz andere Bilder vom Krieg auf. Im Übrigen wurde mit der Etablierung der Traumakategorie in den 80er-Jahren eine Art Traumaindustrie angekurbelt, die dazu geführt hat, dass immer mehr Gruppen ihren Opferstatus anerkannt haben wollen und deswegen auf die psychischen Folgen dieser Ereignisse ganz besonders Wert legen. Das heißt, die Anerkennung eines Traumas ist auch zum Prüfstein geworden für die Anerkennung eines Opferstatus. Und die Zahl der Opfergruppen hat sich seither vervielfacht. Es führt im Grunde zu einer Art von Nivellierung, die dem historischen Zusammenhang nicht unbedingt gerecht wird.
In einer historischen Analyse ist dennoch der einzige Weg, sich dem Phänomen zu nähern, sich ihre Form der Selbstbeschreibung und ihre -deutung anzuschauen. Goltermanns These ist, dass es Ende der 40er-Jahre völlig andere Selbstbeschreibungen gibt, weil es die Kategorie des Traumas gar nicht gab. Das hat Auswirkungen darauf, wie die Menschen mit sich und anderen umgingen.
Es geht mir hier nicht um die Opfer oder um die gesellschaftlichen Folgen für uns alle, denn es ist eine inzwischen durch viele Untersuchungen unleugbare Tatsache, dass in jedem dieser Opfer eine Zeitbombe stecken könnte, besonders in ihren Überzeugungen und dem daraus folgenden Handeln, z.B. dem deutschen Umgang miteinander, mit Abhängigen, mit Fremden, sowie in ihrer seelischen und körperlichen Befindlichkeit, z.B. den Auswirkungen auf die Kosten unseres Gesundheitssystems. Nein, zuerst geht mich das selber an: Was gewinne ich an Erkenntnis, wenn ich meine Erinnerungen und Erfahrungen als Kriegskind in meine Bewusstheit lasse? Was ändert sich dann in meinem Handeln? Wie ändern sich meine Beziehungen, z.B. zu meinen Kindern? Immerhin, dieses Kapitel "Kriegskinder und ihre Kinder" zu beginnen, wurde veranlasst durch eines meiner Kinder - über 10 Jahre nach den Anfängen von "Selbsterkenntnis und Eigensinn".
Der US-Politologe Daniel Jonah Goldhagen sagte in einem taz-Interview, wo er u.a. nach den Reaktionen auf sein Buch "Hitlers willige Vollstrecker" gefragt wurde: "Es gab eine Menge Krach und Debatten. Inzwischen ist die wesentliche These dieses Buchs weitgehend akzeptiert worden, nämlich, dass bei der Untersuchung der Gründe für den Holocaust der Fokus weg von Abstraktionen wie dem Terrorstaat hin zu den eigentlichen Tätern und ihren Überzeugungen weisen sollte." Das, meine ich, sollte auch für die Opfer gelten, für alle Opfer, auch die deutschen.
Unser deutsches Opfer-Tabu kann vor dem Hintergrund verstanden werden, dass wir Deutschen unter all den zahllosen Massenmorden in der Geschichte erstmals den industriell gemanagten Massenmord erfunden und sogar exportiert haben. Weiter Goldhagen in dem Interview:
"taz: Sie vergleichen verschiedene Völkermorde miteinander, darunter auch den Holocaust. Zweifeln Sie die Einmaligkeit des Holocaust an?
Goldhagen: Alle Völkermorde können miteinander verglichen werden, um Unterschiede und ihre Ähnlichkeiten zu analysieren. Natürlich besitzt der Mord an den europäischen Juden singuläre Aspekte, der ihn fundamental von anderen Völkermorden unterscheidet. Was den Holocaust einzigartig macht, ist, dass er der einzige Versuch eines Staates und eines Volks war, auf einem ganzen Kontinent - und zu Ende gedacht auf der ganzen Welt - jede einzelne Frau, jeden einzeln Mann und jedes einzelne Kind einer Bevölkerungsgruppe zu vernichten. Und der zweite Punkt, der den Holocaust einmalig macht, ist, dass dieser nicht nur von einem Staat und einem Volk durchgeführt wurde, sondern von vielen Staaten und Völkern in einer internationalen Völkermord-Koalition. In Deutschland gibt es das Problem, dass einige den Holocaust mit anderen Dingen aus ganz bestimmten politischen Absichten vergleichen, etwa, um zu behaupten, der Holocaust sei weniger schlimm als behauptet."
Neonazis affirmieren eine Herrschaft, die systematisch einen Massenmord an Menschen durchgeführt hat, allein auf Grund der Herkunft der Opfer. Naziherrscher auf Demonstrationen zu ehren (unter welchen fadenscheinigen Begründungen auch immer), bedeutet also nichts anderes als die Drohung, mit den Verbrechen weiterzumachen, sobald die Neonazis die Macht dazu haben. Der Spruch der Antifa "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen" hat durchaus seine Berechtigung.
Dieses Ein-Kriegskind-Sein habe ich immer weit von mir gewiesen. Ich will mich nie als Opfer sehen - und ich war es nie. Mich interessiert hier auch nicht das Thema Schuld (dazu 4.13 Schuld).
Als mir Frau Ingrid Luise Dobrick ihr Buch "Mädchenjahre" (Selbstverlag) schenkte, hat mich das alles sehr berührt. Sie ist Ende 1935 geboren und beschreibt die Verhältnisse so bildhaft - mir geht das tief unter die Haut. Auch wenn unsere Familien, die sozialen Bedingungen oder die Wohnsituationen ganz unterschiedlich sind, sie hat die Stimmungen getroffen, die Athmosphäre dieser Zeit und der Menschen darin, genau so, wie ich das auch erlebt hatte.
Ich bin auch Ende 1935 geboren. "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" stand auch in unserem Bücherschrank. Wenn ich mir meinen Vater vor Augen stellen will, kommen mir Erinnerungen an Fotos, nicht die reale Person. Er war wohl fast immer DA, aber war nicht als Mensch vorhanden. Vielleicht so ähnlich, wie Frau Dobrick ihr "Vaterbild" beschreibt, nämlich als nicht greifbar, als "schwarzes Loch".
Meine Mutter, tja, ein bezeichnendes Erlebnis war 1985 eine der mündlichen Prüfungen zum Vordiplom in Psychologie. Da saß der Prof und stellte seine Fragen. Beim Antworten sehe ich Menschen in die Augen - da blickte ich in die kalten, hellgrauen Fischaugen meiner Mutter; Schluss mit Prüfung, eine glatte Fünf. Allerdings bin ich im nächsten Semester zum selben Prüfer, den das erstaunte und der sich gut erinnerte. Da habe ich mit derselben Vorbereitung (am Abend vorher das Standard-Lehrbuch in den Kopf schmeißen) dann mit befriedigend bestanden.
Noch heute kann ich zwar toll eintreten für meine Aufgaben in Bezug auf andere (z.B. früher als bautechnischer Verwaltungsbeamter oder als Vorstandsmitglied in meinen Vereinen oder für meine Klienten). Aber in meinen eigenen Angelegenheiten fühle ich mich erstmal stumm.
Aus meiner Kindheit erinnere ich auf die erzieherischen Ambitionen meiner Eltern meine Reaktion als Staunen, Ablehnung, Wut. Als Jugendlicher entwickelte ich mich am Stoizismus der römischen Antike - da ist kein Platz für Hilflosigkeitsgefühle, für Opfersein oder Schuldige. In der Zeit wurde für mich Albert Camus, besonders sein Buch "Der Mythos des Sisyphos" wichtig. Er fasst die Welt auf als nicht von sich aus sinnhaft, weil durch den Menschen erst Sinn erhaltend. So kulminiert das philosophische Fragen für Camus in der für ihn einzig wichtigen Frage, der nach dem Selbstmord. Der Selbstmord ist hier als Lösung, Loslösung von einer sinnlosen Welt gedacht: Warum leben, wenn doch alles sinnlos ist? Allerdings wird der Selbstmord von Camus abgelehnt; sich umbringen hieße, dem Absurden erliegen.
So habe ich mich auch für mich entschieden. Und diese Freiheit der Wahl hat mir geholfen! Geholfen hat mir auch, dass ich in der ganzen Gymnasialzeit stets in Chören und Kantoreien gesungen habe - die Lunge füllen und leeren, sich von diesem Tönen bewegen lassen, die Seele darin schwingen lassen. Ich hatte eine immerhin interessante Kindheit, nur gelegentlich Hunger, keine Flucht, keine Vertreibung, keine vergewaltigte Mutter, kein über Jahre abwesender Vater, schlicht: gutbürgerliche Verhältnisse.
Dann sagte mir einer meiner Söhne vor einiger Zeit, und er geriet dabei schier außer sich und hat das wohl fünfmal atemlos wiederholt "Du bist autoritär, besserwisserisch und selbstsüchtig". Und im übrigen, meine Begeisterung für immer neue Methoden zum Aufräumen in der Seele sei nur Fassade, denn wenn ich meinem Problem näher käme, suchte ich mir eine neue Methode. Nun, was sollte ich dazu sagen. Gefragt, was er denn für ein Problem sähe, denn mir sei keines bewusst, hatte er auch keine Antwort. So hab ich ihm für sein Vertrauen gedankt, mir so offen ins Gesicht springen zu können, denn mir fiel ein, dass ich, meinem Vater direkt gegenüber, sowas nicht mal gedacht hätte, kaum allein im stillen Kämmerlein, obwohl er mir lange und heftig als autoritär, besserwisserisch und selbstsüchtig vorkam.
Meinem Sohn gebe ich bezüglich 'autoritär' unumwunden recht - ich hatte in 40 Berufsjahren selten autoritäre Vorgesetzte, weil ich immer der Autoritärere war. Zu 'besserwisserisch' kann ich sagen, ja, meist weiß ich es besser, weil ich ein 120%er bin im Sammeln und Auswerten von Daten und Informationen bevor ich den Mund aufmache. 'Selbstsüchtig' - da spricht die verletzte Seele des Scheidungswaisen und das will ich nicht relativieren. Interessant ist seine Sicht auf meine Begeisterung für immer neue Methoden zum Aufräumen in der Seele. Ken Wilber, Autor im Bereich der Integralen Theorie und Systematiker von Psychologie, Philosophie, Mystik und Spirituelle Evolution, untersuchte Wege zum Selbst. Er zeigt, wie wir uns ständig uns selber, anderen und der Welt entfremden, indem wir unser gegenwärtiges Erleben in verschiedene Teile zerlegen, die durch Grenzen getrennt sind - eine Trennungsregelung, die zur Folge hat, dass ein Erleben das andere einschneidend stört und das Leben sich selbst bekämpft. Aber all diese Kämpfe werden durch die Grenzen verursacht, die wir in unserem Irrtum um unser Erleben ziehen. Wilber kann zeigen, dass jede Grenze, die wir in unserem Erleben errichten, zu einer Einschränkung unseres Bewusstseins führt. In unserem Erleben gibt es viele solcher Beschränkungen und Grenzen, die zusammen ein Spektrum des Bewusstseins bilden. Wir können in seinem Buch sehen, wie sich verschiedene Therapieformen verschiedenen Ebenen dieses Spektrums genähert haben. Jede Art der Therapie versucht, eine bestimmte Grenze oder einen bestimmten Knoten im Bewusstsein aufzulösen. Und ich bin wohl von Jugend an auf solche Knoten neugierig zugegangen, statt sie auszugrenzen.
Kurz nach jenem Gespräch fiel mir zufällig von Anne-Ev Ustorf "Wir Kinder der Kriegskinder" [4] in die Hände. Ich habe das Buch in einem Tag mit heißen Ohren gelesen, hatte auf jeder Seite einige Aha-Erlebnisse: Die schreibt über mich, meine Familie und unsere Muster! Mir kam eine Ahnung, was meinem Sohn da vielleicht, wohl noch nicht klar formulierbar, durch den Sinn gehen könnte.
Eine liebe und sehr kluge Freundin, auch Kind von Kriegskindern, der ich von meiner Lektüre und der Begegnung mit meinem Sohn erzählte, bemerkte danach, in den 25 Jahren unseres Umgangs habe sie mich stets als analytischen, informations-versessenen Kopf und als starken Willensmenschen erlebt. Nun erlebe sie mich das erste Mal als empfindsam und von vornherein offen, ein Zustand, den sie sonst erst nach langem Gespräch mit mir aufdecken könne.
Durch sie wurde ich hingewiesen auf weitere Bücher, wie von Helga Spranger "Der Krieg nach dem Krieg" [5] und von Hartmut Radebold u.a. "Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten" [6], die mir ebensolche Aha-Erlebnisse bereiteten.
Was sich die meisten von uns Heutigen nach 60 Jahren "Frieden" und "Demokratie" kaum mehr vorstellen können, Hartmut Radebold fasst das zusammen:
"Inzwischen lassen sich für die Jahrgänge 1927-1947 die spezifischen zeitgeschichtlichen Erfahrungen des 2. Weltkrieges und der direkten Nachkriegszeit, der nachfolgende innerpsychische Bearbeitungs- und Abwehrprozess Betroffener sowie die bis heute anhaltenden individuellen Folgen genauer beschreiben. Erst allmählich wird bewusst, dass bereits der 1. Weltkrieg zu entsprechenden Folgen geführt hatte. Weiterhin werden wir zur Zeit mit den transgenerationalen Auswirkungen konfrontiert.
Alle damaligen Kinder und Jugendlichen wurden - je älter desto länger - zuerst in der Schule und ab dem zehnten Lebensjahr zusätzlich in der Hitler-Jugend nach der herrschenden nationalsozialistischen Erziehungsdoktrin erzogen. Bekanntlich gliederte sich die Hitler-Jugend als Jugendorganisation der NSDAP in das "Deutsche Jungvolk" (Jungen von 10 bis 14 Jahren), die "Deutschen Jungmädel" (Mädchen von 10 bis 14 Jahren), die eigentliche Hitler-Jugend (Jungen von 14 bis 18 Jahren) und dem "Bund Deutscher Mädel" (Mädchen von 14 bis 18 Jahren).
Der 2. Weltkrieg (und hierbei insbesondere die 2. Hälfte und die Schlussphase) und die direkte Nachkriegszeit brachten mögliche zeitgeschichtliche Erfahrungen mit sich:
Zahlen und Fakten sind nüchtern, sie informieren jedoch über das heute kaum noch erinnerte Ausmaß dieser möglichen zeitgeschichtlichen Erfahrungen:
Wichtig erscheint der Hinweis, dass bei Weitem nicht alle Angehörigen der Jahrgänge 1927-1947 von diesen zeitgeschichtlichen Erfahrungen betroffen waren. Dies erklärt auch die so auffallend unterschiedlichen 'Geschichten' über die damalige Zeit, die von "abenteuerlicher Freiheit" bis hin zu "katastrophalen Erfahrungen" reichen. So müssen als damals Betroffene unterschieden werden:
Lange Zeit wurde diskutiert, ob Berichte derartiger Erfahrungen überhaupt glaubhaft seien und insbesondere, ob sie nicht während der weiteren Entwicklung (d. h. im Verlauf von Jahrzehnten) zumindest ausgeschmückt, wenn nicht erweitert würden. Eine Meta-Analyse (Hardt/ Rutter 2004) bestätigt nachdrücklich den Verlass auf die jeweils berichteten Fakten und weist auf den eher bestehenden Befund des Nichtberichtens derartiger Erfahrungen aufgrund von entsprechenden Abwehrmechanismen hin (Verdrängung, Verleugnung, Bagatellisierung)." Soweit Hartmut Radebold.
Zwischen den Menschen mit diesen Erfahrungen bin ich aufgewachsen, auch wenn ich mich zu den geschätzt 35-40% mit stabilen familialen, sozialen, materiellen und wohnlichen Verhältnissen zähle. Welche dieser von Radebold aufgelisteten 'mögliche zeitgeschichtliche Erfahrungen' habe ich gemacht?
Als ich 1947 in die Sexta eines Gymnasiums kam, hatten wir zeitweise um 70 Schüler in der Klasse, davon ein nicht unbeträchtlicher Teil Flüchtlingskinder. Ich werde nicht vergessen, wie unser Klassenlehrer, von uns genannt Etzel, einen meiner Freunde, ein 13-jähriger Flüchtling im geschenkten Anzug eines vermutlich 18-jährigen und vorn aufklappenden Schuhen, die mit neuem Bindfaden zugeschnürt waren, deswegen anfuhr "Wir haben zwar den Krieg verloren und müssen mit Bindfaden in den Schuhen rumlaufen, aber wir können ordentlich sein. Färb das Schuhband ein mit Schuhcrem oder nimm Dreck von der Straße!". In den oberen Klassen waren zahlreiche, für mich "alte" Männer, in umgefärbten Uniformen, teils Arm- oder Beinamputierte, die ihr Abitur nachholen wollten. Ob das wirklich alles für mich nur "interessant" war, wie ich das zu beschreiben pflege? Ob die Stimmung dieser Menschen, ihre Seelenlage wohl doch resonanzhaft mich erreicht hatte?
Welche Erinnerungen habe ich an "zuhause", an meine Eltern?
Ich erinnere mich an mein Gitterbett und an den Laufstall. Meine Mutter erzählte immer wieder stolz, dass ich schon mit 1 Jahr keine Windel mehr brauchte. Gespielt habe ich in der Wohnung, im Hof des Mietshauses und in dem großen Garten dahinter. Als ich mal in einen Kindergarten sollte, habe ich erschreckt von dem Getümmel, dem Lärm und der Konkurrenz in der Ecke gesessen und bin nach wenigen Tagen schreiend davongelaufen und musste danach nie wieder dahin. Es gab eine Weihnachtsfeier mit vielen Kindern; als der Nikolaus kam, bin ich auch schreiend davongelaufen. Andere Kinder gab es für mich erst in der Schulzeit. Kontakt war in meiner Familie etwas Unübliches; ich erinnere mich nicht an Besuche von oder bei Verwandten. - Die Welt da draußen, nein; ich musste, kaum dass ich sprechen konnte, meinen Namen, Adresse und die Telefonnummer lernen "ich bin Jans Bonte, Hentigstraße 14a,Telefon 500196".
Andererseits hat es mich nach draußen gezogen. An einem lauen Sommerabend hab ich, etwa 4-jährig, mal Stunden einen Sammler von Pferdemist begleitet; der süße Duft von Lindenblüten und die Schärfe der Pferdeäpfel ist mir noch in der Nase. Oder ich, etwa 7-jährig, bin durch die Wuhlheide gezogen und auf einen Hochspannungsmast geklettert; die lächerliche Kleinheit eines Mannes, der plötzlich unten am Fuße erschien und mich runterbrüllen wollte, zieht mir wieder durch den Sinn. Später, als ich lesen konnte, habe ich alles gelesen, was mir in die Finger kam.
Ich erinnere mich daran, wenn ich nachts als kleines Kind in meinem Gitterbett lag, während meine Eltern ihre gesellschaftlichen Abendverpflichtungen wahrnahmen, wie ich mich ängstigte vor dem bösen Wolf hinter den wehenden, schweren Vorhängen und oft nächtelang geschrien habe, und, wie meine Mutter erzählte, dass Fräulein Künstler, die Vermieterin in der Wohnung unter uns, ihr das gesagt habe. Sie aber fand, das macht eine starke Lunge und ein Fenster muss beim Schlafen immer offen sein. Einschlafen konnte ich nur, wenn ich, auf dem Bauch liegend, die Stirn auf die zusammengelegten Hände schlug, bzw. auf dem Rücken liegend, den Kopf hin und her warf. Das ging bis Anfang der Pubertät, dann gab es Aktivitäten am anderen Ende der Wirbelsäule, excessives Masturbieren. Ansonsten habe ich kaum Erinnerungen aus meinen ersten 10 Lebensjahren.
Ich erinnere mich an die blanken SA-Stiefel zuhause im Kleiderschrank. Es könnten auch SS-Stiefel gewesen sein. Denn mein Vater erzählte öfters stolz von unserer Ahnen-Tafel, die für die Bontes bis 1748 zurückreichte, als der Stammvater, ein Hugenotte, von Nantes nach Magdeburg floh. Die Mitglieder der Allgemeinen-SS waren meist Berufstätige, die ihren Dienst in der SS freiwillig und unentgeltlich nach Feierabend versahen. Auch diese unbewaffneten Mitglieder erhielten durch ihre ca. 100.000 hauptberuflichen Führer regelmäßig eine militärische Ausbildung. Man musste nur für sich und seine Frau arische Ahnen bis 1800 nachweisen. Wollte man SS-Führer werden, musste der Nachweis bis 1750 vorliegen. Außerdem musste er sich der SS–Rassenkommission vorstellen. Dort wurde das "rassische Erscheinungsbild" des Bewerbers in Augenschein genommen, dessen körperliche Kondition und allgemeine Haltung. Diese Ahnen-Tafel liegt heute nur als Konzept vor Reinschrift vor – Mai 45 verbrannte im Küchenofen über Stunden all das möglicherweise Kompromittierende.
Ich erinnere mich an, ja, das Entsetzen meiner Eltern, als sie bemerkten, dass ich zugehört hatte, beide flüsternd hinter der Samt-Portiere am Fenster im Gespräch, wo mein Vater davon erzählte, dass er von seinem Bürofenster im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in Weimar den ununterbrochen aufsteigenden schwarzen Rauch aus den Schloten des Konzentrationslagers Buchenwald sähe. Ich erinnere mich an die hektische Betriebsamkeit meiner Eltern im Garten des Bauernhofs, wohin wir evakuiert waren, als sie im Sommer 1945 die Fotoalben nach kompromittierenden Fotos durchsuchten und die verbrannten.
Ich weiß nicht, wie oder warum mein Vater 1934, als 25-Jähriger, zum jüngsten Referatsleiter einer Abteilung des Reichswirtschaftsministeriums in Berlin werden konnte, wie er als gesunder 33-Jähriger erst Sommer 1943 eingezogen werden und schon nach 3 Monaten Grundausbildung ins OKW versetzt werden konnte. Angefangen hatte seine Berufslaufbahn als "Handlungsgehilfe", Textilverkäufer bei Leffers. Und seine Obsession, lebenslang, war die Berufsfortbildung im Einzelhandel, schon als junger Mann im Deutschen Handlungsgehilfenverband. Er war ein besonderer Mensch mit großen Gaben und eisernem Fleiß wie alle seine Geschwister, die alle zu Großen in ihrem Gebiet wurden. Und bald nach dem Krieg war er in seiner Stadt auch wieder ein Großer. Er war sehr stolz darauf, als einziger Verbands-Syndikus unter 80 vergleichbaren Kollegen in Deutschland kein Volljurist zu sein. Und er war sehr stolz darauf, dass ihn, als 20-Jährigen, seine Parteifreunde fragten, ob er für den Reichstag kandidieren wolle und er ihnen dann gesagt habe "Meine Herren, ich habe noch nicht das passive Wahlalter".
Mein Vater lebte für seinen Beruf, Tag und Nacht. Sonntags, nach dem gemeinsamen Frühsück, breitete er seine Fachzeitschriften im Arbeitszimmer aus, um für seine Verbandszeitschrift zu exzerpieren. Nachmittags wurde gewandert, ein Nachhall aus seiner Wandervogelzeit. Ich hasse noch heute selbst Spaziergänge! [7]
Wenn ihm meine Mutter berichtete, schon vor Beginn meiner Schulzeit, dass ich etwas ausgefressen hatte, vollzog er die Strafe mit dem Rohrstock, der auf dem Kleiderschrank seinen festen Platz hatte. Zur Bestrafung gehörte, dass niemand mit mir sprach, oft tagelang. Dieses Schweigen pflegten meine Eltern lebenslang. In der Berliner Zeit gab es auf das Schweigen noch ein Sahnehäubchen: "du kommst in die NAPOLA" [8]. Dann hatten sie mich weich, denn das fand ich entsetzlich.
Vor Beginn meiner Schulzeit musste ich auswendig lernen, das dieser Mann AdolF Hitler heißt. Sie redeten meist von Fittler, wobei man wissen muss, dass in unserer Familiensprache "fitt" oder "ifitt" dieselbe Bedeutung hatte wie "igittegit" also etwas Schmutziges umschrieb.
Vermutlich habe ich als Heranwachsender meinen Vater später zur Verzweiflung getrieben. Denn ich sollte der Volljurist werden und ich brachte zu jeder Zeugniszeit blaue Briefe [9] ins Haus. Schon gegen Ende der 1. Klasse musste meine Mutter zur Schule kommen. Fräulein Konrad ließ mitteilen "Jans bockt" - ich konnte nun lesen und mehr interessierte mich an diesem Teilzeitgefängnis nicht. Es gefiel mir gar nicht und ich verstand auch nicht, warum ein Klassenkamerad einen gelben Stern an der Jacke trug und die Horde ihn über die Straße trieb, "Kues, Kues, Appelmus" schrie.
Mein Vater starb 70-jährig, geehrt mit einem Bundesverdienstkreuz, noch immer mit Schreibtisch in seinem alten Büro, am 2. Herzinfarkt und einer Lungenentzündung im Krankenhaus, drei Tage, nachdem ich ihn das erste Mal seit Kindertagen von Herzen berührt hatte, mit einer Reiki-Behandlung [10] seines bei einem Sturz geprellten Ellenbogens. An dem Tag hatte ich ihm auch das oben erwähnte FMK-Heft überreicht mit meiner "Liebeserklärung". Einen Tag nach dem Tod wurde ich telefonisch von Erkrankung und Tod unterrichtet.
Auch sein Vater, Jans-Oehlrich, nach dem ich Jans-Ekkehard heiße, muss ein Besonderer gewesen sein. Sein weißer Schnäuzer und der Borsten-Haarschnitt ist mir vor Augen und der Geruch nach Kautabak in der Nase. Er ging als Bäckergeselle aus einer kleinen Stadt in Ostfriesland, inzwischen verheiratet mit einem ehemaligen "Kammerkätzchen" des Großherzogs von Oldenburg und Cumberland am Hofe in Rastede, in eine größere Stadt und wurde Postschaffner, zuletzt Postassistent. Mit diesem bescheidenen Einkommen bauten sie ein Mehrfamilienhaus und zogen 4 Kinder groß, 3 Jungen, 1 Mädchen. In den letzten Kriegstagen starb er beim Retten von Sachen aus dem brennenden Haus gegenüber.
1946 zogen wir zu dieser Großmutter. Ich schlief 4 Jahre neben ihr im Bett meines Großvaters. Meine Großmutter wählte meinen Konfirmationsspruch aus dem 86. Psalm Gebet in großer Bedrängnis, Vers 11: "Weise mir, HErr, deinen Weg dass ich wandle in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem Einen, dass ich deinen Namen fürchte."
Die Mutter meiner Mutter hatte auch 4 Kinder, Mädchen, und auch meine Mutter war die Jüngste. Ihr Vater starb, als sie 3 Jahre alt war. Die Mutter ernährte die Familie mit einem Hefehandel, heißt, sie ging früh morgens los mit einem Handwagen zu den Bäckereien. Bis zu ihrer Rückkehr mittags wurde das Kind im Schlafzimmer bei zugezogenen Vorhängen eingeschlossen. Ihre letzten 5 Lebensjahre lag diese Frau im Bett, wie schon deren Mutter, nur die machte das 25 Jahre lang - was für eine Energieleistung. Meine Mutter hat dann wohl entschieden, immer nur zu stehen, vor dem Bett - sie wurde Krankenschwester, "Staatlich Examinierte", wie sie betonte.
Ihre Familie war streng katholisch und noch als Greisinnen sagten ihre beiden Schwestern, die Älteste starb bei einem Bombenangriff, dass sie für das Seelenheil der jüngsten Schwester beten. Mein jüngerer Cousin, er etwa 9 und ich 11, sagte bei einem Besuch "ich darf nicht mit dir spielen - du bist evangelisch". Bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962 - 1965) galt gemäß katholischem Katechismus als Todsünde, eine protestantische Kirche zu besuchen, eine protestantische Bibel zu besitzen oder zu lesen.
Meine Mutter wurde von allen Nachbarn, Bekannten und Freunden gerühmt wegen ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegen jedermann. Wenn die Tür hinter dem Besuch zu war, ging das Donnerwetter weiter an der Stelle, wo es beim Türklingeln unterbrochen wurde. Bei so einem Donnerwetter bemerkte, damals etwa 10-jährig, meine Schwester "Oh Gott, die Fenster sind offen. Lass uns schnell laut lachen, damit die Leute glauben, dass wir eine glückliche Familie sind". Auch meine Mutter muss ob meiner Renitenz gegen die Schule verzweifelt gewesen sein. Sie nahm statt Rohrstock als Erziehungsbeihilfen Kochlöffel, Kleiderbügel und Kohlenschaufel, bis ich endlich, mit 21, in eine Tischlerlehre ging und nur noch zum Schlafen im Haus war.
Meine Mutter war recht körperfern – bis zuletzt. Wenn ich sie zur Begrüßung umarmte, streckte sie die Ellenbogen gerade vor sich, um den Körperkontakt zu minimieren. Sie machte sich um alles Sorgen, um alles bei jeder/m. Und wenn der/m nicht voller Erfolg beschieden war, sagte sie "Siehste, ich hab es doch gewusst!". Wenn ich bei meinen seltenen Besuchen begeistert von den aktuell neuen Aufgaben im Beruf erzählte, unterbrach sie das schnell und fragte, bis ins hohe Alter, stereotyp "aber Junge, kannst du das denn?". Denn sie konnte sich nicht bei anderen vergewissern - nur die anderen hatten Recht. Wohl zehn Jahre hörte ich den Spruch, den sie sich von meinem Englischlehrer in der 6. Klasse reinzog "aus dem wird nicht mal ein ordentlicher Straßenfeger". Anderen Lehrern, die sagten "das ist der intelligenteste Junge, den wir auf dieser Schule haben", mochte sie nicht glauben.
Als ich in Münster in der RC-Gemeinschaft war und fast täglich Councel-Sitzungen machte, erzählte ich öfter von dieser befreienden Arbeit und von ihren heilsamen Wirkungen. Da wurde sie jedesmal richtig wütend, stoppte das Erzählen und schrie "man soll die alten Sachen ruhen lassen und nicht darin rumrühren. Das bringt doch nichts!".
Als ich ihr meine neue Lebensgefährtin vorstellen wollte, entschied sie, davon nichts wissen zu wollen. Da empfahl ich ihr, wenn sie von mir etwas wissen wolle, könne sie ja anrufen - der Draht von ihrer Stadt zu meiner ist genauso lang wie umgekehrt. Daraufhin hatten wir 8 Jahre totale Funkstille, bis zu ihrer Krankheit. Später erzählte mir meine Schwester, meine Mutter habe keinen Kontakt gesucht, weil sie Angst vor mir gehabt habe, diese Frau, von der ich mir nie vorstellen konnte, das sie vor irgendetwas oder irgendwem Angst haben könnte. War es das, was Jürgen Müller-Hohagen (s.u.) ’Täterhaftigkeit’ nennt?
Hochbetagt erkrankte sie an Magenkrebs, der nach einer Operation bald in die Leber metastasierte. Doch sie blieb allein in ihrem Haus, nur 2 mal wöchentlich unterstützt von einer Zugehfrau - und von meiner Schwester, die dauernd von ihrem 200 km entfernten Wohnort kam. Nachdem meine Schwester sie zu sich genommen hatte, starb sie 3 Tage später. Noch am selben Tag fuhr ich hin zur Totenwache, weil meine Schwester und Mann mit ihrem Chor an diesem Abend in einer Aufführung von Mozarts Requiem mitsingen wollten. Ich habe ihr dann viel erzählt von unseren guten Zeiten, erzählte, was ich alles durch sie für mein Leben gelernt hatte und habe ihr mehrmals ihren Lieblingspsalm vorgelesen, den 23.:
"Der Herr ist mein Hirte
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße
um seines Namens Willen.
Und ob ich schon wanderte
im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn DU bist bei mir,
DEIN Stecken und Stab trösten mich.
DU bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
DU salbest mein Haupt mit Öl
und schenkst mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. "
Und ich habe das Fenster geöffnet, damit die Seele fliegen kann. Dabei zerfiel der Leichnam zusehendst. Die Leute des Beerdigungsinstituts waren ungehalten, dass ihnen nicht mitgeteilt worden sei, dass der Leichnam schon 4 Tage liege. Nur der Totenschein konnte sie überzeugen, dass der Tod erst vor 20 Stunden eingetreten war.
Ich habe wohl eine besondere Beziehung zum Tod. Meine älteste Tochter starb in der Stunde, als ich auf einem RC-Workshop (Vgl. 3.3 Bewusstmachen) in einer langen Sitzung mich vom elterlichen, adultistischen [11] Besitzanspruch auf meine Kinder verabschiedete und ihnen meine absolute Unterstützung für ihre Freiheit und Selbstverantwortung versprochen habe. Am anderen Morgen riefen Freunde an aus der Gegend, wo sie bei ihrer Mutter und deren Mann gelebt hatte. Als ich dort anrief, war der Mann am Telefon und seine ersten Worte waren nur "Woher wissen Sie das?". Da erlebte ich etwas, das mir 1 Jahr später ähnlich beim Tod meines Vaters geschah.
Was hat das alles mit den Untersuchungsergebnissen über Kriegskinder zu tun?
In zwei Artikeln über Helga Spranger und den Verein kriegskind.de fand ich: "... Die Zeit heilt alle Wunden, heißt ein deutsches Sprichwort. Wie viel Zeit braucht es denn, um Wunden der Seele zu heilen? 60 Jahre sind manchmal nicht genug. Das Leben vieler Kinder des 2. Weltkrieges ist noch heute geprägt von ihren Kriegserlebnissen - oft ohne, dass sie davon wissen. Die Folgen von Extrembelastungen - seien es Krieg, Gewalt im Zivilleben oder Naturkatastrophen - sind seit Menschengedenken bekannt. Eindrucksvolle Schilderungen kennt man schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Begriff der "Schreckneurose", wie man es damals nannte, ist über 100 Jahre alt. 1889 führte Oppenheim den Begriff "Trauma" in die Neuropsychiatrie ein. Im Ersten Weltkrieg sprach man von den Kriegszitterern. Während der Nazizeit galten die Kriegszitterer als Feiglinge. Sie wurden in besondere Einheiten, so genannte „Magenbataillone“, zusammengefasst und vielfach auf Himmelfahrtskommandos geschickt. Man hielt sie ebenso für unwertes Leben wie die jüdische Bevölkerung.
Doch warum kommt man erst jetzt auf dieses Thema zurück, Betroffene hat es schließlich seit jeher gegeben? Das geht vor allem auf die US-amerikanische Forschung bzw. die entsprechenden Kriege in Korea und insbesondere Vietnam zurück. Später erinnerte man sich auch zunehmend an zivile Opfer durch Extrembelastungen, denen die diagnostischen und therapeutischen Erkenntnisse der Militär-Psychiater und -Psychologen natürlich ebenfalls zugute kommen.
Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS), Posttraumatische Stresssyndrom (PTS) sind in Deutschland erst seit den 80er Jahren anerkannte Krankheiten. Unter diesen Begriffen wird eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine außergewöhnliche Bedrohung gesehen, die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Oft treten die Reaktionen erst Monate bis Jahre nach dem Ereignis auf. Ereignisse, die eine posttraumatische Belastungsstörung hervorrufen können, sind z. B. Krieg, schwere Unfälle, Opfer eines Verbrechens, sexueller Missbrauch, Folter, Naturkatastrophen, Chemieunfälle, Brände, Krankenhausaufenthalte insbesondere in frühem Kindesalter etc. [12] Man schätzt heute aufgrund neuer Untersuchungen, dass etwa 40 bis 60 Prozent aller Menschen irgendwann in ihrem Leben einmal das Opfer eines traumatischen Erlebnisses werden.
Kriegstrauma ist kein Einzelfall. "Es ist eine Epidemie", sagt Dr. Helga Spranger, Ärztin und Psychotherapeutin, eine Traumatisierungsepidemie: "Zur Zeit des 2. Weltkrieges lebten 62 Millionen Menschen in Deutschland, davon sind mindestens ein Drittel, eher zwei Drittel traumatisiert." Was die Kinder im Krieg gesehen haben, die Greueltaten, was sie gespürt haben, die Todesangst womöglich, aber auch, was sie gehört, gerochen und geschmeckt haben, versinkt tief in ihrer Seele. [13] Heulen der Sirenen, Schreie von verwundeten Menschen, der Geruch verbrannter Körper, der Geschmack verdorbener Speisen. "Ein Überleben ist nur möglich, wenn alles fest im Unbewussten abgeschlossen ist", erklärt Helga Spranger. "Doch die Erlebnisse hinterlassen Spuren und können komplexe seelische oder psychosomatische Krankheitsbilder auslösen."
Heute sind die ehemaligen Kriegskinder im Rentenalter. Sie hielten die Erinnerungen an den Krieg bisher fest in sich verschlossen. Fleißig und pflichtbewusst haben sie ihr Leben im Nachkriegsdeutschland gemeistert. "Man staunt, was diese kranken Menschen bis heute geleistet haben", stellt Helga Spranger fest und erklärt: "Der Ehrgeiz hatte Heilwirkung, durch ihn wurden die Traumen scheinbar überwunden." Oft erst nach vielen Jahrzehnten kommen sie wieder hoch. Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit, Schreckhaftigkeit, Unruhezustände, Partnerschaftskonflikte, Depressionen - alles mögliche Symptome einer Kriegstraumatisierung. "Manche Krankheitsbilder treten erst auf, wenn die Menschen älter werden, ihre eigene Gebrechlichkeit spüren", hat Helga Spranger beobachtet. Mitunter reicht ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, um die Geister des Krieges zu wecken. "Der Krieg im Kosovo und die Terroranschläge vom 11. September haben Erinnerungen wachgerufen", sagt Helga Spranger. So genannte Retraumatisierungen könnten auch durch persönliche Erlebnisse ausgelöst werden. Etwa der Verlust des Arbeitsplatzes, vorzeitge Berentung und Krankheiten bringen Geschehnisse wieder ins Bewusstsein.
Nicht nur durch persönliche Erlebnisse, auch durch ihre Arbeit als Psychotherapeutin wurde ihr zunehmend die Bedeutung der Schädigungen in der Kindheit für das späte Erwachsenenalter bewusst. Immer wieder hatte Helga Spranger mit Verhaltensweisen von Patienten zu tun, die nicht zu den bekannten Diagnosen passten. Unter anderem ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass Ende der 90er Jahre durch eine Tagung das öffentliche Schweigen über die Folgen der Kriegsbeschädigungen gebrochen wurde. Anschließend bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Ärzten und Therapeuten und daraus der Verein "Kriegskind.de", dessen Mitbegründerin und Vorsitzende Helga Spranger [14] ist.
Der Verein widmet sich der Diagnose, Behandlung und Erforschung der Spätfolgen von Kriegstraumata bei Kindern des 2. Weltkrieges und späterer kriegerischer Auseinandersetzungen. Er ist Anlaufstelle für Betroffene und will fachspezifische Kenntnisse vermitteln. Denn Ärzte und Psychotherapeuten sind nach Ansicht von Spranger mit der Diagnose der Spätfolgen von Kriegstraumata überfordert. Aber es geht dem Verein auch um die sozialen Folgen. Nicht nur die erste Generation Kriegskinder, geboren in den Jahren 1930 bis 1947, seien betroffen, sondern auch zweite und dritte Generationen. Spranger: "Das kann man sich vorstellen wie bei einem Strickmuster: Wenn man einmal eine Masche fallen lässt, verändert sich das Muster, und es verändert sich zunehmend, je länger man strickt."
Typisch für die Kriegskinder sei eine besondere, eine intensive Beziehung zur Mutter. Die Väter waren abwesend, z.B. im Krieg, später in Kriegsgefangenschaften, die Frauen und Kinder auf sich gestellt, traumatisiert und unterernährt. "In diesen schwierigen Zeiten waren Mutter und Kind sehr aufeinander angewiesen, die Heranwachsenden übernahmen früh Verantwortung, es war kein Raum für Kindheit. Sie wurden von ihren Müttern benutzt, beansprucht, und es ist, als ob sie schließlich zum Schatten ihrer Mutter geworden sind." Später hätten diese Kinder Probleme in Partnerschaften oder gingen keine ein. In jedem Fall sei diese feste Bindung laut Spranger für beide Beteiligten sehr schwierig.
Jürgen Müller-Hohagen [15] untersucht die Voraussetzungen und Mechanismen für die Übermittlung von Täterhaftigkeit an die nachfolgenden Generationen. Seit mehr als zwanzig Jahren befasst er sich mit seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit in ihrer ganzen Breite in einer Beratungsstelle in München sowie in eigener Praxis in Dachau.
Die nationalsozialistische Ideologie war entscheidend auf Gewalt aufgebaut, und zwar nicht nur auf Gewalt im herkömmlichen Sinn, sondern in beispielloser Weise auf der Überwältigung derer, die für minderwertig erklärt und aus der Volksgemeinschaft und schließlich aus der Menschheit ausgeschlossen wurden. Es handelte sich dabei, und das ist entscheidend, nicht um eine vom Regime bloß ideologisch propagierte, sondern um eine mit allen Mitteln und in gigantischem Umfang von den Volksgenossen praktizierte Gewalt [16]. Auf sie hin war alles gesellschaftliche Handeln zentriert.
Ideologische Überzeugungen von Beteiligten, ihr begeistertes oder auch distanziertes Selbstverständnis sind demgegenüber als sekundär zu betrachten. Entscheidend ist: Wie war der konkrete Bezug dieser Person zur Nazi-Gewalt, wie war er damals, wie war er später, was davon wurde fortgeführt? Diese Fragen sind bis heute in Deutschland massiv tabuisiert - auch in der Psychotherapie, auch in Medien und Wissenschaften. Jedenfalls, wenn es um Konkretes geht. Deshalb ist es wichtig, Gewalt, Täterschaft, Täterhaftigkeit in den Mittelpunkt zu stellen und nicht auf ideologische Überzeugungen auszuweichen.
Was heißt hier "Täterhaftigkeit"? Im Zusammenhang mit dem Thema der seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit die Worte Täter oder Schuld in den Mund zu nehmen, führt gerade in gebildeteren Kreisen, etwa in Kirchengemeinden oder unter Psychotherapeuten, leicht zu gerunzelten Augenbrauen und der Anmerkung, man wolle doch nicht etwa der unsäglichen These der Kollektivschuld das Wort reden. Dann kann es zu Dynamiken kommen, die so nicht zu erwarten waren. Begriffliche Klärungen greifen plötzlich nicht mehr, vieles gerät ins Rutschen im Angesicht der Realität der extremen Verbrechen und Schuld des NS-Reichs, unter der wir Nachkommen der ehemaligen Volksgenossen bis heute stehen, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht und was auch immer unsere individuellen Vorfahren gemacht haben. Gleichzeitig ist es doch ganz klar und bedarf eigentlich keiner Erläuterung, dass wir natürlich keine Nazi-Täter sind. Die entscheidende Frage aber geht dahin, ob und wie viel von der gigantischen Nazi-Gewalt auf uns, wie auch immer, bis heute überkommen ist, wie wir damit umgehen, was wir davon eventuell weitertragen.
Mit 'Täterhaftigkeit' meint Müller-Hohagen psychische Dispositionen oder erhöhte Verhaltenswahrscheinlichkeiten in labilen Situationen, wie in Partnerschaftskrisen, in Konflikten mit pubertierenden Kindern oder in der Unüberschaubarkeit hochkomplexer Arbeits- und Verwaltungsprozesse. Es sind Verhaltenswahrscheinlichkeiten, wo dann 'Täterhaftigkeit' im Zweifelsfall nicht das menschliche Antlitz des anderen wahrnehmen lässt, sondem gerade daran vorbei zu schauen, sich gegenmenschlich zu verhalten und den Mitmenschen aufs Spiel zu setzen lässt. Für solche Tendenzen von Täterhaftigkeit sehe ich in manchen unserer öffentlichen Verwaltungen und z.B. in unseren Sozialgesetzen mehr an Kontinuitäten zum NS-Reich, als gemeinhin für möglich gehalten wird. Es handelt sich hier um eine Mischung von vielleicht allgemein menschlichen, dabei auch spezifisch bürgerlichen Formen der Gewaltsamkeit mit der im NS-Reich praktizierten beispiellosen Gewalt und Vernichtung.
Oben hatte ich erwähnt, dass in jedem dieser Opfer eine Zeitbombe stecken könnte, besonders in ihren Überzeugungen und dem daraus folgenden Handeln. Mir scheint, die Konsequenzen finden wir heute in Deutschland auch bei dem alltäglichen, würdelosen Umgang, inzwischen weitgehend gesetzlich verbrieft, mit allen Abhängigen, wie Arbeitslosen [17], Angewiesenen auf Sozialhilfe, Asylanten, Kranken, Behinderten, Pflegebedürftigen, Kindern und Alten, und inzwischen musss man wohl die ausgebeuteten Niedriglöhner [18] dazurechnen, die für "selbst Schuld" und für minderwertig erklärt werden. Und genauso zu erkennen an den Arbeitsbedingungen von und dem Umgang mit den Menschen, die berufsmäßig mit solchen Abhängigen zu tun haben, wie z.B. Krankenschwestern, Altenpflegern, Lehrern, Arzthelferinnen, Sozialarbeitern. Und genauso zu erkennen ist das an den Arbeitsbedingungen von und dem Umgang mit den Menschen, die berufsmäßig mit solchen Abhängigen zu tun haben, wie z.B. Krankenschwestern, Altenpflegern, Lehrern, Arzthelferinnen, Sozialarbeitern.
Die Art des Zugangs von Müller-Hohagen über psychologische Beratung und Therapie erlaubt ihm einerseits tiefe Einblicke in Familien ehemaliger Täter oder NS-identifizierter Mitläufer, andererseits haben diese Einblicke auch ihre Grenzen: Stets bedacht sein wollen die geringe Zahl und die jeweils subjektive und nicht konfliktfreie Sicht der Informanten. Diese sind an dieser Stelle geradezu regelhaft die Ausgeschlossenen, die Randfiguren ihrer Familiensysteme. Als außerordentlich typisch hat er über die Jahre hinweg eine Aufspaltung, eine Polarisierung in diesen Familien erfahren, wonach etwa bei vier Kindern drei ganz auf Seiten der Eltern stehen, das vierte dagegen völliger Außenseiter ist, dies meist von früher Kindheit an. Gegen diese Ausgeschlossenen hat sich Gewalt von beiden Elternteilen gerichtet in Form von Vernachlässigung, Misshandlungen, sexuellem Missbrauch, Missachtung, massiven Abwertungen bis hin dazu, sie als verrückt zu erklären. Dies geschieht regelhaft, wenn und weil sie das eherne Schweigegebot in den Familien zu verletzen drohen.
Genau das aber ist ihnen eine existenzielle Notwendigkeit, haben sie doch schon als kleine Kinder etwas von der verschwiegenen und verleugneten Gewaltrealität hinter der biederen Fassade gespürt, sind dringend darauf angewiesen, dass diese Wahrnehmungen und Ahnungen mit ihnen geteilt werden, sehen sich ansonsten tatsächlich der Verrücktheit preisgegeben und sind nicht selten als psychiatrisch krank erklärt und in Nervenkliniken eingeliefert worden. Was Müller-Hohagen hierzu wiederholt erfahren habe, erinnert an Folter. Die Kinder, ob sie sich nun angepasst haben oder nicht, hatten gar keine andere Wahl, als ihre gewalttätigen Eltern in ihre Psyche aufzunehmen, insbesondere ins Über-Ich.
Vor diesem Hintergrund ist Müller-Hohagen dazu gekommen, hier von einer speziellen deutschen Unterwelt zu sprechen. Das meint er im doppelten Sinne: einmal mit Blick auf diese Ausgegrenzten, dann aber noch mehr hinsichtlich solcher Familien. Pikant ist dabei, dass es sich des Öfteren um Familien gerade aus den "besten Kreisen" gehandelt hat, bis in die Spitzen von Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Politik und öffentlicher Verwaltung.
Unter den Ausgegrenzten dieser Täterfamilien ist typisch ein extremes Spannungsverhältnis zwischen dem schon angesprochenen fundamentalen Bedürfnis nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit einerseits und andererseits einer tiefen Ausgeliefertheit an die Definitionsmacht von Familie, Umgebung, Gesellschaft in Hinsicht auf das, was dort als normal und was als verrückt gilt - und wer unter die letztere Kategorie fällt. Sie bewegen sich mit ihrem ganzen Leben in massiven Ambivalenzen. Zugleich geschieht dies alles im Verborgenen. Denn sie haben früh gelernt, was geschieht, wenn sie etwas von ihren Wahrnehmungen und Empfindungen zeigen: "Dann war von einem Augenblick auf den anderen der Teufel los."
Hier ist auf einen Punkt speziell hinzuweisen, nämlich auf die Übernahme von Täterhaftigkeit auch bei ihnen, den Ausgegrenzten, die doch eigentlich Opfer ihrer Nazi-identifizierten Eltern sind. Doch wie es auch sonst bekannt ist bei Opfern von Gewalt, etwa von sexuellem Missbrauch oder von Folter, so besteht eine der schlimmsten Folgen darin, dass die Gewalttäter unter Umständen bis tief in die eigene Psyche internalisiert wurden.
Bezüglich der Angepassten gibt es kaum direkte Erfahrungen, denn ebenso wie sich niemand als NS-Täter gemeldet hat, um diese Problematik zu bearbeiten, gilt das auch für den Kreis der mit ihnen identifizierten Nachkommen. Die Kenntnisse über sie stammen von den Ausgegrenzten. Gleichwohl kann man sagen, dass hier ein ungeahntes Potenzial an Gewaltsamkeit liegt, auch dies ein Teil der angesprochenen deutschen Unterwelt; ein Potenzial an spezifischen, aber verdeckten Tendenzen zu Gewalttätigkeit im privaten wie im öffentlichen Raum.
Das soll nicht allgemein verdächtigen, sondem anregen, solche Tendenzen überhaupt in den Pool des grundsätzlich für möglich Gehaltenen aufzunehmen. So richtig es einerseits ist, die Unschuld der Nachgeborenen an den NS-Verbrechen zu betonen, so falsch kann dies werden, wenn die Frage nach möglichen Identifikationen und nach eventuellen untergründigen Kontinuitäten nicht gestellt wird.
Identifizierungen gegenüber Täter-Eltern gehen oft noch weit über das hinaus, was als Identifikation mit dem Aggressor bekannt ist. Das wird auch als "Identifikation mit der Macht" bezeichnet. Ein Konzept, das in diesem Zusammenhang besonders wichtig wurde, ist das der Loyalität: Müller-Hohagen geht davon aus, dass unser Seelenleben, aber auch das soziale Zusammensein bis auf den heutigen Tag in ungeahntem Maße bestimmt ist von unbewussten Loyalitäten mit Nazi-Tendenzen. Auch hier ist nicht an eine einzige festgefügte Form von Loyalität zu denken, sondern an eine Vielzahl und dabei besonders an widerstreitende Loyalitäten.
Im Zusammenhang mit Täterschaft und Täterhaftigkeit ist es wenig sinnvoll, mit Fingern auf andere zeigen. Dann setzen nur mit Macht die verschiedenen Abwehrmanöver ein, insbesondere in Richtung des Statements 'Täter, das sind die anderen!'. Viel besser ist es, wenn dem Blick nach außen der auf sich selber vorausgegangen ist, auf die eigene Herkunft in Familie und weiterer Umgebung und auf die eigene Lebenspraxis, und wenn dabei die Frage nach eigener Täterhaftigkeit nicht ausgeklammert wird. Es geht um eine Kultur der von Selbstreflexion getragenen Bemühung um Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Mechanismen der transgenerationalen Traumatisierungen sind in der psychoanalytischen Literatur über den Holocaust eindrücklich beschrieben. Sie lassen sich auch auf andere Gruppen übertragen, also auch auf durch Kriegseinwirkungen, Flucht und Vertreibung traumatisierte Deutsche. Die Ähnlichkeit der Mechanismen bedeutet keinesfalls eine Relativierang des Holocaust und eine missbräuchliche Gleichsetzung mit deutschen Opferschicksalen. Das Buch "Kinder der Täter, Kinder der Opfer" (Bergmann et al. 1995) ist hierfür ein wichtiger Schritt gewesen. Heute ist es etwas leichter geworden, bei transgenerationalen Mechanismen von ubiquitären Phänomenen auszugehen ohne durch affektiv hoch aufgeladene Diskutanten unbewusst oder bewusst fehlinterpretiert und missverstanden zu werden. Vor diesen Hintergründen ist es auch auf individueller Ebene leichter, ein bisher tabuisiertes Trauma therapeutisch zu bearbeiten.
Erst nach Labilisierung eines unspezifischen, aber charakteristischen Abwehrmusters suchen die meisten Nachfahren psychotherapeutische Hilfe auf. Ereignisse, die Ähnlichkeit mit den Traumatisierungen der Eltern haben, wirken oft auslösend. Denn sprachlich nicht kodierte Inhalte des "kognitiven Unbewussten" sind nur im Vollzug einer aktiven Demonstration zugänglich.
Traumata vertriebener Eltern treten oft als innere oder äußere Konflikte der Kinder wieder auf. In den meisten Fällen ist dies den Patienten völlig unbewusst; die wenigsten thematisieren gezielt ein Kriegs- und Vertreibungstrauma der Eltern. Die meisten lassen hinsichtlich historischer Aspekte eine geradezu auffällige Amnesie oder Indifferenz erkennen. Die Vergangenheit der eigenen Familie ist wegretuschiert, oft durch wirtschaftliche Erfolge in den 50er und 60er Jahren übertüncht.
Ein Trauerprozess der Eltern, mit aggressiven Aspekten in Bezug auf Verlorenes, fand nicht statt. Ambivalente Gefühle werden samt Schuldgefühlen an die Kinder delegiert, besonders dann, wenn bei den Eltern eine Mischung von Täter- und Opferanteilen vorhanden ist. Kinder können Träger elterlicher Schuld, Insuffizienz, Verlustgefühle werden und eine tief in die Struktur verwobene Depression entwickeln.
Kinder Vertriebener wehren diese Depression oft durch manischen Aktionismus ab, indem sie die unbewussten Wünsche der Eltern nach Wiedergutmachung erfüllen. Auch deswegen fällt es ihnen schwer, sich von den Eltern abzulösen. Und auch die Berufswahl kann Abwehr und Reaktionsbildung traumatischer Erlebnisse der Eltern sein. Größenideen, z. B. als mächtiger Helfer unverwundbar zu sein, mit Kontrolle aggressiver Tendenzen und kontraphobischem Abwehrverhalten, zeigt sich durch die Wahl von Berufen, die mit diesen Themen zusammenhängen (Polizist, Soldat, soziale Berufe wie Arzt, Sozialarbeiter).
Durch Vertreibung wurde ein Kulturraum zerstört und die räumliche, zeitliche und soziale Integration des Selbst erschüttert. Viele können die Fragmente ihrer Identität nicht zusammensetzen, sie scheinen drei Generationen gleichzeitig anzugehören. Dies kann in Identitätskonfusion münden. Neben aktiver Täterschaft sind es oft passive Haltungen der Elterngeneration gewesen, die verdrängt wurden: Hierzu zählten der nicht geleistete Widerstand, das einverständige Wegschauen der Zivilbevölkerung, das eingestandene oder bestrittene Wissen über die Vernichtungspolitik, das Mitläufertum in jungen Jahren und die anfängliche Begeisterung für Naziideale. Die Idealisierung der Vergangenheit führte zuweilen zu Schwierigkeiten in der Gegenwart.
Schmerzliche Erinnerungsarbeit ist notwendig. Dies bedeutet die individuelle Bearbeitung eines kollektiven Traumas, die Rekonstruktion des Unglücks der eigenen kollektiv-familiären Vorgeschichte und ein Versuch, die Verheerungen des zweiten Weltkrieges und seiner unbewussten destruktiven Folgen in den Folgegenerationen therapeutisch aufzuarbeiten. Hierfür sind bei Therapeuten psychohistorische Kenntnisse erforderlich.
Praktisch hat es sich als nicht einfach erwiesen, transgenerationale Traumatisierungen positiv zu diagnostizieren: Wie kann sichergestellt werden, dass der fragliche traumatische Zustand, der wegen seines dissoziierten Charakters substantiell nicht mentalisiert werden kann, primär aus psychohistorischer und nicht aus nur familialer Interaktion stammt. Die Vorstellung, mit dem transgenerationalen Trauma auf einen neuen Königsweg zum Unbewussten gestoßen zu sein, trügt!
Eine Patientin, die als Tochter eines Stasi-Offiziers das politisch-existenzielle Ausgestoßen-Sein des Großvaters nach dem Krieg und das nämliche Schicksal ihres Vaters nach der deutschen Wiedervereinigung im Kontext einer bulimischen Erkrankung integrieren konnte, sagte: "Es ist so gut, diese weit zurückreichenden Verbindungen zu sehen und über sie sprechen zu können. Das nimmt mir total den Druck, für alles allein verantwortlich zu sein. Denn die anderen sind auch beteiligt. Ich trage einen Teil, der auf mehrere Schultern gehört!" In einem sehr lesenswerten Beitrag, der sich mit den behandlungstechnischen Problemen von transgenerationalen Störungen befasst, wird auf Lacan verwiesen, der einmal sagte: "Man wird nicht gesund, weil man sich erinnert, sondern man erinnert sich, weil man gesund wird!"
Beginne ich mich zu erinnern? Immerhin hat es 10 Jahre gedauert, bis ich dieses Kriegskinder-Kapitel eingefügt habe in "Selbsterkenntnis und Eigensinn". Immerhin war dieser Text in diesen Jahren angeschwollen von 25 auf 450 Seiten.
Das Zitat oben, von der Tochter eines Stasi-Offiziers, ließ mich dann zum Kriegskinder-Kapitel, 1.6., zusätzlich einfügen das Kapitel 13.1 FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Heft 4 - 09/1982, und, hier in 1.6, den ausdrücklichen Hinweis auf Abschnitt I, "Grundlagen", mit unserem "FMK-Grundsatzpapier" (1979). Das ganze Heft dreht sich um Menschenwürde, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Ich kann das heute verstehen als den absoluten Widerspruch zu dem, was meine Eltern und ihre Eltern erlebt haben im Kaiserreich und in der Nazidiktatur.
Nachdem ich die OCR-Fassung des Heftes Wort für Wort durchgearbeitet hatte, konnte ich erkennen, dass ich meinem Vater ein wirklich sehr besonderes Geschenk zum 70. Geburtstag gemacht hatte - 3 Tage später ging er in die andere Welt. Und ich bin sehr froh, dass ich vor einigen Jahren von einem Freund, der Workshops mit englischen Medien veranstaltet, zum Besuch so einer Sitzung gedrängt worden bin: Als erstes erschienen zwei Wesenheiten, die ich aus den Beschreibungen des Mediums unzweifelhaft als meine Eltern erkennen konnte. Sie wollten mich zum weiteren Schreiben dieses "Selbsterkenntnis-Eigensinn-"Textes ermuntern. Das sei das, was sie in ihrem Leben als Wichtigstes empfunden hätten. Zum Schluss der Sitzung kam noch ein anderer Verwandter, den ich nicht identifizieren konnte, und schenkte mir ein Paar von ihm genähter Wanderstiefel, damit ich den Weg gut weitergehen möge.
Mit Joachim Fest, der neun Jahre früher als ich geboren wurde, verbindet mich, dass er zwei Häuser weiter, in der Hentigstraße 13 von Berlin-Karlshorst, seine Kindheit verbrachte. Er schrieb 2006 über die oben angedeutete Zeit ein bemerkenswertes Buch "Ich nicht - Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend". Im Nachwort finde ich: Man zeichnet im nachhinein nicht etwa auf, was man erlebt hat, sondern was die Zeit, die wachsende perspektivische Verschiebung sowie der eigene Formwille im Chaos halbverschütteter Erlebnisse daraus genacht haben. Im ganzen hält man weniger fest, wie es eigentlich gewesen, sondern wie man wurde, wer man ist. ... Die Fragen, die daraus erwuchsen, tauchten immer wieder auf. "Was ist Wahrheit?" wollte ich dann wissen und stieß am Ende ein ums andere Mal auf eine Einsicht Sigmund Freuds. Die ungetrübt biographische Wahrheit, schrieb er an Arnold Zweig, sei, bei allem Abmühen, "nicht zu haben".
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