Selbsterkenntnis und Eigensinn


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4.6 Objektivität

4 Wissen und Wahrheit?


Die Gesellschaft, in der ich lebe, hat sich seit Generationen eingeschworen auf ein materialistisches Weltbild. Das könnte ein Erbe der Zeit der Aufklärung sein - weg vom Mystizismus, mit der sich die Kirche ihre Macht erhalten wollte, hin zum Objektivismus der Wissenschaft. In seinem 2009 erschienen Buch "Realometer" stellt von Schlegell den Objektivismus der Aufklärung als Propaganda infrage. Während Edgar Allan Poe mit "The Great Balloon Hoax" ganz offensichtlich die Wirklichkeit manipulierte, konstruierte die Aufklärung die Illusion einer bestehenden, abgeschlossenen Wirklichkeit, eines Gegenstandes, der von außen neutral analysiert und bewertet werden konnte. Laut von Schlegell diente diese Darstellung - das "unsichtbare Buch" der Aufklärung - der Verhüllung der Wirklichkeit und wurde damit Teil einer ideologischen Operation.

Das Denkmodell des naiven Realismus legt uns nahe zu glauben: Wir Menschen stehen unserer Außenwelt als neutrale Beobachter gegenüber, und unsere Sinnesorgane bilden diese Außenwelt naturgetreu in unser Gehirn ab. Doch wir sehen von der Außenwelt nur einen außerordentlich beschränkten Ausschnitt. Die objektive Realität umfaßt zumindest mehr, als wir von ihr wahrnehmen können. Selbst das, was wir mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen können, nehmen wir nicht so wahr, wie es wirklich ist.

Auch der Anteil der objektiven Realität, den wir wahrnehmen können, ist mit dem Bild, das wir uns von ihm machen, nicht identisch. Was wir von unserer Außenwelt wahrnehmen, sind nicht Objekte, Bewegungen, Szenerien - diese entstehen erst in unserem Gehirn - sondern lediglich Lichtintensitäts- oder Schalldruck-Verteilungen, die von den Objekten herrühren.

Der Begriff "Realität" wird im allgemeinen auf die Außenwelt bzw. auf Ereignisse der Außenwelt bezogen. Die Außenwelt als Realität wird unabhängig vom Menschen (Beobachter) gesehen. Der Mensch kann die Außenwelt über seine Sinne wahrnehmen. Der Umgang mit der Umwelt umfaßt also nur eine Untermenge von Realitäten, eine eingeschränkte Realität, die Wirklichkeit, die den Sinnen zugänglich ist.

Es ist hier angebracht, eine (logische) Unterscheidung zwischen den Begriffen Realität und Wirklichkeit zu treffen. "Die Realität" das ist Alles, das Universum und der ganze Rest. Realitäten wirken teilweise auf Menschen ein. Doch nur dieser (kleine!) Teil Einwirkung von Realitäten auf den Menschen wird als Wirklichkeit erfahren. Diese Einwirkung von Realitäten geschieht über das Erleben von Ereignissen und deren physischer, psychischer und mentaler Verarbeitung. Ereignisse finden im Raum und nacheinanderfolgend im Sinne einer Ereigniskette (Geschehen) statt, d. h. sie sind Punkte einer vierdimensionalen Raumzeit. Diese Art von Ereignissen ist quantifizierbar. Sie betreffen die Physis.

Es stellt sich nun die Frage, ob es außerhalb der Raumzeit logische Bereiche gibt, in denen ein Geschehen definierbar ist bzw. ob es andere logische Bereiche gibt, die nicht physischer Art sind. Ereignisse betreffen nicht nur die Außenwelt; sie können sich auch als Ereignisse des psychischen Innenraumes manifestieren. Ereignisse des Innenlebens, wie z. B. Träume sind nicht quantifizierbar, da sie allein qualitativer Art sind.


Trotz der qualitativen Eigenschaften psychischer Erlebnisräume können die Ereignisse dieser Erlebnisräume die Außenwelt beeinflussen und somit quantifizierbare Auswirkungen haben (Beispiele hierfür sind Visionen, Träume und Vorstellungen). Es ergibt sich hier die Frage nach der Definierbarkeit "qualitativer Bereiche" außerhalb der Raumzeit.

Lange vor aller Neurobiologie skizziert Freud die Entstehung des Psychischen lapidar mit wenigen Federstrichen in einem Brief: "Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt. Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, daß das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt."

Unsere persönliche Realität, die Wirklichkeit, ist von unseren Erfahrungen geprägt und verändert so das Bild der äußeren Realität im persönlichen Bewußtsein. Unterschiede in wahrgenommenen Objekten sind also nicht unbedingt vorgegeben, sondern werden von uns selbst oder von dem Kreis, dem wir angehören, gesetzt, attribuiert. Gerade dies macht einen Kulturkreis, eine Nation, eine Partei, eine Familie aus, daß die ihr angehörenden Menschen bezüglich ihrer Erlebniswelten ganz bestimmte gemeinsamen Prioritäten setzen. Unsere persönliche Erlebniswelt wird in entscheidender Form geprägt durch Traditionen, kulturelle Einflüsse und durch individuelle Unterschiede.

Die zwingende Schlußfolgerung ist, daß wir die objektive Realität (bzw. das Bild des Ausschnitts von ihr, das uns die Sinne zeigen) im Gehirn interpretieren und wir erst dadurch unsere persönliche Realität schaffen. Ja, der radikale Konstruktivismus behauptet und beweist in allen von ihm bisher untersuchten Wissenschaftsgebieten, bisher unwiderlegt, daß unsere gesamte Erlebniswelt, die Wirklichkeit, vollständig vom Gehirn konstruiert wird, wobei die äußeren Sinneseindrücke lediglich
als Anregungen zu Hilfe genommen werden.

Was wir auch tun, wir arbeiten immer nur mit Wahrnehmungen von Objekten, nie mit den Objekten selbst. Dieses führt uns zu der vielleicht überraschenden, aber doch nicht widerlegbaren Feststellung, daß die objektive Realität etwas ist, was wir nie werden erkennen können, ja, wir können nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob es sie überhaupt gibt.
[1]

Damit sind wir bei einer Grundaussage östlicher und indianischer Philosophien angelangt, die als objektive Realität die Welt des Geistes ansehen, während die materielle Welt, die wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen, für sie nur eine vom Geist geschaffene Welt des Scheins darstellt. Dennoch, allein diese uns allen mehr oder weniger gemeinsame Formenwelt macht Kommunikation über unser äußeres Erleben erst möglich und erzeugt gleichzeitig in uns den Eindruck eines kollektiven Erlebens.

Es ist uns Menschen unmöglich zu beweisen, ob es den materiellen Kosmos überhaupt gäbe, wenn es keine Menschen gäbe, die ihn wahrnehmen und miteinander über ihn reden. Und auch unsere Meßinstrumente, als materielle Konstruktionen, bilden nur ab, was ihren Erbauern vorgegeben ist im Rahmen ihrer
zugelassenen Informationen, als einer ideellen Konstruktion, wie und was wahrzunehmen sei. Was kann man erkennen? Was kann man bezeugen? Und wie zuverlässig ist man dabei?

Stanislav Grof (* 1931 in Prag) ist ein Medizinphilosoph, Psychotherapeut und Psychiater. Er rief 1978 zusammen mit den Gründern des Esalen-Instituts, Michael Murphy und Richard Price die ITA (International Transpersonal Association) ins Leben und gilt als einer der Begründer der transpersonalen Psychologie. Er entwickelte zusammen mit seiner Frau Christina Grof die Technik des holotropen Atmens, die er aber immer als ungenügenden Ersatz für eine LSD-Therapie sah. Grof hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ungewöhnliche Bewusstseinszustände bzw. "Bewusstseinserweiterungen" – zunächst erzeugt durch Drogen, später durch Atemtechniken oder hervorgerufen durch psychische Erkrankungen (wie Psychosen) und in Ausnahmesituationen – zu erforschen.

Er schreibt
[2] "In »normalen« oder gewöhnlichen Bewußtseinszuständen erfahren wir uns selbst als innerhalb der Grenzen unseres physischen Körpers existierend (Körperbild). Die Wahmehmung der Umwelt wird durch die Reichweite der Sinnesorgane eingeschränkt. Sowohl unsere Innenwahrnehmung (Interozeption) als auch die Wahmehmung unserer Außenwelt (Exterozeption) bewegen sich innerhalb der gewöhnlichen räumlichen und zeitlichen Grenzen. Unter normalen Umständen können wir in lebendiger Weise und mit allen unseren Sinnen nur die Ereignisse im gegenwärtigen Augenblick und in unserer unmittelbaren Umgebung erfahren. Vergangene Ereignisse können wir uns wieder ins Gedächtnis rufen, zukünftige Ereignisse gibt es nur in unserer Vorahnung oder Phantasie, aber wir können weder die Vergangenheit noch die Zukunft unmittelbar erfahren. In transpersonalen Erlebnissen hingegen, wie sie sich in psychedelischen Sitzungen, in erfahrungsorientierter Selbsterforschung ohne Anwendung von Drogen, in Trancezuständen, Meditationen oder spontan einstellen können, scheinen eine oder mehrere der genannten Beschränkungen nicht mehr zu existieren.

Auf der Grundlage dieser Erörterungen lassen sich transpersonale Erfahrungen definieren als die erlebensmäßige Ausdehnung oder Erweiterung des Bewußtseins über die gewöhnlichen Grenzen des Körper-Ich sowie über die Beschränkungen von Raum und Zeit. Zu diesen Erfahrungen zählen die unterschiedlichsten Phänomene, die auf verschiedenen Realitätsebenen auftreten können. In einem gewissen Sinn umfaßt das gesamte Spektrum transpersonaler Erlebnisse die Existenz selber. Bevor ich weiter auf diese Art von Erfahrungen eingehe, möchte ich zwei neue Begriffe einführen, die ich später (S. 285 f) ausführlicher erklären und besprechen werde. Sie beziehen sich auf zwei einander ergänzende Formen des Bewußtseins, in denen wir uns selber und die Welt erfahren können.

Hylotropes oder materieorientiertes Bewußtsein ist der Begriff, den ich für die normale, alltägliche Erfahrung dessen anwende, was übereinstimmend als Realität aufgefaßt wird. Das holotrope Bewußtsein oder das Bewußtsein, das auf Ganzheit und Totalität der Existenz abzielt, charakterisiert bestimmte außergewöhnliche psychische Zustände, etwa meditative, mystische oder psychedelische Erfahrungen. Es läßt sich auch in vielen spontan auftretenden Erlebnissen beobachten, die von der gegenwärtigen Psychiatrie als psychotisch klassifiziert werden.

Im hylotropen Bewußtseinszustand erfahren wir lediglich einen sehr abgegrenzten und spezifischen Ausschnitt der phänomenalen Welt oder dessen. was übereinstimmend als Realität aufgefaßt wird. Diese Erfahrung schreitet von einem Augenblick zum nächsten fort. Art und Umfang dieses bruchstückhaften Erlebens von Realität sind eindeutig definiert durch unsere räumlichen und zeitlichen Koordinaten in der phänomenalen Welt, die anatomischen und physiologischen Beschränkungen unserer Sinnesorgane sowie die physischen Merkmale der Umgebung.

In einem holotropen Bewußtseinszustand kann man zusätzlich den Zugang zu allen übrigen Aspekten der Existenz gewinnen. Damit sind nicht nur die individuelle biologische, psychologische, soziale, rassische und spirituelle Vorgeschichte sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der gesamten phänomenalen Welt gemeint, sondern auch viele andere Bereiche und Ebenen der Realität, die von den großen mystischen Traditionen der Welt beschrieben worden sind. Ein wissenschaftlicher Vergleich der mystischen Schriften zeigt, daß sich die meisten Lehren dieser Art in einem komplexen und hierarchischen Schichtenmodell der Realität vereinigen lassen, das sowohl phänomenale als auch transpersonale Aspekte der Existenz einbezieht (Wilber 1980).

Der grobstoffliche Erfahrungsbereich umfaßt die Welt des Bewußtseins im normalen Wachzustand und die Realität, wie sie uns durch die Sinnesorgane vermittelt wird. Das entsprechende Weltbild und In-der-Welt-Sein beruhen ausschließlich auf Informationen, die vom physischen Körper und der materiellen Welt stammen, auf dem linearen Kausalitätsprinzip und auf der Newtonschen Auffassung von Zeit und Raum. Viele Systeme der philosophia perennis haben aber zusätzlich mehrere transpersonale Bereiche oder Ebenen der Existenz erkannt und erforscht, die gewöhnlich als die feinstoffliche, die kausale und die letzte oder absolute Ebene bezeichnet werden.

Transpersonale Erfahrungen haben viele eigentümliche Merkmale, die die fundamentalsten Annahmen der materialistischen Wissenschaft und des mechanistischen Weltbildes ins Wanken bringen. Forscher, die diese faszinierenden Phänomene ernsthaft untersucht bzw. sie selber erlebt haben, erkennen, daß die Versuche der traditionellen Psychiatrie, sie als irrelevante Phantasiegebilde oder Produkte pathologischer Gehimprozesse abzutun, oberflächlich und dem wahren Sachverhalt nicht angemessen sind. Jedes unvoreingenommene Studium des transpersonalen Bereichs in der Psyche muß zu der Schlußfolgerung führen, daß die dabei gemachten Beobachtungen eine Herausforderung des Kartesianisch-Newtonschen Paradigmas der westlichen Wissenschaft darstellen.

Transpersonale Erfahrungen stellen sich zwar beim einzelnen Menschen im Laufe einer tiefgehenden Selbsterforschung ein, doch lassen sie sich nicht einfach als innerpsychische Phänomene im konventionellen Sinn interpretieren. Zum einen bilden sie im Erleben ein durchgehendes Kontinuum mit biographischen und perinatalen Erfahrungen. Zum anderen scheinen sie unmittelbar - ohne Vermittlung der Sinnesorgane - Informationsquellen zu erschließen, die eindeutig außerhalb dessen liegen, was man herkömmlicherweise zum Individuum rechnet.

Berichte von Personen, die Episoden aus ihrer embryonalen Existenz, den Augenblick der Empfängnis und Elemente des Zell-, Gewebe- oder Organbewußtseins erlebt haben, enthalten eine Fülle richtiger Erkenntnisse über die anatomischen, physiologischen und biochemischen Aspekte der beteiligten Prozesse. Ebenso vermitteln Ahnen-Erfahrungen, rassische und kollektive Erinnerungen im Jungschen Sinn sowie Erinnerungen an frühere Inkamationen sehr spezifische Details über die Architektur, die Kleidung, die Waffen, die Kunst, die Sozialstruktur und die religiöse Praxis der betreffenden Kultur und Zeitepoche, ja sogar konkrete historische Ereignisse. Personen, die phylogenetische Erfahrungen gehabt oder sich mit existierenden anderen Lebensformen identifiziert haben, empfanden ihre Erlebnisse nicht nur als ungewöhnlich überzeugend und authentisch, sondern erwarben dabei auch außergewöhnliche Erkenntnisse über die Psyche der betreffenden Tiere, ihre besonderen Verhaltensweisen oder ihre spezifischen Fortpflanzungszyklen. In manchen Fällen liefen mit solchen Erlebnissen archaische. für Menschen nicht charakteristische Muskelinnervationen oder sogar komplexere Verhaltensweisen wie etwa ein Werbungstanz parallel.

Bei denjenigen, die sich mit Pflanzen oder Teilen von Pflanzen identifiziert haben. stellen sich gelegentlich bemerkenswerte Erkenntnisse über botanische Prozesse ein, etwa über die Samenkeimung, die Photosynthese in Blättern, die Rolle der Auxine im Wachstum einer Pflanze, den Wasser- und Mineralienaustausch in den Wurzeln oder die Bestäubung. Ebenso häufig ist die feste Überzeugung, die Existenz lebloser Materie oder anorganischer Prozesse angenommen zu haben, also zum Wasser des Ozeans, zu Feuer, zu einem Blitz, einem Vulkan, einem Tornado, zu Gold, zu einem Diamanten. zu Granit oder sogar zu Sternen, Galaxien, Atomen und Molekülen geworden zu sein. Auch diese Erfahrungen können manchmal neue und wichtige Informationen über verschiedene Aspekte der Natur vermitteln.

Die philosophische Herausforderung, die in den oben beschriebenen Beobachtungen steckt, ist an sich schon gewaltig. Sie wird aber noch weiter durch die Tatsache verstärkt, daß transpersonale Erfahrungen, die die materielle Welt korrekt widerspiegeln, offenbar auf dem selben Kontinuum wie solche Erfahrungen liegen bzw. mit Erfahrungen engstens verknüpft sind, deren Inhalt gemäß dem westlichen Weltbild nicht Teil der objektiven Realität ist. In diesem Zusammenhang könnten wir die Jungschen Archetypen anführen, die Welt der Gottheiten, Dämonen, Halbgötter und Überhelden sowie die komplexen Handlungsabläufe aus Mythos, Legende und Märchen."


Diese Erfahrungen kann jeder Mensch machen, der sich einläßt auf die vielen Techniken, die im Laufe der Menschheitsgeschichte von den verschiedensten Kulturen entwickelt wurden oder wie sie die Grofs und die vielen von ihnen Ausgebildeten mit dem holotropen Atmen anbieten. Wir sollten also zurückhaltend sein, wenn wir schulmäßige Psychologen und Psychiater von ihren abschließenden wissenschaftlichen Erkenntnissen sprechen hören, solange ihre Schulen nicht die seit hundert Jahren immer weiter vertieften und verbreiterten Erkenntnisse der Quantenphysik über die zugleich teilchenhafte und wellenhafte Existenz des Universums einbeziehen.

William James, der Vater der amerikanischen experimentellen Psychologie, schrieb 1890 "Bis vor wenigen Jahren nahmen die Philosophen an, daß es einen typischen menschlichen Verstand gebe, dem der eines jeden einzelnen Menschen ähnele (...). Seit jüngster Zeit jedoch hat sich eine Fülle von Erkenntnissen ergeben, die uns zeigen, wie falsch diese Ansicht ist."

Heute, 113 Jahre und zahllose Experimente von Psychologen, Neurologen und Neurobiologen weiter, ist es sicher, das jeder einzelne menschliche Verstand seine ganz eigene Art und Weise besitzt, die Welt wahrzunehmen. Besonders ungewöhnlich und besonders eindrucksvoll ist das am Beispiel von Synästhetikern
[3] zu finden [4]. Schließlich leben so alle Neugeborenen, 30 bis 50 Prozent der Kinder und jeder 2000. Erwachsene [5].

Patrizia Duffy schreibt über die erste Konfrontation ihrer Fähigkeit mit der Umwelt:

"Die Bestürzung meines Vaters steigerte sich noch, als er erfuhr, daß seine Tochter nicht nur farbige Buchstaben sah, sondern auch farbige Zahlen, und daß sie sogar Zeit als etwas Farbiges wahrnahm: Eine Woche war ein bunter Gehsteig, der mit sieben quadratischen Platten - einer für jeden Tag - gepflastert war, und ein Jahr stellte sich mir als eine langgestreckte Kette von zwölf bunten Rechtecken dar. Mein Vater war über meine Schilderungen überrascht, und ich war überrascht über seine Überraschung. Für mich war es einer dieser Momente im Prozeß des Erwachsenwerdens, in dem man eine Ahnung davon erhält, daß die Welt möglicherweise nicht so ist, wie man sie bislang wahrzunehmen gelernt hat. Es war ein Moment, in dem die grundlegendste aller Fragen, die Frage, die Menschen gesellschaftlich miteinander verbindet - "Siehst du das, was ich sehe?" - in einem luftleeren Raum zu schweben und keinerlei Bezug auf gemeinsam Erfahrenes zu nehmen schien.
Ich fühlte mich auf einmal auf einer eigenen privaten Insel von marineblauen Cs, dunkelbraunen Ds, grünfunkelnden Siebenen und weinroten Vs ausgesetzt. Ich fragte mich, was ich sonst noch anders als der Rest der Welt sah. Was sah der Rest der Welt, das ich nicht sah? Mir kam der Gedanke, daß vielleicht jeder Mensch auf der Welt irgendeine kleine merkwürdige Eigenschaft hinsichtlich seiner Wahrnehmung besaß, deren er sich nicht bewußt war und die ihn auf seine private Insel verbannte und ihn auf mysteriöse Weise von allen anderen abtrennte. Und ganz plötzlich überkam mich das Schwindel erregende Gefühl, daß es viele dieser privaten Inseln geben könnte.
Einige Leute haben mich gefragt, warum ich meine farbigen Wörter als Kind niemandem gegenüber erwähnt habe. Es kam mir eben nie in den Sinn, über sie zu sprechen. Sie waren einfach Teil der Welt, die zu entdecken ich im Begriff war. In jenem Alter verwoben sich verschiedene Vorkommnisse unauflösbar miteinander, um sich zu einem einzigen Gebilde gelebter Erfahrung zusammenzufügen. Ich kam nie auf den Gedanken, dieses Gebilde aufzulösen und die Muster, die ich wahrnahm, zu beschreiben, so als ob sie etwas Ungewöhnliches wären."

Und aus dem Erwachsenenleben berichtet Duffy:

"Im Leben hängt so viel von der Frage ab: "Siehst Du das, was ich sehe?" Carol und ich sitzen zusammen in ihrem Loft in Downtown Manhattan und streiten bei einer Tasse Bancha-Tee über die Farbe des Buchstabens L. Wir sind uns über die Farben vieler Buchstaben uneins, doch ihr Beharren darauf, daß das L schwarz mit blauen Schattierungen sei, kommt mir besonders absurd vor, denn ich sehe das wirklich komplett anders. "Schwarz mit blauen Schattierungen ist die Farbe, die Veronicas Haar in den Archie-Comics hat", sage ich. "Aber es ist nicht die Farbe von L. L kann doch ganz klar nur von einem äußerst blassen, äußerst zarten Gelb sein." "Ganz klar ist nur, daß dein L Vitamine braucht", entgegnet Carol daraufhin.
Und ganz klar ist, daß irgend etwas in jedem von uns will, daß die spezifische Art und Weise, in der wir die Welt färben, dominiert. Mein Streit mit Carol über die Farbe des Buchstabens L scheint diese allgemein menschliche Tendenz auf eine etwas ungewöhnliche Weise deutlich zu machen.
Bei unseren Treffen zanken Carol und ich uns immer, um gleich darauf gemeinsam zu kichern, denn es bedeutet eine große Erleichterung, mit jemandem zusammenzusitzen, der sagen kann: "ja, ich sehe das, was du siehst, wenn du es auch in der falschen Farbe siehst".
Für jeden von uns Menschen hängt unendlich viel von der Frage ab: "Siehst du das, was ich sehe?" Es ist die fundamentalste aller Fragen, die Menschen gesellschaftlich zusammenschmiedet. Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für sehr viele verschiedene Dinge in unserem Leben: dafür, für wie gesund in geistiger Hinsicht man uns erachtet, aber auch dafür, wer die anderen Menschen sein werden, die für uns von Bedeutung sind, unsere Freunde fürs Leben, unsere Verbündeten am Arbeitsplatz, unsere Ehepartner. Die Leute sehen es im Allgemeinen als gegeben an, daß die meisten anderen Menschen, die es auf der Welt gibt, das sehen, was sie selbst sehen. Für einen Synästhetiker - einleuchtend, aber gilt das nicht in gewisser Hinsicht für jeden Menschen - ist die Sachlage viel komplizierter.
Es sind nicht nur die farbigen Buchstaben, die ein Band zwischen Carol und mir schmieden. Es ist das lebenslange Gefühl, daß zwischen unseren Wahrnehmungen und denen des ganzen Restes der Menschheit eine unerklärliche Lücke klafft. Es ist die Erfahrung und das Empfinden, einer Minderheit anzugehören, was diese Wahrnehmungen betrifft, Wahrnehmungen, die von der Welt im Allgemeinen nicht anerkannt werden. Es ist das dadurch entstehende dringende Bedürfnis, der eigenen Sicht der Dinge Ausdruck zu verleihen und sich mit anderen zu verbinden, die dasselbe sehen oder bereit sind, es sich anzuschauen."


Jedes Mal, wenn wir etwas Neues lernen, wird das neue Wissens-Territorium
da draußen angeschlossen an den bereits existierenden Korpus des Wissens, den wir in uns haben, weil irgendein Aspekt des Wissens oder die Art und Weise, in der es repräsentiert wird, als Brücke zu fungieren vermag. Das kann für den einen der Klang eines Wortes sein, für den anderen der Geruch im Zimmer beim Lesen oder die Härte des Sitzes beim Lernen. Alle diese Brücken bleiben mit dem Begriff verbunden.

Es mag schon sehr eigentümlich erscheinen, doch einige kürzlich angestellte linguistische Untersuchungen haben ergeben, daß der neurale Prozeß, mit dem wir Sprache speichern, in höchstem Maße persönlich ist. Francis Crick, der Mitentdecker der Doppelhelixstruktur von DNA, hat auch Untersuchungen durchgeführt, die darauf hinweisen, daß die Art und Weise, in der jeder von uns Sprache codiert, so einzigartig und unverwechselbar ist wie seine oder ihre Fingerabdrücke. Jeder Einzelne von uns besitzt ein eigenes neurales Schema, das seiner oder ihrer Sprachfähigkeit zugrunde liegt.

Mit Hilfe ihrer Untersuchungen von Hirnaktivität während der Verwendung von Sprache haben Dr. Crick und sein Team am Salk Institute in La Jolla, Kalifornien, herausgefunden, daß verschiedene Aspekte von Sprache in verschiedenen Regionen des Gehirns weiterverarbeitet werden. Im Unterschied zu dem, was man bislang annahm, gibt es kein allein zuständiges Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte, das aktiviert wird, wenn man Wörter hört, spricht oder an sie denkt, sondern vielmehr werden eine Reihe verschiedener Zentren, die über den visuellen und den auditiven Cortex verteilt sind, zugleich aktiviert, und die Informationen aus jedem dieser Zentren verbinden sich, um die persönliche Gesamtbedeutung des Wortes mit allen relevanten Implikationen zu bilden.

Man muß unbedingt der Tatsache eingedenk bleiben, daß das neurale Muster linguistischen Speicherns eines jeden Einzelnen von uns einzigartig und einmalig ist und in keinem anderen menschlichen Gehirn noch einmal vorkommt. Und das, was für den Spracherwerb gefunden wurde, dürfte analog für jeden Wissenserwerb und alle Erinnerungen gelten. So wie jeder Mensch für die Welt einmalig aussieht, so sieht er auch einmalig in die Welt hinein. Einen Menschen wie Sie gab es nie vorher und wird es später nie wieder geben.

Wenn wir begreifen, daß unsere Realität nur so real ist, wie wir sie zu erkennen vermögen, dann brauchen wir nicht mehr vor der wachsenden Unübersichtlichkeit dieser Welt zu verzweifeln. Sie ist nur ein Spiegel unseres eigenen Bewußtseinsstandes. Durch die persönlichen Lernprozesse kann jeder von uns beginnen, seine eigene Realität wieder als einfach zu erkennen und damit ein Ziel seiner irdischen Existenz zu erlangen.

Oder, einfacher und alltäglicher, ich finde zurück zu Muße. Was wir alle in Kindertagen konnten: den Geschmack der Unwiederholbarkeit jedes Moments genießen, sich davon ergreifen lassen, zweckfrei, lustvoll, mitfühlend und beherzt. Und, was ich als Kind schon heimlich über die Erwachsenen dachte, aber mich nie traute, es laut zu sagen, jetzt ist es wissenschaftlich erwiesen - Objektivität ist nichts als eine Bewußtseinsstörung.


  • [1] Grazyna Fosar, Franz Bludau: "Der kosmische Mensch - Ein Weg zum Denken zu kommen"; Frankfurt; 3. Aufl., 1997
  • [2] Stanislav Grof "Das Abenteuer der Selbstentdeckung - Heilung durch veränderte Bewußtseinzuständ"; 1987; München, Kösel
  • [3] Synästhesie : die (Mit-)Erregung eines Sinnesorgans durch einen nicht spezifischen Reiz, die zu gleichzeitigem Erleben verschiedener Sinneseindrücke bei Reizung von nur einem Sinnesorgan führt
  • [4] z.B. von Patrizia Duffy: " Jeder blaue Buchstabe duftet nach Zimt - Wie Synästhetiker die Welt erleben"; deutsch: München, 2003
  • [5] Audio-CD: IST MEIN BLAU DEIN BLAU? mit Hinderk M. Emrich; www.suppose.de/texte/emrich.html - Neurophilosophische Überlegungen zur Synästhesie mit Hinderk M. Emrich Konzeption und Regie: Klaus Sander, Anja Theismann Erzähler: Hinderk M. Emrich, ...
  • oder auch in http://www.synaesthesiewerkstatt.de/synaesthesie.htm



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