Selbsterkenntnis und Eigensinn


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8.7 Erziehung

8 Wer antwortet?


"Erziehung", das ist eine Ideologie, die typisch ist für alle 'großen' Zivilisationen. Diese besagt: Die Natur der Beziehung zwischen Kindern und Eltern ist die eines Machtkampfes, in dem verhindert werden soll, daß sich der 'unreife' Wille des Kindes durchsetzt. Verschleiert wird aber dabei, daß es weniger um ein 'Zivilisieren', also z.B. um das Weitergeben von Kulturtechniken geht, daß es vielmehr um die Festschreibung von Herrschaft geht. Die so geartete Sozialisation des Kindes soll dafür Sorge tragen, daß die Motivation zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen tief in der menschlichen Seele verankert wird. Das geht aber nur, indem man die Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle, die dem Menschen eigen sind, zum Schweigen bringt.

Der junge Mensch beginnt sich fremd zu werden, wird zum 'Kind', macht sich zum Objekt der Erwachsenen und zum Sklaven des Glaubenssatzes: "Ich brauche eure Liebe, Anerkennung und Wertschätzung", mit dem er sich den Rest seines Lebens verpatzt, wenn er ihn nicht irgendwann mal untersucht. Später wird dieser Überlebenstrick verfeinert. Das Kind entwickelt seine Identifikation mit der Identität des Unterdrückers. Mitgefühl, Kreativität, Neugier, Freiheit, Gelassenheit, Eigenmacht, Liebe, alle diese menschlichen Grundqualitäten, mit denen wir geboren sind, passen nicht in diese Identifikation. Sie machen jetzt Angst. Mein Menschliches wird als Feind erlebt. Hilflosigkeit wird zur Aggression gegen mich selbst umgepolt. Wir leben dann im Zustand der "gelernten Hilflosigkeit"

Als Kinder waren wir ausgeliefert und hilflos. Als junge Säuger sind wir vollständig abhängig davon, daß sofort die Bindung an die Anderen gelingt und wir nicht den Hyänen vorgeworfen oder in die Babyklappe geschoben werden. Der Biologe Adolf Portmann prägte dazu die Begriffe "physiologische Frühgeburt" und "sekundärer Nesthocker". Unser Überleben hing von einer Übereinstimmung mit den Eltern und der Primärgruppe ab. Der innere Terror des Opferseins ist deshalb zutiefst existentiell.

So kommt es, daß uns die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplatz oder von sozialen Rollen in den Grundfesten unserer Persönlichkeit erschüttern kann. Wenn unser Selbstwert vorwiegend auf Erfolg, Status und materiellem Gewinn beruht, im erfolgreichen Hecheln nach Liebe, Anerkennung, Wertschätzung, also auf Attributen der Außenwelt, muß ein möglicher Verlust solcher äußeren Errungenschaften als existenzgefährdend erlebt werden, weil dadurch der alte Terror der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und der Scham wieder aufersteht. Alles deutet darauf hin, daß das menschliche Ich keine abgeschlossene, innerliche Existenz hat. Vielmehr ist das Bewußtsein dieses Ich in jedem Moment mit dem Bewußtsein seines sozialen Status verkoppelt, ohne den das Ich nicht existieren kann.

Deshalb kann auch die Bedrohung durch mehr Freiheit dasselbe bewirken. Denn das Gefühl von Sicherheit aus dem Außen verlöre seine Grundlage. Hier läßt sich auch eine der Quellen finden für die Faszination, die die Grundlage für religiöse Übungswege, Sekten und Terrorzellen ist. Rituale, als Form von Außen, sind Erfindungen der Ängstlichen, wo sie gehorsam sich verirren wollen in die Form, in Erübtes. Rituale in Freiheit sind nur so etwas wie ein Haarband, das die ungezügelte Mähne aus Gedanken hindern soll, mir den Blick auf das Jetzt und mein Ziel zu verhängen, auf das hin ich in Achtsamkeit und Absicht meine Kraft zentriere und mich dadurch größeren Kräften anschließe und dazu jedesmal die rechte Form neu erfinde. Absicht und Form, Energie und Ziel, verbinden sich in der Intuition zu neuem Entscheiden. Das äußere Ritual ist eine Erfindung des
Niederen Selbst und der Dunkelseele, aus dem Wunsch zu beherrschen.

Die Entstehung des Fremden und dessen Externalisation
[1] stehen in direktem Bezug zum Intimsten des Menschen, zu seiner Identität. Entscheidend ist die Frage: Was bleibt für deren Entwicklung, wenn all das, was dem Menschen eigen ist und ihn als Individuum ausmacht, verworfen und zum Fremden gemacht wird? Dann reduziert sich Identität auf die Anpassung an äußere Umstände, welche das seelische Überleben des Kindes sichert: Sehr überlebenstüchtig tut es alles, um den Erwartungen von Mutter und Vater gerecht zu werden. Kern dieses Prozesses ist die Identifizierung mit den Eltern. Das Eigene des Kindes wird durch das Fremde der Eltern ersetzt. Der 'unreife' Wille des Kindes, seine tiefe Menschlichkeit, überzieht sich vor dem Elternwillen mit Rauhreif und wird zur Angst.

Diese Kinder befinden sich in der klassischen Situation gelernter Hilflosigkeit, die Passivität und Depressionen zur Folge hat. Nach der berühmten Theorie des Psychologen Martin Seligman ist es eine zentrale menschliche Lustquelle, "Kontrolle" zu erleben - also die Erfahrung zu machen, daß das eigene Verhalten die Umwelt beeinflussen kann. Umgekehrt führt der "Kontrollverlust", wenn man die Umweltbedingungen, z.B. die pädagogische Krankheit der Eltern, durch eigenes Handeln nicht verändern kann, zur "gelernten Hilflosigkeit". Die Ursprungswahrnehmung, nichts bewirken zu können, wird dabei verallgemeinert und auf alle späteren Situationen übertragen.

Gelernte Hilflosigkeit hat drei Folgen:

  • 1. Passivität und Motivationsverlust: Wenn die eigenen Handlungen ohnehin keinen Einfluß haben, ist kein Anreiz vorhanden, überhaupt etwas zu tun.
  • 2. Verminderte Lernfähigkeit: Wenn man gelernt hat, daß man nichts bewirken kann, ist es schwer, in neuen Situationen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.
  • 3. Depressive Verstimmungen: Man fühlt sich traurig, ängstlich und hoffnungslos, weil man nichts ändern kann und sich der Welt hilflos ausgeliefert fühlt.


Diese Befunde wurden zunächst in Tierversuchen gewonnen und später in Versuchen mit menschlichen Probanden vielfach bestätigt. Wie stark sich die Hilf- und Hoffnungslosigkeit ausprägen, hängt nicht nur von der Dauer des unkontrollierbaren Ereignisses und seinem Stellenwert im menschlichen Leben ab - wichtig sind auch die Erklärungsmuster, die herangezogen werden, um das Scheitern zu deuten. Gehen die Betroffenen zum Beispiel davon aus, daß der Mißerfolg auf äußere Gründe zurückzuführen ist, dann sind Selbstwert und innere Stabilität weitaus weniger gefährdet, als wenn ein eigenes Versagen vermutet wird. Genau das aber geschieht in Kindern, die sich ja ihrem geliebten Objekt, Mutter, Vater, anpassen wollen und das biologisch, neurophysiologisch auch tun. Doch das reicht nie, weil der pädagogische Anspruch der Eltern "ich weiß, was zu Deinem Besten ist, und werde das auch durchsetzen" nie endet.

Wenn sich die Beschwörungsformel "Du kannst es schaffen, wenn du wirklich willst!" schließlich als Illusion herausstellt und der Traum vom geliebten Kind trotz perfekter Selbstpräsentation noch immer auf sich warten läßt, dann ist der Absturz um so tiefer. Die so Instruierten führen den Mißerfolg zwangsläufig auf das eigene Versagen zurück. Resignation, Depression oder Flucht in die Sucht sind die Folge. Auch hier ist die Sozialpsychologie erhellend: Empirische Befunde belegen, daß Menschen, die eine hohe Kontrollerwartung haben und überzeugt sind, daß ihr Verhalten Veränderungen bewirken kann, zunächst weniger niedergeschlagen sind als Menschen, die diese Hoffnung nicht teilen. Doch wird diese Erwartung enttäuscht, werden die Betroffenen weitaus depressiver als jene Personen, die von vornherein glaubten, nur wenig bewirken zu können, oder die ihre Handlungsmöglichkeiten realitätsgerecht eingeschätzt hatten.

Der entscheidende Punkt bei der Erziehung ist, daß es nur zwei Arten des Lernens gibt: Die eine ist das wahre Lernen und die andere ist Konditionierung. Konditionierung ist eine von Angst geprägte Reaktion des älteren Gehirns, also dessen, was wir als "Hinterhirn" oder "Reptiliengehirn bezeichnen. Das ist das auf Reflexen beruhende, auf Überleben und Arterhaltung programmierte Gehirn, das auf Bedrohung reagiert. Es findet dort zwar eine gewisse Form des Lernens statt, jedoch handelt es sich um konditioniertes Lernen, das eng mit emotionalen Zuständen wie Feindseligkeit, Wut, Angst und Sorge verbunden ist. Wenn Sie echtes Lernen haben möchten - Lernen, das die höheren Stirnlappen, mit anderen Worten das intelligente, kreative Gehirn, einbezieht - dann muß die emotionale Umgebung positiv und unterstützend sein. Das liegt daran, daß das Gehirn beim ersten Anzeichen von wahrgenommener Bedrohung seine Funktionen aus dem hohen, vorderen Stirnlappenbereich in die alten Abwehrmechanismen des Reptiliengehirns verlagert.

In den ersten elf Lebensjahren finden nicht nur solche Verschiebungen zwischen dem Reptiliengehirn und dem emotionalen und dem kognitiven Gehirn statt, sondern man hat da ja zusätzlich noch einen riesigen Überschuß von Zeugs im Gehirn. Im Alter von etwa elf oder zwölf Jahren durchläuft das Gehirn eine Feinabstimmung und entscheidet, was es nicht mehr braucht. Das Gehirn fängt an, überflüssige Neuralverbindungen entweder in dem alten Überlebensgehirn oder in dem neuen intellektuellen Gehirn aufzulösen. Was entfernt wird, hängt von der Lebenssituation des Kindes zu dieser Zeit ab. Die Frage, ob es sich sicher und geliebt fühlt oder ob es das Gefühl hat, sich gegen eine feindselige Welt schützen zu müssen, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Intelligenz des Kindes.
[2]

In Österreich gab es eine interessante Untersuchung bezüglich der "Gsundn Watschn" (Schläge ins Gesicht aus erzieherischen Gründen, welche angeblich heilen statt schaden). Und zwar befragte man 500 Grundwehrdiener und 500 Zivildiener zum Thema: von den Soldaten gaben 98% an, hie und da geschlagen worden zu sein und daß es ihnen nicht geschadet hätte. Von den Zivildienern 86%, daß sie nie geschlagen worden seien und die gsunde Watschn auch selbst nicht als Erziehungsmittel einsetzen würden.

Natürlich haben "Ehrenmorde" und "Zwangsehen" eine besondere "Qualität". Aber Gewalt gegen Frauen ist kein spezifisch muslimisches, sondern auch ein deutsches Problem. Die erste große Studie zum Thema wurde 2002 vom Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend in Auftrag gegeben. Über 10.000 Frauen in ganz Deutschland wurden zu ihren Gewalterfahrungen befragt, türkische und osteuropäische Migrantinnen gesondert. Demnach gaben 40 Prozent der befragten, ganz "normalen" deutschen Frauen an, schon einmal körperliche oder sexuelle Übergriffe erlebt zu haben, und zwar in einer strafrechtlich relevanten Form. Bei den osteuropäischen Migrantinnen lag diese Rate bei 44 Prozent, bei den in Deutschland lebenden Türkinnen bei 49 Prozent - das ist fast jede zweite Türkin, und damit eine in der Tat unakzeptabel hohe Zahl. Dagegen vorzugehen ist also dringend nötig.

Eine 1950 veröffentlichte Untersuchung von britischen Psychoanalytikern an deutschen Kriegsgefangenen zeigte den Zusammenhang zwischen Weltbild und Familienerfahrung. Ein knappes Drittel waren "überzeugte Nazis". Alle stammten aus sehr autoritären, frauenfeindlichen Familien. Ein gutes Drittel waren "unentschieden". Deren Familienhintergrund war deutlich weniger autoritär. Das letzte Drittel erwies sich als "unbeeindruckt" von Nazitum, sie waren eher widerständisch dagegen. Diese hatten ihre Herkunftsfamilien als unterstützend und mitfühlend erlebt.

Dieselbe Dreiteilung zeigen viele Untersuchungen auch heute noch. An der Grundtatsache von Erziehung hat sich ja nichts geändert. Ob autoritärer, antiautoritärer, demokratischer oder Laissez-faire-Erziehungsstil, dem Zögling wird eine Leine um den Hals gelegt. Jedoch, es kommt nicht an auf die Länge der Leine, sondern auf die Tatsache von Leine!

Das Drittel der "Unbeeindruckten" sollte sich zusammentun und damit das Drittel der "Unentschiedenen" beeinflussen. Damit wird das Drittel der "Autoritären" still, denn sie haben Angst vor Mehrheiten, weil sie sich fremd sind und wohl auch bleiben werden.

Da ist immer Ich in seiner Welt. In der gibt es nur mich. Hirnforschung hat die funktionale und strukturelle Plastizität des Hirns inzwischen erkannt. In keinen zwei Köpfen ist die Informationsverarbeitung, das Wissen, die Entscheidungsfindung gleich organisiert. Deshalb ist in
einer Situation die "Wirklichkeit" für jeden anders und nur insoweit ähnlich, wie die beteiligten Menschen darüber Vereinbarungen haben. Es scheint, dieses "Ich in meiner Welt" empfinden die meisten Menschen als radikal, als erschreckend, als asozial. Deshalb ist es den meisten, besonders den "Autoritären", so wichtig "dazu zu gehören", zu einer Familie, einer Partei, einer Nation, einer peergroup. Das macht dann ihre gemeinsame Wirklichkeit, in der sie sich vor sich selber verbergen können. Deshalb helfen Ratschläge so selten und erst recht kein "du müßtest doch nur dies oder das tun, dulden oder unterlassen".



  • [1] Bei Arno Gruen: Externalisation ist das Hinausverlegen von Empfindungen, Gefühlen, Wünschen, Interessen oder Erwartungen in die Außenwelt.
  • [2] Joseph Chilton Pearce: "Der nächste Schritt der Menschheit - Die Entfaltung des menschlichen Potentials aus neurobiologischer Sicht" sowie "Die Biologie der Transzendenz - Neurobiologische Grundlagen für die harmonische Entfaltung des Menschen" Arbor Verlag




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