Selbsterkenntnis und Eigensinn


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4.14 Entscheidung

4 Wissen und Wahrheit?


Was meint "Entscheidung"? Wilhelm Wundt, der Begründer der deutschen experimentellen Psychologie, definierte zu Ende des 19. Jahrhunderts:
"Den der Handlung unmittelbar vorausgehenden psychischen Vorgang des mehr oder weniger plötzlichen Herrschendwerdens des entscheidenden Motivs nennen wir bei den Willkürhandlungen im allgemeinen die Entscheidung, bei den Wahlhandlungen die Entschließung. Hier weist das erste Wort nur auf die Scheidung des herrschenden von den andern Motiven hin, während das zweite durch seinen Zusammenhang mit dem Zeitwort 'schließen' andeutet, daß der Vorgang als ein Endergebnis aus mehreren Vorbedingungen betrachtet wird. Abzuweisen ist die Ansicht, als ob die Willensentschließung ein logischer Schlußproceß oder dergleichen sei. Entscheidung und Entschließung sind von Gefühlen begleitet."

Es gibt prinzipiell entscheidbare und prinzipiell unentscheidbare Fragen. Bei den entscheidbaren entscheide ich ja nicht wirklich. Ich muß nur in einem logischen Netz nach dessen Regeln mich entschließen, von einem Knoten über das nächste logische Verbindungsglied zum nächsten Knoten zu gehen bis zur Antwort. Die Schlußfolgerungen in der Logik der Regel führt mein Handeln zur Antwort. Genau nur das leistete der Schachcomputer "Deep Blue", der den Schachweltmeister Kasparow bezwang. Bei den unentscheidbaren Fragen fehlt solche Regel - oder es gibt zusätzlich eine Regel II. Ordnung, also eine Regel, die die Logik der Regeln I. Ordnung nach jeder Anwendung verändert und die deshalb in die Unwißbarkeit führt. Da werde ich das herrschende von den andern Motiven scheiden.

Die Frage nach dem Ursprung der Welt hat eine "Urknall-Antwort", eine "Schöpfungs-Antwort" und die der vielen Mythen vieler Völker. Oder: Für die europäisch-christliche Frage nach der Transsubstantiation oder Konsubstantiation (Brot und Wein im Abendmahl
sind bzw. bedeuten Leib und Blut Christi) haben wohl über eine Million Menschen ihr Leben gegeben, um entweder ihre Entscheidung bezüglich der Frage nicht aufzugeben oder sie anderen aufzuzwingen.

Nur die Fragen, die
prinzipiell nicht entscheidbar sind, fordern echtes Entscheiden. Da müssen wir an der Wegekreuzung wählen, entweder rechts oder aber links oder aber geradeaus zu gehen - ohne zu wissen, wie wir damit unsere Zukunft verzweigen. Es ist nämlich so, daß die Verwirklichung eines Werts unvermeidlich einen anderen Wert verwirkt - und damit dessen Wachhund auf den Plan ruft. Mit meiner Wahl für die eine Möglichkeit habe ich mich gegen alle meine anderen Möglichkeiten entschieden. Das ist wie es ist - bis es anders ist.

Der Mensch ist frei, so zu entscheiden, wie er entscheiden will, oder, mit seiner Entscheidung der Mensch zu sein, der er sein will. Aber mit dieser Freiheit fällt mit den Entscheidungen auch die Verantwortung auf jeden Einzelnen und damit ist der Weg der Ethik betreten worden. Jean Paul Sartre beschrieb das als die Kaffeehausszene: Der Kellner spielt die Kellnerrolle mit Distanz, geht also nicht voll im Kellner-Sein auf. Ganz im Gegensatz zur Kaffeetasse. Wie alle Dinge sei sie das, was sie sei, sagt der Philosoph. Diese Distanz macht das menschliche Bewußtsein aus. Und das verleiht dem Menschen Freiheit. Oder bürdet sie ihm auf, denn Freiheit wird nicht nur im positiven Sinne erlebt.

Die Freiheit, sich immer wieder neu entscheiden zu können, bringt die volle Verantwortung für den Entscheider mit sich, selbständig zu denken, eine eigene, bewußte Haltung einzunehmen - oder eben auch nicht. Wer hinsichtlich der Lebensfragen eine starre Identität entwickelt, zum Beispiel sich nur gesellschaftlich determiniert sehen will, zum Beispiel sein ganzes Leben lang in jeder Sekunde Kellner bleibt, wird dinghaft, ähnelt in gewisser Hinsicht der Kaffeetasse, die immer bleibt, was sie ist. Diese Dinghaftigkeit macht unfrei. Darum die Slogans der Freundschaft-mit-Kindern-Leute: "Erziehung? Nein, danke!" Wohl statt dessen: "Unterstützen statt erziehen". Denn, tatsächlich, ich kann nur für mich selbst verantwortlich sein.

Nur ich bin für mich verantwortlich, durch Handeln antwortend auf meine Wahr- und Wahnnehmung dieses Stroms von Situationen, meine Wahrheit.

Sicher habe ich meinen Kindern, als sie klein waren, gelegentlich Dinge aus der Hand genommen. Ich hatte ja einige Jahrzehnte Erfahrungsvorsprung, hielt mich für besser informiert über unseren Alltag, war stärker und länger als sie. Sie konnten nicht ihr Fläschchen warm machen. Die Handlungskompetenz lag teilweise bei mir. Die Entscheidungskompetenz, z.B. wann es Zeit für das Fläschchen sei, hatten sie. Natürlich habe ich mich nur zu oft über ihren Willen hinweggesetzt, weil es mir anders in den Kram paßte, weil ich Angst hatte, weil ich zu arrogant in meinem Erwachsenenwillen vor ihrem stand, weil ich es aus Gewohnheit anders für richtig hielt, weil ich sie schützen wollte, aber meistens wohl wissend, so entscheide ich meinetwegen, zu meinem Besten, als Antwort auf meine Wahrnehmung dieses Stroms von Situationen. Und, natürlich, ich hatte Lust, zu meiner Autorität zu stehen und auch, mich an dem Widerstand meiner Kinder zu reiben
und, anders gesehen, mich an der Kraft meiner Kinder in ihrem Widerstand zu freuen - wie gehe ich mit Autorität um und wie lebe ich sie ihnen vor.

Nur für mich kann ich verantwortlich sein, durch Handeln antwortend auf
meine Wahr- und Wahnnehmung dieses Stroms von Situationen, meine Wahrheit. Bestenfalls unterstützen kann ich Dich, und auch nur mit meinen Wahnheiten unterstützen bei Deinem Entscheiden und Antworten in Deinem Leben. Natürlich liegt mir das Wohl meiner Lieben am Herzen und ich mache alle Anstrengungen, damit es ihnen wohl ergehe. Ich will Schönheit und Ordnung in meinem Universum. Darin enthalten sind auch meine Lieben. Doch das tue ich meinetwegen, um meiner Freude willen an ihrem Wohlergehen. Diese Freude ist meine Angelegenheit. Mein Glücklich-Sein ist verbunden mit dem Glücklich-Sein der Anderen. "Meine volle Menschlichkeit realisiert sich erst in der menschlichen Gemeinschaft, im Wir - ohne Herrschaft". - Resonanz der Wellenpakete.

Einzig in meinen Kopf kann ich, mühsam genug, reinschauen. Ich kann nur wissen, was zu meinem Besten ist - in meiner Selbstverantwortung und meinem Entscheiden. Ich kann nicht wissen, was ich Dir unschuldigerweise weitergebe an Verwirrungen, Urteilen, Ansichtsweisen. Ich weiß inzwischen nur: Bei allem, was nichts mit Liebe zu tun hat, da bin ich verwirrt. Wie Du meine Unterstützung auffaßt, als Hilfe oder Übergriff, ob Du sie annimmst oder ablehnst, das steht in Deiner Selbstverantwortung und Deinem Entscheiden.

Das Wellenpaket moduliert die Resonanz, in der es mit allen anderen verbunden ist. Und es läßt sich modulieren. In unvorhersagbarer Weise springen die Impulse von einer Ebene zur anderen, vielleicht nach statistischem Zufall, in freiem Willen. Anders als eine triviale Maschine ist diese nichttriviale 'Maschine'
[1], bin ich, nach jeder Entscheidung eine andere 'Maschine'. Freier Wille! Wer weiß, was ich als nächstes tue?

Will ich selber wollen? Will ich geschoben werden? Träum ich davon, zum Wollen-Dürfen die Erlaubnis zu kriegen? Will ich die vielen Möglichkeiten einer Situation sehen, Chancen und Schwierigkeiten, oder will ich es beim Suchen von Schwierigkeiten bewenden lassen, mich als 'Bedenkenträger' profilieren? Will ich mich in der Vielfalt der Möglichkeiten verirren, nur die Rezepte lesen und ihre Zutaten kaufen, aber nie ein ganzes Menü kochen
und es dann auch genießen? Will ich vor dem Risiko in Lähmung verfallen oder mich davon anspornen lassen? Will ich mein Bewußtsein bestimmt sehen von der Gesellschaft (welchen ihrer Teile?) oder als gleichwertig mit dem meiner Mitgesellen? Freier Wille, alles meine Entscheidungen, auch da, wo ich "in Dienst genommen" werde von größeren Kräften.[2]

Die Gedanken sind so stark im Kopf, daß die Welt sie reflektiert. Der Kopf ist ein mächtiger Projektor. Das Wort 'Projektor' meine ich im weitesten Sinne, sowohl als Projektion (psychoanalytisch: Mich stört diese Verhaltensweise, weil ich sie an mir selbst nicht leiden kann) als auch im Sinne von Übertragung (Ich kritisiere an Dir, was ich früher in anderen Situationen erlebt habe). Die Welt zu verändern wird verblüffend einfach, wenn ich die Dias in dem einen Projektor verändere, allein in meinem Kopf.
Für manche Menschen, die sich verbunden haben mit der Vorstellung, sie seien Opfer, seien Abhängige der Verhältnisse um sie herum, erzeugt dieser Gedanke nur Ablehnung, ja, Wut - und die Wut macht sie wieder zu Tätern. Ohne das 'Dias schieben' zu erüben, werden sie nie erfahren, ob es zu ihrer Wut sinnvolle Alternativen gibt. Da ist sie wieder: Die Unwissenheit der II. Ordnung.



  • [1] zu "nichttriviale Maschine" siehe Abschn. 5.2 Systeme
  • [2] Viele Kulturkreise legen besonderen Wert auf die Verbindung der Lebenden zu ihren Ahnen. Erstaunliche Veränderungen ereignen sich in den Beziehungen zwischen Familienmitgliedern, wenn einer von ihnen in einer Familienaufstellung nach Hellinger die Taten eines Ahns von Herzen gewürdigt hat. Und es gibt viele Wege zu solchen von außen betrachtet verblüffenden Kontakten



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