Selbsterkenntnis und Eigensinn


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4.10 Überzeugungen

4 Wissen und Wahrheit?


Das Gegenteil von Wahrheit ist nicht Lüge, sondern Überzeugung. Oder, anders gewendet mit Heinz v. Foerster, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Und Nikolaus von Kues, Philosoph und Theologe an der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, bewies, daß es in der Unendlichkeit des Reiches Gottes keine Lüge gibt. Denn alles ist Gott und Gott ist Wahrheit. Darum ist alles wahr, darum kann es Lüge nicht geben.

Es gibt nur die eine Wahrheit, meine Wahrheit und die kann durchaus schmerzhaft im Kampf mit der Realität liegen. Woran merke ich das? Wenn ich, mit dem Kopf in den wolkigen Gefilden meiner Gedanken, mit den Füßen auf den Boden der Realität stoße, dann erlebe ich Streß, komme in Kampf mit der Realität. Und diesen Kampf verliere ich nur einmal, nämlich immer.

Im Vorurteil ist uns die Welt ganz in die Hand gegeben. Wie der Südländer, der Skandinavier oder der US-Amerikaner tickt, das wissen wir gemeinhin, schon bevor wir jemals einen davon zu Gesicht bekommen oder den Fuß in ein fremdes Land gesetzt haben. Irritierenderweise nimmt dieses erfahrungsfreie Bescheidwissen mit wachsender Entfernung zum behandelten Gegenstand sogar zu.

Am sichersten sind wir uns bei den fremdesten Kulturen. Wo noch unbeschwert die Rede von "primitiven Stämmen" von den Lippen geht, darf zumindest die Primitivität des Urteils als gesichert gelten. "Die Schwarzen schnackseln zu viel", verkündete eine Achtung gebietende Vertreterin des deutschen Hochadels zur besten TV-Sendezeit: weswegen sie zu Recht mit Lustseuchen in die Grube fahren. Der Konnex von Stamm, Stammhirn und Stammtisch ist unverkennbar - und offenkundig schichtneutral. Gloria von Thurn und Taxis erntete jedenfalls mehr Beifall als Kritik, wahrscheinlich weil ihr Publikum mit "den Schwarzen" just dieselbe Erfahrung gemacht hatte. Erfahrung? Wo eigentlich?

"Vorurteile bedrohen den zivilen Zustand von europäischen Ländern", so fassten Prof. Andreas Zick und Dr. Beate Küpper die Botschaft einer repräsentativen Umfrage zu Vorurteilen und Diskriminierungen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Portugal, Polen und Ungarn zusammen [1]. Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld hat in acht europäischen Ländern eine Studie durchgeführt, die 2009 veröffentlicht wurde. Die WissenschaftlerInnen haben für ihre repräsentative Studie je 1.000 Staatsbürger in den 8 Ländern befragt. Sie zeigen, dass unterschiedliche Vorurteile in einem "Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" zusammenhängen.

Wer also für
ein Vorurteil anfällig ist, ist dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch für andere. Denn der Kern, so die Wissenschaftler, sei "eine Ideologie der Ungleichheit". Für Deutschland untersuchen die Bielefelder dies seit vielen Jahren in einer Langzeitstudie unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer; auf europäischer Ebene ist es die erste Studie dieser Art. In dieser Studie liegt Deutschland bei allen Fragen im Mittelfeld.

Mehr als die Hälfte der Europäer in diesen Ländern (50.4%) teilen negative Einstellungen gegenüber Immigranten und stimmen der Aussage zu: "Es gibt zu viele Einwanderer." 31.1% der Befragten meinen, "es gäbe eine natürliche Hierarchie zwischen schwarzen und weißen Menschen". 24.5% unterstellen, dass "Juden zu viel Einfluss" in ihrem Land haben. Anti-muslimische Vorurteile sind weit geteilt in ost- und westeuropäischen Ländern, und jeder zweite Europäer (54.4%) nimmt den Islam als "Religion der Intoleranz" wahr. Immer noch behauptet eine Mehrheit der Europäer (60.2%) sexistische Einstellungen, die Frauen auf traditionelle Geschlechtsrollen festlegen, die ökonomische Ungleichheit befördern. 42.6% verneinen gleiche Rechte für homosexuell orientierte Personen und sieht Homosexualität als unmoralisch.

Zu den Ursachen für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gehören nach Ansicht der Wissenschaftler autoritäre Einstellungen, ein subjektives Gefühl der Bedrohung durch Fremde und die Zurückweisung von kultureller Unterschiedlichkeit. [2]

Erfahrung, sagt man, sei der Todfeind des Vorurteils, weil sich an ihr die realitätsferne Abgeschlossenheit unseres heimlichen Weltbilds breche. Nur - warum trauen wir dann unseren Vorurteilen meist mehr als der erlebten Wirklichkeit? Unter anderem deshalb, weil sie älter als die eigene Erfahrung sind. Vorurteile im interkulturellen Bereich sind holzschnittartig simplifizierte Verdichtungen der oft jahrhundertealten Geschichte zwischen "uns" und "den anderen". Wobei es weniger um die faktische Historie als um die Phantasien und Ängste geht, die "die anderen" hervorrufen.

Oder, anders ausgedrückt, es geht um die kulturellen Reibungsflächen, die sie für die Projektion unserer Ängste bieten. Kollektive Ängste können eine ungeheure Zeittiefe haben. Sie bieten sich aktuellen Ressentiments als Andockstation an, sie ermöglichen es offen irrationalen Perspektiven, sich geschickt mit demokratisch klingenden Argumenten zu verbinden - womit sich wiederum Stimmen beim Wahlvolk gewinnen lassen. Die Welt ist ein rhetorisches Gebilde, gemacht von Millionen und Abermillionen von Menschen. Die Welt, die für mich in meinem Alltag ein Dorf war, öffnet sich nun. Jetzt geht es ums große Ganze, oder, bescheidener formuliert: um Politik. Alles was ist, ist Geschwätz. Dennoch gibt es so etwas wie eine Handlung. Es passiert sogar eine ganze Menge. Das Geschehen wird allerdings weniger vollbracht als herbeigeredet.

Atomkrieg, Waldsterben, Aids, Super-GAU, Y2K-Bang, Sars und nun Vogelgrippe, Schweinegrippe - die eigentliche Epidemie, die die modernen Gesellschaften gepackt hat, ist die Kultur der Panik. Eine ganze Generation wurde vor zwei Jahrzehnten politisiert, weil sie der Überzeugung war, es sei eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich, daß die Menschheit innerhalb der näheren Zukunft ausgelöscht werde.

Es fügt sich trefflich, daß in jenen Tagen, da die Vogelgrippe-Infektion über Ural und Kaukasus in unsere Nähe flattert, der britische Soziologe Frank Furedi sein Buch "Politics of Fear" veröffentlichte. Ohne die Gefahren zu leugnen analysiert er, wie sich der Umgang mit ihnen in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden veränderte. Und heute, das kann man seine Schlüsselthese nennen, hat die Angst "ihr Verhältnis zur Erfahrung verloren".

Mußten auch frühere Geschlechter einen Umgang mit der Emotion der Angst finden, so war diese doch immer eine Reaktion auf Gefahren, die sich in ihrem Blickfeld befanden. Allenfalls reagierten sie auf reale Gefahren mit Angstabstraktion, indem sie einen strafenden Gott imaginierten, dessen Walten in etwa so unerklärlich war wie heute das von Viren oder Hühnern. Bemerkenswert, dies nur nebenbei, ist in diesem Kontext die Volte des Christentums, das gerade darauf mit dem bekannten Imperativ reagierte: "Fürchtet Euch nicht."

Wie auch immer, Angst war ein emotionaler Mechanismus, sich gegenüber realen Gefahren zu orientieren, so Furedi. Heute dagegen "scheinen wir uns geradezu vor allem zu fürchten". Die Furcht selbst produziert bisweilen die Gefahren: Wir fürchten um unseren Gesundheitszustand - und das macht uns krank. Kriminalitätspolitik ist ganz wesentlich damit beschäftigt, das Gefühl der Bedrohung zu bearbeiten, das bekanntlich in keinem Verhältnis zur realen Kriminalität steht
[3] [3a]. Die moderne Angst also ist eher eine Anleitung zur Desorientierung als zur Orientierung.

Der Aufstieg der Angst-Industrie ist sowohl Ursache als auch Folge - man kann das wirklich nur mehr schwer auseinander halten. Medien, Politik, Versicherungsunternehmen, Pharmaindustrie, Ökogruppen, sie alle existieren innerhalb dieses Komplexes der Angst - und leben damit auch von ihm. Es wäre natürlich ein vulgärmaterialistischer, verschwörungstheoretischer Unsinn zu sagen, sie seien seine Ursache. Sie sind sowohl Verstärker dieses Prozesses wie auch das Angebot, welches sich die gestiegene Nachfrage schafft; und oft ist die Angst nur die unintendierte Folge des Versuches, Gefahren aus der Welt zu schaffen.

Fast schon eine Pointe: Wir leben in einer Moderne der umfassenden Risikominimierung - die man dennoch nicht "Sicherheitsgesellschaft" nennt, sondern, mit einem Soziologenwort, das Furore machte, als "Risikogesellschaft" beschreibt.
[4]

Wirklichkeit ist das, was wirkt. Die Wahrnehmungen wirken ebenso wie die Wahnnehmungen. Da ja alles Soziale überwiegend aus Zuschreibungen, Bedeutungen, also Virtualitäten besteht, sind meine Wahnnehmungen für mich besonders notwendig, um in der Welt und der Gesellschaft um mich herum normal leben zu können - solange mich das nicht in Streß, Leiden oder gar Krankheit bringt. Spätestens dann lohnt es sich, nach meinen Gedankenfehlern Ausschau zu halten.

Zufriedenheit ist eine Funktion des Anspruchsniveaus. Das 'halbvolle' oder 'halbleere' Glas ist eine stehenden Redensart. Die universalen, grundlegenden Gegenkräfte sind Ausdehnen - Zusammenziehen, oder noch anders geblickt, Lust - Angst. Es ist nicht unabhängig von mir, ob mein Blick in die Welt mir die Fülle zeigt oder den Mangel, ob ich leben will lustvoll hinein in diese Fülle oder angstvoll heraus aus dem Mangel. Leider sollte ich schon als Kind lernen, daß die Fehler rot unterstrichen werden, nicht aber das Gelungene in grün, daß der Eifer der Erwachsenen, denen es ja nachzueifern galt, meinen Mängeln galt.

Ich war kürzlich im Pfingstcamp der Freundschaft-mit-Kindern-Leute (www.amication.de). Bei der Theorie hatten wir es mit dem "sich das Leben schönreden" statt es sich gewohnheitsmäßig 'schlechtreden'. Wir sind ja von Kind auf trainiert im schlechtreden: Zu schwierig, zu teuer, nicht genug, nicht zum rechten Zeitpunkt, ich sollte nicht, ich müßte aber, eben immer die Fehler rot unterstreichen.

Warum nicht das Gelungene grün unterstreichen? 'Lieben was ist' mit Verstärker. "Obwohl ich Angst habe, liebe und akteptiere ich mich so wie ich bin"
[5]. Also nicht nur durch das Untersuchen der Gedankenfehler das Leiden am Kampf mit der Realität auflösen, sondern dann gerade die Freude an der Realität pflegen und stärken. Den Kontakt mit der Realität per Kampf nun umleiten in lustvolle Umarmung der Realität. Es ist wie es ist und es ist schön! Und dieses, Obacht, hat nichts zu tun mit "positivem Denken", was ja meist nur Ausflucht ist - mit Suchtmerkmalen!

Ich kann nicht leugnen, ein Leben des Ausdehnens in die Fülle erscheint mir erstrebenswerter als eines des Zusammenziehens im Mangel. Ich sehe mich lieber als aktiv Handelnden denn als passiv Behandelten, Opfer der Verhältnisse. Ich habe sehr liebe und hochgeschätzte Freunde, die es vehement ablehnen, das als 'Krankheit' zu sehen, was ich bei ihnen als "schwere Depression" glaube benennen zu müssen. Und sie können sich dabei auf eine ganze Reihe berühmter Philosophen berufen, die den Unsinn des Lebens und die Gnade von Suizid feiern. Cioran wurde damit 84 Jahre alt!
[6]

Ja, oft passiert Erstaunliches. Wenn ich ihnen andere Blickwinkel anbiete auf das, was sie als ihre Probleme mit der Welt benennen, wollen sie mich "bekehren". Sie erwarten, ich sollte sie fragen "erkläre mir deine Welt, damit ich auch leiden kann wie du". Das geschieht meist als Forderung, nicht als Angebot oder Vorschlag, damit wir uns leichter verstehen könnten, als Forderung zur vehementen Verteidigung ihrer Würde als Leidende, eine Würde, die ich ja gerade anerkannt habe mit meinem Vorschlag zu alternativen Blickwinkeln.

Manche dieser Freunde sagen, die sogenannten glücklichen Menschen seien die banalen; sie gehen der Realität aus dem Weg und denken nie über Wichtiges nach. Mir scheint eher, unsere Gesellschaft hat eine wenig weise Neigung entwickelt, nur die Dinge als wichtig zu betrachten, die nüchtern und ernst sind, besonders solche, die in die Algebra des Verstandes eingepaßt werden können. Die Realität ist subjektiv. Viele der sogenannten unglücklichen Menschen haben sich für den Blck in den Mangel entschieden. Zum Leben dieser Menschen gehört das Vermissen dessen, was ihnen entgangen sei; am sichersten aber verdirbt man es sich selbst, wenn man geringschätzt und nur als vorläufigen Ersatz begreift, was das eigene, nicht perfekte Leben tatsächlich an Gutem zu bieten hat. Jedes Leben hat seine eigenen Herausforderungen und Reize, es ist nicht bloß der Vorspann zu einem ungewissen Happy-End.

Meine Freunde mögen Recht haben mit den Fröhlich-Dummen, nur daß die weniger glücklich als leer im Kopf sind. Die Schwermütig-Klugen sind genauso lächerlich. Denn wenn man schwermütig ist, fängt man an, sich selbst eine Menge Aufmerksamkeit zu schenken. Und man fängt an, sich ach so furchtbar ernst zu nehmen. Die wirklich glücklichen Leute, das heißt, die Leute, die sich wirklich mögen, die denken nicht allzuviel über sich nach. Der unglückliche Mensch verschmäht es, wenn man versucht, ihn aufzuheitern, weil es bedeutet, daß er aufhören müßte, über sich selbst nachzudenken, und statt dessen anfangen könnte, dem Universum eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken. Unglück ist vielleicht die höchste Form des Sichgehenlassens, was die Sufis zu dem Spruch veranlaßte "Es hat keiner das Recht, vor Allah über ein Unglück zu klagen, ehe er das Glück darin nicht erkannt hat".

Mangel oder Fülle sind also keine Sache des Besser oder Schlechter - es sind auch nur Überzeugungen. Nicht die Dinge oder die Verhältnisse sind das Problem. Es ist das Sehen. Mehr noch, es sind die zum Sehen gewählten Blickwinkel auf die Dinge oder die Verhältnisse. Genauer, es ist
meine getroffene Wahl für einen bestimmten Blickwinkel, weil die mich blind machen kann für alles außerhalb dieses Winkels. Wie umfassend ist mein "Blinder Fleck? Unwissenheit II. Ordnung!

Ändere ich meine Überzeugungen, meint, die Regeln nach denen ich neue Bilder zu den Zeugen für meine Wahrheit erkläre und die alten damit überlagere, so ändert sich meine Wahrnehmung, meint, was ich als "meine Wahrheit" nehme. Damit ändert sich im präsentativen System die persönliche, meine 'objektive' Realität. Von Abraham Lincoln wird der Satz überliefert: "Die meisten Menschen sind so glücklich, wie sie selbst es sich vorgenommen haben." Vielleicht eine grobe Vereinfachung. Wer weiß es wirklich?

Und was ist mit den inneren Zwängen, wie Vererbung, Erziehung, Krankheit? Und erst die äußeren Zwänge, wie Kapitalismus, Folter, Vulkanausbruch? Ist das Natur? Sind das SEPs (selbsterfüllende Prophezeiungen)? Kann ich wirklich beweisen, daß ich ahnungslos und unbeteiligt 'da hinein geraten' bin, und, wenn ich 'drin stecke', zum Leben oder zum Sterben mich entscheide? Nichts davon kann ich wirklich beweisen.

Beweisen kann ich nur, daß ich zu allem und jedem im Kopf meine Bilder habe und drum herum meine Geschichten. Beweisen kann ich nur, daß ich zu jeder Geschichte Gleichgesinnte finden kann - und Uneinsichtige, solche, die mir das Gegenteil einreden wollen. Die Uneinsichtigen verurteile ich und fühle mich dann noch schlechter.

Die Uneinsichtigen sind nicht zu überzeugen: Sie wollen nicht hinein sehen in die Bilder meines Kopfes, ihre Bilder nicht überlagern lassen von meinen. Ströme von Wirklichkeiten, Ströme von Entscheidungen, alles bei jedem in eigener Selbstverantwortung aus freiem Willen.

Zwänge? Wille steht gegen Wille, Wahrnehmung gegen Wahrnehmung. Der Konzern schließt die Fabrik und 6000 Menschen sind arbeitslos. Al Qaida bombt Flugzeuge in die WT-Wolkenkratzer und 2803 Menschen sterben. Mutter Erde zuckt vor Sumatra mit einer Wimper und der folgende Tsunami bringt fast 300.000 Menschen von Sumatra bis Südafrika den Tod. Da steigt in mir Hilflosigkeit auf. Entspricht diese automatische Gefühlsreaktion meiner Realität? Tiefes Mitgefühl, Schmerz, ja! Opfergefühle, Angst, Wut, hm? Wer weiß es wirklich?



  • [1] http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/europaeische-zustaende/ (Stand: 8/09)
  • [2] http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=in&dig=2009%2F11%2F14%2Fa0111&cHash=4e79acd06a/&type=98
  • [3] Prof. Dr. Christian Pfeiffer, 2000 bis 2003 Niedersächsischer Justizminister und seit März 2003 Vorstand/ Direktor des Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V., wies darauf hin, daß seit 1990 in Deutschland die Zahl der Schwerkriminalität um mehr als 40% zurückgegangen ist. Dagegen ist im selben Zeitraum die Belegung der Gefängnisse um mehr als 40% gestiegen. Der Staat versuche, durch die Verschärfung der Strafgesetze der Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, weil er in Zeiten der Globalisierung die existentielle Sicherheit seiner Bürger nicht mehr gewährleisten kann.
  • [3a] In der Rubrick Wissenschaft der taz v. 1.6.2012 (Blindflug in der Kriminalpolitik; VON OTTO DIEDERICHS) wird gezeigt, wie je nach politischer Couleur und Eigeninteressen Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS-Zahlen), die vom Bundeskriminalamt (BKA) zusammengestellten Zahlen polizeilicher Tätigkeitsdaten, ausgeschlachtet werden.Der Kriminologieprofessor Wolfgang Heinz von der Universität Konstanz erklärte kürzlich auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin vor Politikern und Kriminalisten "Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir nichts wissen". "Medienkriminalität" nennt er das. In der Bevölkerung werde die Kriminalitätsentwicklung, insbesondere deren schwere Formen, hierdurch dramatisch überschätzt.Für den "Blindflug" in der Kriminalpolitik haben Heinz und weitere renommierte Kollegen gleich mehrere Faktoren ausgemacht. Über Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung werden mehrere Statistiken mit unterschiedlichen Kriterien an verschiedenen Stellen in Bund und Ländern geführt. Was davon schließlich an die Gerichte weitergegeben wird, erscheint in einer Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte. Die wiederum sagt nichts über die Prozessergebnisse aus, dafür gibt es extra eine Strafverfolgungsstatistik. Und natürlich gibt es auch für den späteren Strafvollzug drei eigene Statistiken. Soweit bei dem Wirrwarr eine langfristige Aussage zur Kriminalitätsentwicklung in Deutschland überhaupt möglich ist, so sieht das Ergebnis nach Heinz Untersuchungen dann folgendermaßen aus: Zunächst wird der mutmaßliche Anstieg der registrierten Kriminalität (laut aktueller PKS im Jahre 2011 um 1 Prozent auf 5,99 Millionen Straftaten) durch die folgenden staatsanwaltschaftlichen Verfahren wieder entkriminalisiert - zum Beispiel durch Verfahrenseinstellung oder Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit. Welche Tat- und Tätergruppen dies jedoch betrifft oder was eventuell auf einer Änderung der Beurteilungsmaßstäbe beruht, lässt sich dabei nicht feststellen. So wurden etwa 2010 von rund 3,3 Millionen polizeilich aufgeklärten Verbrechenstatbeständen nur in 60.200 Fällen die Täter auch zu Gefängnisstrafen verurteilt, während sie in den übrigen mit anderen Sanktionen belegt wurden. Worauf diese Diskrepanz beruht, vermag Professor Heinz nicht zu sagen.Während durch den alljährlichen Alarmismus der Sicherheitspolitiker so die öffentliche Kriminalitätswahrnehmung mit fast 30 Prozent deutlich über der tatsächlichen Entwicklung liegt, geht sie in Wahrheit zurück. Autodiebstahl ("Kaum gestohlen, schon in Polen") in den Jahren 1999 bis 2009 um 57 Prozent zurückgegangen - in der Einschätzung der Bevölkerung im gleichen Zeitraum 34 Prozent gestiegen. Noch deutlicher beim Wohnungseinbruch (Wahrnehmung plus 43 Prozent, Rückgang minus 24 Prozent), bei Mord (Wahrnehmung plus 19 Prozent, Rückgang minus 38 Prozent), ähnlich bei Betrugsstraftaten, "Handtaschenraub" oder Jugendstraftaten. Nirgendwo allerdings liegen Wahrnehmung und Wahrheit soweit auseinander wie bei den immer wieder erneut medienträchtigen Sexualmorden (Wahrnehmung um 56 Prozent gestiegen, tatsächlicher Rückgang ebenfalls bei 56 Prozent). Besonders eindrucksvoll ist auch sein Forschungsergebnis zur Wirtschaftskriminalität, die im Jahr 2010 einen registrierten Gesamtschaden von 8,4 Milliarden Euro verursachte. Für 55 Prozent dieser gewaltigen Summe allerdings sind lediglich 3 Prozent der Täter verantwortlich. Es ist also nicht der Ladendieb, der hier die großen Schäden verursacht.
  • [4] ROBERT MISIK, taz Nr. 7796 vom 18.10.2005
  • [5] Rainer und Regina Franke: "Sorgenfrei in Minuten"; Random House, 2006.
  • [6] Emile Michele Cioran, *8.4.1911, +20.6.1995, schrieb "der hauptmangel der philosophie liegt darin, dass sie zu erträglich ist."



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