Hauptmenü
3 Fragen und Antworten
Ein Beispiel für meine "Teilchen-Variante" ist eine Mitteilung in der amication-mailinglist, die mich sehr bewegt hatte, genauer, was darin als Schrei in meinem Ohr geklungen hat und zum Anla für die Anfänge dieses Textes wurde: "Ich bin enttäuscht! Ich hab 15 Jahre mit einem Unhold gelebt! Ich bin ja so dumm!" Unabhängig von dieser realen Person ist das ein allgemeingültiges Ereignis von Schmerz, Wut, Verwirrung.
Ich habe solche Ereignisse von Schmerz, Wut, Verwirrung so oft erlebt, bei mir und bei anderen. Nachträglich bin ich dankbar dafür! Hat doch dieses Erleben den Schmerz, die Angst und Wut, die Verwirrung, die ich vormals erlebt habe, nun ganz neu fruchtbar gemacht. Das Bewutmachen diesen Erlebens war erstens hilfreich und befreiend für mich im Alltag und zum anderen nützlich für mein immer tieferes Verständnis meiner Sicht von Selbstverantwortung, der Idee Amication.
Diese Idee eröffnet eine alle Lebensbereiche umfassende spezielle - postmoderne, postpatriarchalische und postpädagogische - Weltsicht. Ihr Fachausdruck heute ist "Amication". Amication ist abgeleitet vom lateinischen "amicus" (Freund) und drückt das zentrale Element dieser Weltsicht aus: Die freundliche Beziehung des Menschen zu sich selbst, zum anderen und zur Welt. Diese Idee entstand aus der Verbindung von Ideen der weltweiten Bürgerrechtsbewegung, hier als Kinderrechtsbewegung, der daraus folgenden Antipädagogik [1] und der aus beidem folgenden Psychodynamik.
Um diese Idee herum haben Hubertus von Schoenebeck und ich 1978 einen Verein [2] mitgegründet. Der breitet sich heute aus bis in die Nachbarländer von Deutschland, zur Unterstützung der Menschen, die in dieser Weltsicht ihr Leben führen wollen - ihre Beziehung zu sich selbst und zu ihren Mit-Menschen, insbesondere zu jungen Menschen. In Polen gehört diese Weltsicht inzwischen zum Prüfungsstoff der Pädagogikstudenten.
Kann man eine Weltsicht lernen, eine freundliche Beziehung, solches Bewusstmachen? Das geht wohl nicht wie Vokabeln lernen. Es geht nicht um Fortschritte. Ich verwässere mir die Schönheit des Lernens nicht durch das Haften an Zielen. Ich übe einfach um des Übens willen, mit Leidenschaft und ohne Motiv. Es kommt erstmal darauf an zu sehen, wie ich in meinem Alltag wirklich lebe. Solange ich das nicht klar sehe, bleibt die Frage nach einem amicativen Leben spekulativ. Mit "klar" meine ich, dass ich unmittelbar, d.h. ohne zu bewerten, weder beschuldigen noch beschönigen, erfasse, weshalb ich so lebe, wie ich lebe.
Hinsehen und alles Sinnlose und Unwahre wegräumen ist wichtiger, als ein Leben lang nach dem Wahren und Sinnvollen zu streben. Wenn ich mich einer Sache ernsthaft widme und durch Üben immer tiefer eindringe, werde ich vielleicht Augenblicke der Befreiung erleben. Das sind flüchtige Nebensächlichkeiten. Befreiung ist nicht das Ziel. Befreiung ist das Üben in diesem Augenblick, in allem, was ich tue. [3]
In einem Artikel über 'Gedichte im Deutschunterricht' fand ich vom siebenjährigen Adi, zu Schulbeginn kaum der deutschen Sprache mächtig:
Ich pflückte eine Blume,
kletterte auf einen Baum,
band die Blume fest an den
Baum und ging weg
Am nächsten Morgen
blühte der ganze Baum.
Und von einem Mädchen einer vierten Klasse:
Ich schreie laut und weine
Dicke Tränen sie laufen
Meine Backen hinunter
Sie kitzeln mich
Das tröstet mich ein wenig
Doch dann treffen die Tränen
meinen Mund
ich schlucke sie runter
Und alles geht von vorne los!
Wie lange will ich dieses Spiel mit den kleinen Tröstungen weitertreiben, wo doch damit alles immer wieder von vorne losgeht? Wann endlich will ich aufhören, an den Symptomen und Tröstungen zu werkeln, und wann beginnen, mich auf den Kern einzulassen, auf meine Wahrheit?
Eine Neu-Orientierung unserer Aufmerksamkeit hätte eine Wieder-Orientierung auf die Welt zur Folge. In seinem Bestseller "Flow. Das Geheimnis des Glücks", in dem der Bewusstseinszustand glückseligen Integriertseins erforscht wird, der durch völliges Vertieftsein in eine sinnvolle Aufgabe entsteht, schreibt der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi: "Die Form und der Inhalt des Lebens hängen davon ab, auf welche Weise Aufmerksamkeit aufgebracht worden ist. Ganz andersgeartete Realitäten werden zum Vorschein kommen, je nachdem wie sie eingesetzt wird".
Vielleicht ist das der Grund dafür, dass der amerikanische Schriftsteller William Carlos Williams immer einen Block mit sich herumtrug, auf dessen Deckblatt er geschrieben hatte: "Dinge, welche mir bis heute entgangen waren und die ich heute bemerkt habe". Sich solche Notizen zu machen war für Williams eine Methode, seine Aufmerksamkeit zu kultivieren, zu vergrößern und neu auszurichten, und zwar auf die Außenwelt wie auf die Innenwelt, was sicherlich eine Vorbedingung für Poesie ist.
Unterschiedliche Kulturen haben erkannt, wie wichtig es ist, die Kunst des Aufmerksamseins zu entwickeln, um so den Grundstock unserer Erfahrungen zu erweitern. Deswegen haben sie eine Vielfalt von Ritualen und Übungen ausgebildet, vom Meditieren, Betreiben bestimmter Kampfsportarten und zeremonieller Teezubereitung bei den Japanern bis hin zum Betrachten eines Gartens bei den Chinesen und das Durchwandern eines Labyrinths bei den Europäern. Das sind alles Systeme, die dazu entwickelt wurden, um unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu fokussieren und neu auszurichten, so dass wir Aspekte der Realität wahrzunehmen vermögen, die uns vorher möglicherweise entgangen sind.
Jeder von uns fertigt sich seinen eigenen Plan von der Realität an, hat eine eigene Methode, sein Wissen zu kodieren, die sich von der jedes anderen Menschen auf der Welt unterscheidet. Doch einiges von dem, was wir codieren, bleibt unserem Blick verborgen, es schwebt irgendwo schattenhaft am Rand unseres Bewusstseins. Wenn wir die normalerweise "lauten" Partien unseres Verstandes dämpfen und unsere Aufmerksamkeit auf die verschatteten, ruhigeren Regionen des Geistes lenken, vernehmen wir vielleicht den für gewöhnlich nicht gehörten "Gesang" unseres persönlichen und uns ganz und gar eigenen Codes, einen Gesang, der die Berührung durch unsere Aufmerksamkeit braucht, damit seine Lautstärke zunimmt.
Vielleicht hatte Rumi, der islamische Sufi-Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, eine solche Art des Beachtens im Sinn, als er schrieb:
Im Namen dieses Ortes,
Den wir atmend trinken, bleibt still wie eine Blume,
Dass die Nachtvögel ihren Gesang beginnen.