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9 Eigensinn
Mir klingen die Bilder der Pfadarbeit alle sehr schlüssig. Für mich ist es hilfreich und auch nützlich im Alltag. Aber es bleiben große Fragen noch offen: Warum kommt das Höhere Selbst , so wie es die Pfadarbeit sieht, schon abgetrennt, beschichtet in diese Welt, was ist daran gut, was böse? Was ist das Böse? Wie paßt das neben: Die ENERGIE, intelligent und liebevoll, unteilbar, im Fließen. Vielfalt, sich selbst im Gegenüber erkennend. Grundsätzliche Richtung: Hin zur AllEinheit. Aus gutem Grund und mit aller Konsequenz. Eine unendliche Kette von Geschöpfen und Schöpfern.
Könnte es sein, daß ich die Energie in meinem Kopf in einem Konzept fest stecke und ich das, statt es zu untersuchen, glaube? Dann halte ich fest in meiner Ignoranz. Dann erlebe ich Gefühle wie Wut, Zorn, Haß, Neid, Eifersucht - und aus diesen Gefühlen heraus handele ich: so entsteht das auch, was wir als das "Böse" bezeichnen, weil die Konsequenzen unangenehm, "negativ" sind.
Das Wort 'böse' läßt mich in diesem Satz nicht los. Das hat ja schon in der Alltagssprache ein verwirrende Tradition: Wie oft hab ich den Satz gehört, an mich gerichtet oder an andere Kinder: "Hör damit sofort auf, sonst machst Du Mama ganz böse".
Mama, mein Zentralsozialpartner, die Einzige, die Geliebte, diese Lichtgestalt kündigt ernsthaft an, daß sie aus der Lichtwelt hinüberwechseln wird ins Reich der Dunkelheit; das Böse tritt in den Raum. - Und sie will das ja gar nicht; ich sei Schuld, sei die Ursache und Anlaß.
Welche Macht habe ich da. Gleich wird sie mich ohrfeigen, prügeln, verächtlich machen - und so geschieht doch, wonach ich mich sehne: Wir kommen in Kontakt, wenn auch etwas auf die perverse Art.
Man könnte einwenden 'böse", das ist doch nur eine volkstümliche Redensart. Nein, diese Menschen waren oft religiös oder philosophisch gebildet. "Das Böse" war für sie ein bekannter und breit fundierter Begriff. Jeden Sonntag beten sie "... und erlöse uns von dem Bösen ...".
"Das Böse" tritt in den Raum - und ich hätte es gerufen, sagt sie. Also scheine ich natürlicherweise in einer besonderen Verbindung mit "dem Bösen". Denn was da verlangt wird von mir im "hör sofort damit auf", das ist eine Forderung, gegen die sich alles in mir sträubt - ich tu doch mein Bestes. Ist das die Erbsünde/Ursünde, von der der alte Mann in dem schwarzen Kleid in der Kirche redet?
Anders gewendet, wenn ich 'böse' tatsächlich nur als volkstümliche Umschreibung nähme, was umschreibt es an Glaubenssätzen?
Statt dessen sagte sie und tausende von Müttern bis heute "Hör auf, sonst machst Du Mama ganz böse". Kommt daher der Geschmack des Wortes? Mein Verstand gibt den Einwand, das sind alles mythologische Formeln, und, Das Böse ist ein Konstrukt, das man religionspsychologisch und soziologisch erklären kann. Aber kann man es auch so erfinden? Wer weiß es wirklich?
Wenn Menschen in Angst sind, wollen sie um so mehr Sicherheit. Also sehen sie sich von diesem Druck gezwungen, aggressiv zu handeln. Das finden die Anderen meist nicht gut und nennen das böse. Ich glaube, Menschen können sich so in Angst zusammenziehen, das kaum eine Spur von Liebe noch an ihnen offenbar wird. Wenn die ausrasten, wird es fürchterlich. Und dann wird das nicht nur "böse" genannt, dann glauben wir an das Böse im Menschen und finden die Beweise. Die Böses finden, finden das als den Unterschied zum Guten in ihrem System zu fühlen und zu denken. Beruht ihr System auf Neugier, ausdehnender Liebe, dann ist Gut und Böse anders als dann, wenn ihr System auf zusammenziehender Angst beruht.
Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen" ist keine Charakterstudie, sondern weist auf eine systemische Verkettung aller derjenigen, die sich strikt weigerten, Verantwortung zu übernehmen. Diese Verkettung trat an die Stelle zerstörter zwischenmenschlicher Beziehungen. Innerhalb ihres reibungslosen Funktionierens waren die traditionellen moralischen Haltungen und Normen nur noch Wechselmarken. Auch der Antisemitismus wurde transformiert. Neben das subjektive Ressentiment trat zunehmend und beherrschend der Zwang der "Notwendigkeit", der sich durch Erfahrung nicht mehr irritieren lässt und den Arendt mit einem Satz Kafkas auf den Punkt bringt: "Du brauchst es nicht für wahr zu halten, nur einzusehen, dass es notwendig ist. Darauf Kafka: Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht."
Arendt stellt fest, dass die Maßstäbe eines selbstverständlichen Wissens über das, was gerecht und was ungerecht ist, von standardisierten Rede- und Verhaltensweisen überlagert waren, deren Gewalt man sich nur entziehen konnte, wenn man bewusst aus diesem System austrat. Innerhalb dieses sich selbst auferlegten Zwangs hat das Normale die Funktion, das Ungeheuerliche unkenntlich zu machen, und umgekehrt hat das Ungeheuerliche die Funktion, den Tatsachen den Makel der Unglaubwürdigkeit anzuhängen.
Arendt entwickelt eine scharfsinnige Kritik an der Vorstellung vom Gewissen, das unveräußerlich zu jeder normativen Ethik gehört. Arendts Fazit: Das Schuldgefühl des Gewissens "gibt keine verlässlichen Hinweise auf Recht oder Unrecht", sondern es sagt etwas über "Anpassung und Nicht-Anpassung" aus. Als Befehlsempfängerin des Normativen funktioniert das Gewissen systemkonform.
Ein Freund, erfahrener Kinder- und Jugend-Psychotherapeut, erzählte mir, er habe in seiner Praxis schon Kinder gehabt, die einfach grundböse sind. Diese Kinder sind noch unter dem Schulalter; später verwische sich das hinter Höflichkeit. Auch seien die Familien solcher Kinder nicht etwa in irgendeiner Weise auffällig. Er habe dazu schon viel Supersision genommen. Er glaubt an das "Böse" im Menschen.
Jeder Gedanke ist auch eine Energieform - beim Pendeln-Lernen kann man das erfahren. Menschen habe immer wieder Wege gesucht und offensichtlich auch gefunden, diese Energien zu konzentrieren mit ihren Gebeten und Ritualen. Und das gilt für beide Grundformen, Liebe und Angst. So kann man Plätze finden, wo sich das manifestiert, warme wie kalte Plätze. Das Üble ist, dass wir als in aller Regel von Erzogenen erzogene Menschen den Blick in den Mangel, die Angst vor der Angst besser kennen, damit leichter damit in Resonanz kommen als mit einem Angebot von Liebe.
Mag ja sein; die Schwerkraft kann mir auch keiner richtig erklären. Die Hebelgesetze und andere Konstrukte der Physik, deren Algorithmen ich in meiner technischen Formelsammlung finde, die verstehe ich auch meist nicht. Dennoch wende ich sie an im Alltag und richte mich ein auf ihre Wirkungen. Ich benutze Messer in der Küche, betätige Wasserhahn, Klospülung, Lichtschalter, PC-Tastatur, setze mich aufs Fahrrad und trage dabei zu meinem Schutz Fahrradhelm und -handschuhe.
Schon die Menschen der Altsteinzeit haben aus Flintsteinen Messer geschlagen. Die ihrer Schneidefunktion zugrunde liegenden Hebelgesetze wurden (menschheitsgeschichtlich) erst kürzlich formuliert und ich habe erst jüngst aus einer technischen Zeitschrift davon erfahren. Dennoch kenne ich die Wirkungen und seit ich vor vierzig Jahren als Tischlerlehrling geübt habe, meine Werkzeuge am Abziehstein zu schärfen, benutze ich nur sehr scharfe Messer.
Das Gute, das Böse? Muß ich die der Schneidefunktion zugrunde liegenden Hebelgesetze kennen, ehe ich die erkannten Wirkungen akzeptiere? Wenn meine Gedanken und die Gefühle dazu mir Leid, Wut, Angst bereiten und ich meine Wahrheit wissen will, dann kann ich sie untersuchen, nur vier Fragen und eine Umkehrung. Was ist das Böse[1]? Wieder Modelle, Landkarten von unsichtbarer Landschaft.