Selbsterkenntnis und Eigensinn


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8.5 Kinder

8 Wer antwortet?


Der Biologe A. Portmann beschreibt Kindheit so: "... Unsere erste Wachstumsperiode vor der Pubertät gliedert sich in zwei Epochen, davon eine verlangsamt nach dem stürmischen Erstjahr. Es zeigt sich, daß diese Verlangsamung in der Phase, die man zuweilen als die exosomatische Vererbung der endosomatischen gegenüberstellt, ihren biologischen Sinn in der Übernahme eines gewaltigen Traditionsgutes hat. Die Anthropoidenforschung hat gewisse Entsprechungen dieser Art im Bereich der höheren Primaten gezeigt. Auch deren Entwicklung beruht auf einer Verlängerung des Jugendalters und des intensiven Kontaktes der Kinder zu den Eltern sowie und vor allem zu der gesamten Gruppe.

Diese frühe Entwicklungsperiode steht im Zeichen einer völlig anderen Weltsicht als diejenige, die sich nach der Pubertät stürmisch in uns entfaltet. Es ist die primäre Welt, in der das traumhafte Erleben, das Gefühlsleben, dominiert. In ihr beherrscht die Wahrheit der Sinne unmittelbar das Feld. Nur sehr langsam bricht die rationale Einsicht in diese dem unmittelbaren Sinn entflossene Wirklichkeit ein. Die Entwicklung in die sekundäre Welt ist ein Teil jenes viel besprochenen Prozesses der Entfremdung vom ursprünglichen Naturzustand. Dieser Prozeß ist im Gegensatz zu den Annahmen mancher Soziallehren nicht umkehrbar. Das hat bereits Rousseau klar erkannt, während Marx es nicht sehen wollte und die Hoffnung hatte, daß wir durch eine Spirale in der späteren Sozialentwicklung auf höherer Ebene wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden könnten. ..."

Das mag wohl sein, denn es gibt kein Zurück, runter von höherer Komplexität einer höherer Ordnung oder aber nur durch Entropiezunahme, also durch Zerstörung. Allein in einer Individualentwicklung, so scheint es uns zur Zeit, nicht als Gesellschaft, können wir diesen Prozeß weiterführen in einen höheren Zustand.
Jedoch ist solche Entwicklung viel leichter, wenn ich mich aufgehoben und unterstützt weiß in einem Netzwerk von Gleichgestimmten.

Dieser Biologe hängt genauso wie die überwiegende Mehrheit der Kinderpsychologen dem Glauben an, das, was Jean Piaget das magische Denken bei Kindern nannte, sei etwas Falsches, das der Entwicklung von rationalem Denken Platz machen müßte. Ganz anderen Zugang hat J. C. Pearce dazu gefunden
[1]. Kinder sind keine unfertigen Erwachsenen, die wir möglichst schnell in unsere Sicht von Wirklichkeit hineinzwängen sollten. Ihre Phantasie, ihr Spiel, ihr Träumen ist keine Flucht vor der realen Welt: dieses "magische" Denken befähigt das Kind erst dazu, seine naturgegebenen Fähigkeiten zu entwickeln und in der spielerischen Auseinandersetzung mit der Welt seine eigene Wirklichkeit zu erfahren und zu gestalten und es ist die Grundlage für das spätere logische Denken. Wir werden geboren mit der existentiellen Gewißheit, daß uns das Leben mit Vollkommenheit ausgestattet hat und daß wir uns lieben können, wie immer wir sind. Aber die Erwachsenen unserer Kindheit hielten uns nicht für Menschen, sondern für "Kinder", die erst zu Menschen gemacht werden müssen. Unsere Identität, unsere Träume, unsere Harmonie, unsere Selbstliebe zerbrachen. "Wir werden als Götter gezeugt, als Menschen geboren und zu Kindern gemacht. Es dauert dann oftmals ein ganzes Leben, bis wir begreifen, dass wir keine Kinder sind" ( A. Winter)

Wir werden als vollwertige Menschen geboren. Nur weil unsere Erzieher irgendwann dieses magische Denken und diese große Spannweite der Empfindungen, von zärtlich, verspielt über neugierig, ideenreich bis zu trotzig, wütend, nicht mehr ertragen wollten, haben wir überlebensklug einen Vorhang davor gezogen. Wenn Menschen, z.B. durch Psychotherapie oder auf einem der tausend anderen Wege zu sich selbst zu kommen, wieder zum Bewußtsein ihrer ursprünglichen Fülle ihrer Menschlichkeit zurückkommen, dann landen sie da, wo sie sich dies abgeschnitten hatten, in der Kindheit. Daraus entstand dieser eigentlich unsinnige Begriff vom
Inneren Kind für die unverstellte Menschenhaftigkeit.

Der Begriff 'Kind' gehört großteils auch in die Kategorie
Maske. Er ist hier für das Innere Kind eigentlich völlig falsch, nur Ausdruck der Tradition der Erwachsenen-Sicht. Die Menschenrechtsbewegungen nennen diese Tradition "Adultismus" (engl. adult = Erwachsener). Mit Adultismus werden Vorurteile gegenüber einer Person oder einer Personengruppe aus Gründen des Alters bezeichnet. Der Begriff bezieht sich insbesondere auf die Altersdiskriminierung von jungen Menschen, meistens durch Erwachsenen gegenüber Jugendlichen und Kindern: „Du bist zu jung, um das zu verstehen“ oder „Warte bis du älter bist!“ sind Äußerungen, in denen Adultismus zum Ausdruck kommen kann; nicht ernst nehmen, nicht entscheiden lassen und Bevormundung. Alle Menschen, zumindest unserer patriarchalen, abendländisch-westlichen Welt, erleben das, wenn sie jung sind und viele betrachten es als alltäglich. So kann Adultismus junge Menschen darauf konditionieren, alle weiteren Diskriminierungsformen (Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Alten- und Behindertenfeindlichkeit etc.) zu akzeptieren bzw. selbst auszuüben.

Über das sich bewußt werden von Erfahrungen mit Adultismus fand ich in der mailing-list "lieben-was-ist" diesen Beitrag:
liebe liste,
auf anregung von anyma habe ich nun mal einen work-arbeitsblatt über erwachsene aus meiner sicht als kind zusammengestellt. war ganz schön schwer zu trennen, zwischen meinen echten damaligen gefühlen als kind und meiner heutigen einstellung als erwachsener gegenüber kindern.
(1) Wen oder was magst Du nicht? Wer oder was ärgert Dich? Wer oder was macht Dich traurig oder enttäuscht Dich?
Ich bin ärgerlich auf die Erwachsenen, insbesondere meine Eltern, weil sie:
- mich nicht ernst nehmen, mich nicht für vollwertig ansehen.
- über mich lächeln und mich "süß" finden, wenn ich mich mit feuereifer für etwas begeistere oder weine, weil ich so schrecklich traurig bin.
- versuchen, die dinge für mich zu regeln (z.b. beim streit mit freundin deren eltern einschalten) und mich damit dumm dastehen lassen.
- mich dick in rosa watte einpacken und von allen schlechtigkeiten dieser welt fernhalten wollen und mich damit auch vieler erfahrungen beschneiden
- mich vor anderen erwachsenen vorführen (z.b. mit "hast du auch lieb danke gesagt?")
- mich in eine schublade stecken mit äußerungen negativer und positiver art wie "du bist frech /kratzbürstig /intelligent /zuverlässig" anstatt mich einfach wahrzunehmen
- mir gewissensbisse verursachen ("da sind wir aber jetzt traurig")
- manchmal nicht auf mich reagieren, wenn ich was erzähle
(2) Wie sollen sie sich ändern? Was willst Du von ihnen - was sollten sie tun? Ich will, dass die erwachsenen:
- mich ernst nehmen und wie einen vollwertigen, kompetenten menschen behandeln
- nicht mehr über mich lächeln wenn ich ernst oder traurig bin
- mir beistehen in schwierigen situationen, und mir hilfe zur selbsthilfe geben, mich die dinge aber selbst regeln lassen, oder mir einfach nur in meiner trauer beistehen, ohne diese wegmachen zu wollen.
- mich mein leben leben lassen mit allen höhen und tiefen
- mich einfach wahrnehmen in meinem DA-SEIN.
- mir keine gewissensbisse mehr verursachen.
- mir zuhören
(3) Was genau sollten sie tun oder nicht tun, sein, denken oder fühlen? Welchen Rat hast Du für sie? Die Erwachsenen sollten oder sollten nicht:
- sollten mich ernst nehmen
- sollten meine kindliche kompetenz anerkennen
- mich nehmen und lieben wie ich bin
- mich wie einen vollwertigen menschen behandeln
- sich nicht über mich lustig machen
- mich mein leben leben lassen
- mich die dinge tun lassen, wie ich meine, dass ich sie tun muß und mir weder erklären, dass das was ich tue nicht gut ist, noch es für mich tun wollen (es sei denn ich bitte sie darum)
- nicht mit anderen von oben herab über mich sprechen
- nichts mich betreffendes über meinen kopf hinweg entscheiden
(4) Brauchst Du etwas von ihnen? Was sollen sie Dir geben oder für Dich tun, damit Du glücklich bist? Ich brauche von den Erwachsenen, dass
- sie mich lieben und anerkennen, wie ich bin mit allen meinen guten und schlechten eigenschaften
- sie mich ernst nehmen
- alle meine gefühle anerkennen
- mich sein lassen, wie ich bin
- sie mich für voll nehmen
- sie meinen wert erkennen
- sie mir zuhören
- sie mich "sehen"
- sie mich nicht nur für meine guten leistungen mögen
-mich nach meiner meinung fragen und nicht vorschnell urteilen
(5) Was denkst Du über sie? Mache eine Liste. Die Erwachsenen sind:
- sehr wichtig für mich
- manchmal ganz schön schwierig
- zuweilen arrogant, überheblich, ignorant und besserwisserisch
- leben in einer anderen welt als ich
- oft schuld an meinen schlechten gefühlen (z.b. gewissensbissen oder wut)
(6) Was willst Du mit dieser Person oder Sache oder welche Situation willst Du nie wieder erleben? Ich will nie wieder erleben oder Ich weigere mich, wieder zu erleben, dass die Erwachsenen:
- mich nicht ernst nehmen
- sich über mich lustig machen
- mich be-werten ohne mich wirklich wahrzunehmen
- mich als ihr produkt betrachten
- mich anhand meiner leistungen beurteilen.

Und dazu auf die work zum ersten Satz in dem Fragebogen eine Antwort eines anderen Listen-Teilnehmers:

Hier ganz spontan (meine) Umkehrungen des ganzen Satzes:
"die leute nehmen mich manchmal nicht ernst, sollten es aber tun".

Ich nehme mich manchmal nicht ernst, sollte es aber tun.
Ich nehme die Leute manchmal nicht ernst, sollte es aber tun.
Ich nehme die Leute manchmal zu ernst, sollte es aber nicht tun.
Ich nehme mich manchmal zu ernst, sollte es aber nicht tun.
Mir ist noch eingefallen: vielleicht nehmen die Leute mich gerade
dann nicht ernst, wenn ich mich selber grad zu ernst nehme?
Und noch eine kleine Phantasieumkehrung:
Ich gebe (= Gegenteil von nehme) mich manchmal zu ernst, sollte das aber nicht tun.

Zu 'Kindern' wurden wir erst durch erzogene Erwachsene gemacht, ein uraltes Verhaltensmuster in den meisten Gesellschaften. Die Menschenwürde ist unantastbar - nur nicht bei Kindern? Wir sind eine Gesellschaft, die in triviale Maschinen verliebt ist. Sagt ein Kind "2x2 = grün", so schicken wir es in die Trivialisierungsanstalt, in das Teilzeitgefängnis Schule, damit es lernt, immer zu glauben "2x2 = 4". Und wir sind glücklich, wenn es dabei zum guten Mitarbeiter, Bürger und Steuerzahler wird. Menschen passen sich an die pädagogische Umgebung an und weisen es - aus Verantwortung für sich selbst - mehr und mehr zurück, für sich selbst verantwortlich zu sein, bis sie schließlich selbst glauben, daß sie nicht für sich selbst die Verantwortung tragen
können.

In www.amication.de oder im Buchladen-PC unter "Autor: Hubertus v. Schoenebek"
[2] findest Du reichlich Material dazu. Und natürlich haben auch viele andere Kluges dazu geschrieben. Deutlich wird dabei, daß nicht grundsätzlich oder immer der Säugling und das Kleinkind in eine Opferrolle hineinwächst. Sich so zu sehen ist eine persönliche Entscheidung. Einige Menschen bleiben freie Selbstverantworter. Doch erzogen zu werden von Erzogenen bedeutet in der Regel Unterdrückungserfahrung und - überlebensklug - das Übernehmen einer Opferrolle.

Konflikte kommen im Alltag oft vor. Selbst wenn man sich in Konflikten mit Kindern nur zehnmal am Tag durchsetzt, dann sind das 3650 Steine, die im Lauf eines Jahres in den Weg eines Kindes gerollt werden. Bei 18 Kinderjahren sind das 65 700 Steine, bei beiden Eltern 131 400, hinzu kommen Verwandte, Bekannte, Erzieher, Lehrer: rund 200 000, vielleicht sogar eine viertel Million Steine warten auf jedes Kind, Behinderungen, Niederlagen. Es gibt kein Patentrezept, wie sich dieser riesengroße Steinhaufen verringern läßt. Unzählige Steine sind die Realität jedes Kindes. Sie sind mal kleiner, mal größer, in jungen Jahren mehr, später weniger - aber sie sind da. Muß ein Stein, müssen alle diese vielen Steine nicht nur behindernd, sondern auch noch giftig sein? Behaftet mit dem seelischen Gift "Sieh das ein! Das kannst Du nicht richtig beurteilen! Ich bin für Dich verantwortlich! Ich weiß es besser als Du!" Dieses Gift gibt es in der erziehungsfreien Beziehung nicht, auch nicht im Konfliktfall.
[3]

Viele bewegende Bücher zu dieser Not der Erzogenen schrieb Alice Miller und hat Arno Gruen geschrieben. Kürzlich hörte ich ein Interview mit ihm anläßlich seiner jüngsten Bücher "Der Fremde in uns" und "Der Kampf um die Demokratie - Der Extremismus, die Gewalt und der Terror". Das meiste davon paßt hierher:

Empathie, die Fähigkeit zum Mitgefühl, entwickelt schon der Fötus; es ist eine der Funktionen des neuromuskulären Systems. Die EEGs von Müttern und ihren Neugeborenen zeigen, daß beide Hirne in Resonanz schwingen. Doch bald bricht über den neuen Menschen die Erzogenheit seiner Zentralsozialpartner herein. In bester Absicht, ganz unschuldig und voll guten Willens tun sie mit dem Kind, wie sie es als Kind von ihren Eltern selbst erlebt hatten und so als Verhaltens-Modell unbewußt für das jeweilige Alter gespeichert haben. - Und diese Kinder behandeln dann wieder ein Leben lang sich selbst so, wie sie es von den Eltern gewohnt waren. Und dann ihre eigenen Kinder. Diese Kette zu unterbrechen, das kann jeder nur für sich selber.

Genauso wie den Eltern nach deren Geburt geht es jetzt für diesen neuen Menschen um das Überleben der Unterdrückung. 5000 Jahre patriarchale Tradition. Es geht um Erwachsenen-Macht und Erhalten des Status quo, und nicht nur in vielen Familien. Bis in die siebziger Jahre war es in Heimen gängige Praxis, die jungen Menschen massiv zu quälen und zu demütigen - die Mannschaften aus den Nazijahren waren ja noch aktiv und sie konnten die jüngeren Erzieher dort lange dominieren. Erst heute haben einige Opfer ihre Traumatisierungen soweit bearbeitet, dass sie sich laut äußern können und beginnen, sich in Selbsthilfegruppen zusammenzuschließen. Erst heute gibt es dazu Veröffentlichungen
[4].

Zum Beispiel die von Dietmar Krone "Albtraum Erziehungsheim - Die Geschichte einer Jugend". Alles, was er darin beschreibt, ist mir dem Geiste nach bekannt, wenn diese Haltung in meiner "gutbürgerlichen" Familie und meinem humanistischen Gymnasium auch in ganz anderen Formen auftrat. Michael-Peter Schiltsky schrieb "Kann man leise schreien?" Zitat: "Dietmar Krone - Jahrgang 1954 - hatte Jahrzehnte in sich verschlossen, was nun in seinem Buch "Albtraum Erziehungsheim - Die Geschichte einer Jugend" nachzulesen ist. Beschrieben wird eine Kindheit und Jugend in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders. Das unerwünschte Kind wird von der Mutter - einer ehemaligen BDM-Führerin - auf den Dachboden verbannt, zu Kinderarbeit gezwungen, von Liebhabern der Mutter brutal geschlagen. Als er eines Tages, knapp 12 Jahre alt, bei der Arbeit zusammenbricht, wird die Fürsorge eingeschaltet. Die "Fürsorgeschwester" hat aber an dem Kind mehr auszusetzen als an der das Kind mißhandelnden Mutter.

Er findet Hilfe in einer religiösen Gemeinde und freundet sich mit einem Mann an, zu dem er sich hingezogen fühlt, der ihm zu helfen versucht, der ihm menschliche Nähe vermittelt. Die Mutter zeigt den Mann als Kinderschänder an, es kommt zur Verhaftung mit dem Ergebnis, dass es nach der einschüchternden Vernehmung des Kindes heißt: "Im Namen des Volkes ergeht folgender Beschluss: ... wird auf Grund sittlicher Verwahrlosung bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres in ein geschlossenes Erziehungsheim überstellt. Es wird Fürsorgeerziehung angeordnet." Damals wurde man mit 21 Jahren volljährig. Das Opfer jahrelanger Vernachlässigung und Misshandlung durch die Mutter wird zum jugendlichen Kriminellen ohne Schulbildung abgestempelt. Nicht die erforderliche, schützende Hilfe, sondern die Bestrafung des Opfers wird angeordnet.

Was dann über Jahre im Jugenderzeihungsheim Viersen-Süchteln unter der Leitung eines ehemaligen HJ-Führers folgt, ist ein Martyrium. Erziehung durch Demütigung, erzwungene Arbeit, eingesperrt werden in einer Dunkelzelle, bis hin zu schwerster Körperverletzung und schließlich in einer Zwangsjacke die Überführung des Schwerstverletzten in die Psychiatrie. Dort geht die Tortur erst weiter. Fixierung am Bett, ruhig stellende Medikamenten-Vergabe im Überfluss. "Wir sind hier schon mit ganz anderen Verbrechern fertig geworden." Man erinnert sich an die damals noch gängigen Sprüche: "Unter Adolf ...". Der Schoß war fruchtbar noch aus dem das kroch.
Doch schließlich kommt Hilfe durch einen Pfleger und einen Arzt. Nach einigen Monaten wird mit Hilfe eines Anwalts bewirkt, dass Dietmar Krone nicht mehr ins Erzeihungsheim zurück muss. Mit inzwischen 19 Jahren geht er nach West-Berlin. Es beginnt, mit den zu erwartenden Anfangsschwierigkeiten, ein selbstbestimmtes Leben, das aber bis heute geprägt ist von dem ihm damals zugefügten Leid.

Bemerkenswert ist, dass Dietmar Krone sein Buch mit einem Bericht über die verlorenen Kindheit einer Frau beendet, die nicht im Heim gewesen ist. Auf diese Weise wird deutlich, dass allgemein die "Fürsorge" in der deutschen Wohlstandsgesellschaft der damaligen Zeit häufig weder für die Bedürfnisse von Kindern einstand, noch sich um deren Menschenrechte gesorgt hat.

Ein geflüstertes Buch, das vom Leid schreit, schnörkellos, eine unmissverständliche Anklage gegen eine "fürsorgende" Gesellschaft, die "Fürsorge" mit Demütigung, Beschimpfung, erzwungener Arbeit und schwerer Körperverletzung, das heißt, mit Menschenrechtsverletzungen praktizierte.

In einem Interview sagte Dietmar Krone: "Warum das alles eigentlich? Ich wollte doch nur Liebe, Wärme, auch Körperwärme, die einem Kind zustehen sollte."
[5]

Bei Caritas und Diakonie will man angeblich nicht wissen, was jahrzehntelang unter ihrer Verantwortung geschehen ist. Dabei liegen die letzten dieser Fälle gar nicht so lange zurück. So wurden Kinder im "St. Joseph-Haus" in Seligenstadt noch 1992 blutig geschlagen. Und im katholischen Stift zu Eisingen bei Würzburg wurden sie noch im Jahr 1995 beispielsweise zur Strafe in Badewannen mit kaltem Wasser gesteckt.

Von 1945 bis etwa 1970 wurden die schlimmsten Pädagogikvorstellungen der Nazi-Zeit in der kasernierten Fürsorgeerziehung nahezu ungebrochen fortgesetzt. Erst die "Heimkampagne" der Apo und vereinzelte, auch von Ulrike Meinhof unterstützte "Befreiungsaktionen" leiteten Reformen ein.

Auf einer Tagung über katholische Heimerziehung beschrieb 1959 der Frankfurter Jesuitenpater Karl Erlinghagen seinen Brüdern und Schwestern Erziehern, mit wem sie es in den Heimen zu tun hätten: "Die Menschen, die Sie vor sich haben, seien sie nun Psychopathen, seien sie kriminell, seien sie irgendwie sinnesgeschädigt, auch ganz normal, diese Menschen leiden unter dem gleichen Fluch der Erbsünde, unter dem die ganze Menschheit leidet." In einer Caritas-Festschrift über die katholische Kinder- und Jugendfürsorge hieß es bereits in den dreißiger Jahren: Dem Fürsorgezögling "darf es schon in Fleisch und Blut übergehen, dass die Arbeit in Gottes Auftrag geschieht und nicht bloß klingende irdische Münzen einbringt, sondern auch den ewigen Lohn bedingt. Das Wort 'Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen' darf den Eingang jeder Werkstätte zieren."
[6]

Weil es Politiker tolerierten, konnten im Landesfürsorgeheim Glückstadt, Schleswig-Holstein, jahrzehntelang Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen verübt werden. Im Mai 2010 dokumentierte eine Ausstellung diese systematische Rechtsverletzungen. Heike Stüben berichtet in den Kieler Nachrichten (KN) darüber.

"In Glückstadt haben sie schon ganz andere kleingekriegt, Die machen dich fertig fürs Leben", wurde Rolf Breitfeld (62) gesagt, als er 1965 abgeholt wurde. Sein Verbrechen: Er kam mit seinem Stiefvater nicht klar. Auch Roland Scheuring (58) war keineswegs kriminell. Aber seine Mutter führte angeblich ein Lotterleben. Nach mehreren Heimen kam Scheuring mit 16 nach Glückstadt. Von neun Monaten verbrachte er die meiste Zeit in einer schalldichten Box im Keller in Einzelhaft: "Kein Ton, kein Licht, kein Wasser. Wenn ich raus kam, hatte ich Kopfschmerzen, weil ich Geräusche und Sonnenlicht nicht ertragen konnte."

6000 Kinder und Jugendliche als Opfer eines rechtswidrigen Erziehungssystems, das von Gewalt bis zum sexuellen Missbrauch, von Isolationshaft und Zwangsarbeit gekennzeichnet war - diesen Vorwurf erhoben ehemalige Zöglinge vor gut drei Jahren in der KN. Was sie berichteten, schien unglaublich. Eine vom Landtag in Auftrag gegebene Untersuchung des Jugendhilfeexperten Prof. Christian Schrapper von der Universität Koblenz bestätigt jetzt, 2010: Auch nach damaligem Recht war das, was 1949 bis Ende 1974 im Landesfürsorgeheim Glückstadt passierte, systematisches Unrecht an Kindern und Jugendlichen.

Staatliche Aufsicht und politische Kontrolle versagten in Glückstadt. Denn auch das offenbarten die untersuchten 8000 Aktenblätter im Landesarchiv: Von Beginn an beklagten örtliche Jugendämter, Mitarbeiter von Kultusministerium und Landesjugendamt "unhaltbare Zustände". Auch öffentlich und im Schleswig-Holsteinischen Landtag wurden mehrfach nach Hilferufen aus dem Heim die eklatanten Missstände thematisiert, einzelne Abgeordnete forderten die Schließung des Heims. Daraufhin besichtigen die Landtagsabgeordneten des zuständigen Ausschusses seit den frühen 50ern immer mal wieder die "Anstalt" und beschlossen anschließend unter dem Eindruck der "schrecklichen Zustände" regelmäßig und meist einstimmig die sofortige Schließung. Doch dann passierte nichts, weil die Alternativen angeblich zu teuer waren. So konnte Glückstadt bis Ende 1974 bestehen.

Für Rolf Breitfeld ist das nur durch eine Kontinuität von Erziehungsmethoden und Gesinnung seit der Nazizeit zu erklären: "Unsere Arrestzellen waren wie von der Gestapo verlassen. Ich habe auf Matratzen mit Reichsadler und Hakenkreuz geschlafen, KZ-Wärter arbeiteten als Erzieher, der Sozialminister musste 1957 zurücktreten, weil er planmäßig ehemalige NSDAP-, SA- und. SS-Mitglieder in sein Ministerium berufen hatte." Sozialminister Heiner Garg entschuldigte sich bei den Opfern und versprach weiter Aufarbeitung und Aufklärung. Opfer Rolf Breitfeld will mehr, will eine Entschädigung für die Zwangsarbeit: "Ich will jeden Monat die Entschuldigung für das Unrecht auf dem Konto sehen."

Es geht dem Neugeborenen um selbstverantwortete Anpassung und dafür ist das Kleinkind perfekt ausgestattet. Das Hirn wächst besonders schnell im ersten Lebensjahr. Dabei entwickelt es feste Bahnungen für jede erfolgreiche Bewältigung und baut viele der angeborenen Bahnungen ab, weil die unbenutzt bleiben. Und so nehmen diese Kinder sich ein Modell vom Leben von ihren Eltern, die ja, gesellschaftlich konform, sich nicht im Körperlichen selbst wahrnehmen mögen, sondern 'normal' sein wollen, sich als statistischer Fall innerhalb einer statistischen Population verstehen. Die Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, in aller Liebe und Unschuld - sie wußten es nicht besser. Und als Erwachsene glauben diese Kinder, sie seien 'verletzt' worden — sie nehmen die Opferrolle, statt sich ihrer Anpassungsleistung zu freuen und für ihr Heute unverdrossen neu- und umzulernen.

Das Neugeborene ist in einer Weise sensibel und ist mit einer Sinnesstärke ausgestattet, wie wir Erwachsene sie uns kaum vorstellen können. In der Medizin und den Neurowissenschaften beginnen dazu erst die Forschungen. So ist z.B. der Geschmackssinn dreihundertmal empfindlicher als der von Erwachsenen. "Etwas mit der Muttermilch lernen" ist völlig real, weil Muttermilch ja kein Standardsaft ist wie die Molkereimilch oder gar wie eine Kinder-Trockenmilch. Die Muttermilch läßt das Kind zu jeder Zeit die Reaktion der Mutter auf eine Lebens-Situationen schmecken als Änderung ihres Blut-pH-Wertes oder der Ausschüttungen der Hormonsysteme.

Wir wissen, daß Neugeborene nur sehr, sehr verschwommene Bilder wahrnehmen. Wir wissen aber auch, daß sie es 30 Minuten nach ihrer Geburt eher vorziehen, Bilder des menschlichen Gesichts zu betrachten, als andere gleichwertig komplexe Bilder. Neugeborene können sehr bald Fotos ihnen vertrauter Menschen unterscheiden von denen Fremder. Es scheint also, daß wir geboren werden mit der Fähigkeit, Gesichter wahrnehmen zu können.

Schon vier Monate alte Babys können Gesichtsausdrücke interpretieren, haben britische Forscher beobachtet: Wenn jemand Blickkontakt mit den Kleinen aufnimmt, werden bei ihnen bereits die gleiche Hirnregionen aktiv, die auch bei Erwachsenen auf soziale Signale wie beispielsweise ein Lächeln reagieren. Aufgrund dieser Erkenntnisse glauben die Forscher, dass Babys möglicherweise bereits mit der Fähigkeit zur sozialen Interaktion geboren werden.

Wenn Kinder ein Jahr alt sind, erreichen sie nahezu die Sehschärfe eines Erwachsenen. Sie können Farben, Objekte, Tiefe und Bewegung konstruieren. Die visuelle Intelligenz ist also ziemlich gut entwickelt mit einem Jahr. Erst danach beginnen Kinder Worte zu lernen. In gewisser Weise verbringen wir den ersten Teil unseres Lebens mit anfassen, in den Mund nehmen, mit Händen und dem ganzen Körper zu "begreifen" und damit zu lernen, wie man die visuelle Welt konstruiert. Erst danach beginnen wir, die visuelle Welt zu
benennen [7]. Wir beginnen, Bewußtsein in Sprache zu übersetzen. Und leider halten die Erzieher das dann für Intelligenz.

Das Neugeborenen-Hirn hat noch Querverbindungen zwischen den Sinnen. Etwa 7 % der erwachsenen Menschen bewahren das als Synästhesien
[8]. Zahlen als Farben, Buchstaben als Klänge - alles ist möglich. Für Babys, die noch nicht zu abstrahieren oder objektivieren gelernt haben, heißt das: Jeder Sinnesreiz wird als ein die ganze Person und seine Welt Umfassendes erlebt und nicht abstrahiert als 'ich sehe dich' oder 'ich habe Bauchweh'. Die Welt und sie darin, für uns "normale" Erwachsen kaum vorstellbar, kann ihnen also als brüllend, flackerndes Chaos erscheinen. Auch das Erleben von Kindern, unter denen bis zur Pubertät noch rd. 17% Syästhesisten sind und die noch in einer magischen Welt leben, ist das für uns "normale" Erwachsen ebenfalls kaum vorstellbar.

Die Wissenschaftlerin Daphne Maurer berichtet, daß alle Kinder unter vier Monaten synästhetische Reaktionen erleben, weil das Gehirn seine Funktionen noch nicht aufgefächert hat, noch keine einzelnen Abteilungen geschaffen hat, die getrennt voneinander auf einen Reiz reagieren, je nachdem ob der von Auge, Ohr, Nase, Zunge oder der Haut kommt. Das kleine Kind löst eine Erfahrung nicht in einzelne sensorische Komponenten auf. In einem Artikel mit dem Titel "Synästhesie bei Neugeborenen" legt Maurer dar: "Die Sinneswahrnehmungen eines Neugeborenen sind nicht gut voneinander unterschieden, sondern statt dessen in einem synästhetischen Durcheinander miteinander vermischt."

Die Kleinkinder nehmen ganzheitliche Konfigurationen von Energie wahr, anstatt diese Konfigurationen den Filter unserer fünf Sinne passieren zu lassen, so daß durch den einen oder aber den anderen Sinneskanal etwas auf uns einwirkt. Kleinkinder erfahren eine zusammenhängende, in sich geschlossene Konfiguration, und es kommt ihnen nicht in den Sinn, irgend etwas zu hinterfragen: Sie leben einfach.

Kinder machen Erfahrungen, die sie akzeptieren und den Erwachsenen nicht schildern. Das ist der Grund dafür, daß viele Eltern nie herausfinden, daß ihr Kind synästhetische Wahrnehmungen hat, und daß so viele Menschen, die Synästhetiker sind, nicht wissen, wie ungewöhnlich ihre Form des Wahrnehmens ist, bis sie das Erwachsenenalter erreichen. Es gibt wahrscheinlich auch einige Synästhetiker, die durch das Leben gehen, ohne daß ihnen jemals bewußt wird, daß ihre Wahrnehmungen nicht der Norm entsprechen. Was hier für
synästhetische Wahrnehmungen untersucht wurde, kann unmittelbar auf alle Arten von Wahrnehmung und natürlich auch auf das Wahrnehmen von erzieherischen Aktionen der Erwachsenen verallgemeinert werden. So wird die pädagogische Krankheit über Generationen weitergegeben.

Wenn man schon die Analogie von Hirn zu Computer nehmen will, so wäre das Hirn eine Hardware, die sich ständig der Software anpaßt. Der ununterbrochen Strom der Sinneseindrücke wird zu Bildern verarbeitet und es werden daraus Regeln extrahiert. Das geschieht massiv in den ersten drei Lebensjahren, ist noch stark bis zur Pubertät und wird erst schwächer danach. Aber immer noch bleibt in diesem plastischen System die Fähigkeit zur gegenseitigen Synchronisierung bestehen, von jeder neuen Erfahrung veränderbar. - Es ist nie zu spät, eine sinnvolle Kindheit gehabt zu haben.



  • [1] Joseph Chilton Pearce "Die eigenen Welt des Kindes - Aufwachsen nach innerem Antrieb" Hamburg, 1980. Auch "Die magische Welt des Kindes und Aufbruch der Jugend", "Neue Kinder - Neue Eltern"
  • [2] http://www.amication.de/hubertus_von_schoenebeck_-_zur_person.htm
  • [3] Hubertus von Schoenebeck: "Kinder der Morgenröte", Taschenbuch-Ausgabe 2004. 142 Seiten. EUR 9,80
  • [4] Seit Anfang 2006 Peter Wensierskis Buch "Schläge im Namen des Herrn" erschien, in dem der Journalist Bericht ablegt über die unfassbaren Zustände in den Kinderheimen der frühen Bundesrepublik bis in die 70er Jahre, gleich ob konfessionell oder staatlich. Es wird endlich thematisiert, was bisher einfach verdrängt wurde: die Menschenrechtsverletzungen in der frühen Bundesrepublik. Wensierskis Buch ist eine Sammlung des Grauens, der Erinnerungen von unzähligen Heimkindern, die an Leib und Seele regelrecht gefoltert worden waren von Erziehern, die ganz selbstverständlich in dem Glauben lebten, mit unerbittlicher Härte das Richtige für ihre Schutzbefohlenen zu tun. Alles im Namen einer schwarzen Straf- und Besserungspädagogik, generiert im 19. Jahrhundert und "verfeinert" durch die Nationalsozialisten. . Peter Wensierski, "Schläge im Namen des Herrn", 2006, Spiegel-Buchverlag/DVA
  • [5] Dietmar Krone "Albtraum Erziehungsheim - Die Geschichte einer Jugend"; 1. Auflage 2007_04; Engelsdorfer Verlag; ISBN-10: 3-86703-323-4
  • [6] Aus: < http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html?id=27163301&top=SPIEGEL> und < http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,400215,00.html> (Stand: 16.8.08)
  • [7] Donald D. Hoffman: "Intelligenz - Wie die Welt im Kopf entsteht" Klett-Cotta, Deutscher Taschenbuch Verlag.
  • [8] Am häufigsten werden bei Synästhesien durch akustische Eindrücke (Töne, Wörter) zugleich optische Erscheinungen (auch farbig: Farbenhören) miterregt oder es werden umgekehrt auch durch optische Wahrnehmungen zugleich sekundäre Gehörserlebnisse (Phonismen), akustische Eindrücke und Gefühlserlebnisse hervorrufen. Untersucht wurden inzwischen auch Verbindungen von Wörtern mit Geschmacksempfindungen und von Reihungen (z.B. Zahlen, Zeiteinteilung) mit Farbempfindungen.


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