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4 Wissen und Wahrheit?
Um zu verstehen, woher die Wirkung des Virtuellen kommt, ist es vielleicht sinnvoll, das System unseres Denkapparats (d.h. Verstand und Gehirn, einschließlich Nerven, Hormone und Immunsystem) als aus zwei Teilen bestehend zu betrachten: Das eine ist das präsentative System, das andere ist das reaktive System. Das präsentative System erzeugt die virtuellen (psychischen) Präsentationen, die Sichtweisen, den persönlichen Eindruck von einer Situation. Das reaktive System erzeugt die realen (physischen) Reaktionen, den persönlichen Ausdruck für eine Situation.
Das reaktive System kann ausschließlich die virtuellen Präsentationen "sehen" und reagiert dementsprechend. Die Reaktionen werden also erst durch die Präsentationen ausgelöst. D.h. das präsentative System kann mittels seines geistigen Vorstellungsinhalts körperliche Reaktionen auslösen. Daher kommt die Macht des Geistes über den Körper.
Betrachten wir zuerst das präsentative System. Die virtuelle Präsentation könnte man sich als eine geistige Art von Anzeige-Tafel vorstellen. Diese Anzeige hat eine ähnliche Funktion wie ein Bildschirm am Computer. Die Präsentation erscheint auf einem geistigen "Schirm", wo sowohl reale als auch virtuelle Dinge in einer(!) Ansicht(!) gezeigt werden. Die realen Dinge (Eigenschaften) werden von den Sinnesorganen wahrgenommen und auf den Schirm projiziert. Sie kommen also aus der Realität, während die virtuellen Dinge (Gegebenheiten) bereits in unserem Bewußtsein und Gedächtnis vorhanden sind (sie wurden ja von uns selbst vergeben) und werden zugleich und deckungsgleich auf den Schirm projiziert. Die virtuellen Gegebenheiten beeinflussen so die direkte Wahrnehmung der Realität; sie fließen buchstäblich in die Wahrnehmung hinein.
Wahrnehmung von Eigenschaften und Wahnnehmung von Gegebenheiten vermischen sich, erstmal ununterscheidbar, als eine Ansicht. Sie bilden in unserem Geist ein einziges virtuelles Bild als scharf umrissene Gestalt vor dem undeutlichen Hintergrund. Dieses geistige Bild nun ist die "virtuelle Präsentation", wovon hier die Rede ist. In dieser Präsentation spielt es keine Rolle mehr, ob etwas wahr oder wahn ist. Das reaktive System richtet sich nur nach der Gesamt-Erscheinung auf dem Schirm und kann nicht wissen, welche Anteile virtuell oder real wären.
Deshalb hat jede Angelegenheit drei Seiten: Meine Ansicht davon, die Ansicht des Anderen davon und die Sicht, die wir beide nicht kennen, unsere gemeinsame Schnittmenge von Unwissen II. Ordnung.
Wie gesagt, Erdachtes, Gemeintes, Geglaubtes oder Gewußtes mischen sich ununterscheidbar in die Präsentation ein und deshalb können wir keine reine Vorstellung der Realität erreichen. Grundsätzlich! Nie! Was in der Präsentation erscheint, ist weder Abbild der Realität, noch ist es vollkommen eingebildet; es ist mehr wie ein Modell oder eine Landkarte oder eine andere Art von symbolischer Darstellung, wo z.B. auf einem Kartenblatt Straßenzüge mit ihren Häuserfronten (Eigenschaften, Wahrheiten) und Buslinien (Gegebenheiten, Wahnheiten) eingezeichnet sind. Das, was auf dem Bildschirm des präsentativen System erscheint, das ist "meine Wahrheit".
Das reaktive System ist vollständig davon abhängig, was in der virtuellen Präsentation gezeigt wird. Wenn die Präsentation (Anzeige) stimmt, wird die Reaktion vermutlich auch richtig sein. Ist die Präsentation dagegen falsch, so ist die Reaktion wohl ebenfalls verkehrt.
Das reaktive System reagiert auf eine Simulation genauso, wie auf eine richtige Realität. In beiden Fällen hat die Reaktion eine reale Auswirkung, weil sie physiologische bzw. biochemische Reaktionen im Körper auslöst. Das reaktive System antwortet nämlich, indem es Drüsen veranlaßt, Hormone auszuschütten, die wiederum den Blutdruck, die Muskelspannung und die Regulation der Organe verändern samt deren psychischen Auswirkungen. Welche Drüsen aktiviert und welche Hormone ausgeschüttet werden, hängt weitgehend davon ab, was in der Präsentation steht. Der physiologische Zustand, in den das reaktive System den Körper versetzt, steht also in direkter Beziehung zum Inhalt der geistigen (virtuellen) Präsentation. Was immer man glaubt oder meint oder weiß, dementsprechend reagiert das System.
Schmerz als Reaktion auf Beziehungskrisen oder Verluste ist keine "Einbildung". Neurobiologisch konnte zweifelsfrei nachgewiesen werden, daß bei solchem sozialen Streß tatsächlich das Schmerzzentrum gereizt wird. Wenn Mediziner seelisches Leiden und psychische oder psychosomatische Symptome, für die sich scheinbar "kein Befund" erheben läßt, in den Bereich der Einbildung verweisen, so ist das nicht nur bar jeder ärztlichen Kompetenz, sondern auch sachlich falsch[1].
Das virtuelle System zeigt Gegebenheiten, die von ihm selbst vergeben wurden. Es bezieht sich aber nicht nur auf sich selbst, es bekommt auch Rückmeldungen von sich selbst (durch s.g. propriozeptive[2] Rückkopplung) und kann sich dadurch selbst anpassen. So können wir uns selbst als ein anpassendes, lernfähiges und selbstregulierendes System betrachten. D.h. Gedanken, die wir jetzt denken, beeinflussen unsere künftigen Gedanken. Wir haben also die Fähigkeit, uns selbst aufzubauen, umzubauen und so gar abzubauen. Voraussetzung, dies auch willentlich zu tun, ist, daß wir uns nicht als reales, sondern als virtuelles Wesen betrachten.
Als virtuelles Wesen sind wir wesentlich dynamischer, beweglicher und eben auch veränderbarer, als wenn wir uns selbst als eine Realität betrachten. Die Auffassung, uns als virtuelles Wesen zu betrachten, befähigt uns, mit uns selbst virtuell zu "spielen". Das läßt uns, sozusagen, zu virtuellen Künstlern werden. Der virtuelle Virtuose ist, in diesem Falle, identisch mit seinem virtuellen Kunstwerk. Diese Möglichkeit hätten wir nicht, wenn wir uns selbst als reales Wesen ansähen. In diesem Falle glaubten wir nämlich, an die Realität gebunden zu sein, die aber nicht so leicht zu ändern ist. Dieser Glauben an die Realität ist wie ein Anker, der uns festhält.
Das virtuelle Ich birgt auch virtuelle Gefahren. Das virtuelle System des Menschen (die Psyche) ist ein unglaublich raffiniertes und kompliziertes System. Es bietet phantastische Möglichkeiten. Der Umgang mit sich selbst muß aber gekonnt sein: Das virtuelle System ist wie ein zweischneidiges Schwert; auf der einen Seite ermöglicht es eine fast unbegrenzte aufbauende Kreativität, auf der anderen Seite ermöglicht es eine ebenso große Zerstörung. Wir haben es selbst in der Hand, ob wir kreativ oder zerstörerisch sind. Wenn wir uns unseres kreativen und des zerstörerischen Potentials bewußt sind, dann wissen wir auch um die damit verbundene enorme Verantwortung für uns selbst.[3]
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