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4 Wissen und Wahrheit?
Aus einem anderen Blickwinkel hat dieses "sich Gedanken machen ist nur planmäßiges Umschichten von Vorurteilen" große Ähnlichkeit mit den Computerviren. Das Heimtückische hier an diesem virtuellen Virus ist, daß er im physikalisch-biologischen Sinne gar nicht existiert. Es gibt ihn nicht in der Natur. Er ist eher als eine Art Geist-Virus[1] zu verstehen. Und wir können daran krank und leidend werden wie an einem körperlichen Virus.
Um diesem "Virus" auf die Spur zu kommen, bedarf es einer neuen Art von Wahrnehmung, die virtuelle Art der Wahrnehmung. Um diese virtuelle Wahrnehmung von der realen Wahrnehmung unterscheiden zu können, werde ich sie 'Wahnnehmung' nennen. D.h. reale Dinge werden 'wahrgenommen', aber virtuelle Dinge werden 'wahngenommen'. Wir brauchen für die 'Wahnnehmung' keine neuen Instrumente, sondern eine neue Denkart, die dann zu einer neuen Deutungsweise führt - und das bestimmt, was wir wahnnehmen.
Das Wort Wahn ist vom altertümlichen Tätigkeitswort "wähnen" abgeleitet und bedeutet nichts anderes als denken. Das germanische Wort waan entspricht dem lateinisch-griechischen Wort "phan", wie man es u.a. in "Phantom" und in "Phantasie" findet (gr. + lat. phantasía = 'Einbildung, geistiges Bild'). Erst im 18. Jahrhundert gerät es in die semantische Nähe zum nicht verwandten Wort wana, aus dem sich Wahnsinn abgeleitet hat (ahd. mhd. wan 'fehlend, leer').
Ich halte es durchaus für sinnvoll, das alte Wort 'Wahn' in seiner ursprünglich neutralen Bedeutung wieder zu aktivieren. Es ermöglicht uns nämlich, eine Art von Dualität zwischen Wahr und Wahn herzustellen, analog zur Unterscheidung zwischen Realität und Virtualität. Der Begriff wahn bezieht sich demnach auf gedachte, subjektive Gegebenheiten, die nur psychisch, denkend veränderbar sind, während wahr sich auf objektive Eigenschaften bezieht, die nur physisch, körperlich zu verändern sind. Oder anders herum gesagt: objektive Eigenschaften sind wahrlich und subjektive Gegebenheiten sind wahnlich.
Die meisten Dinge sind ja nicht bloß materiell vorhanden, sondern wir geben ihnen auch Attribute: sie haben einen Zweck, eine Funktion, einen Nutzen, einen Sinn oder eine Bedeutung. Diese Qualitäten wurden von Menschen vergeben, verliehen, zugeordnet, erfunden und letztlich auch so empfunden. Ein Attribut ist somit ein Merkmal, das angegeben wird. Als Übersetzung des Wortes Attribut ist deshalb Gegebenheit passender als der allgemein verwendete Ausdruck Eigenschaft. Eine Eigenschaft bezeichnet nämlich ein physikalisch vorhandenes Merkmal.
Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Sprache ja nur bemerken kann oder will, was für die Menschen dieser Sprache aus ihrer menschlichen oder gesellschaftlichen Sicht bemerkenswert erscheint. Eigentlich sind also auch die Eigenschaften Gegebenes, Erfundenes; "der Ball ist rot und leicht", das kann ich nur für mich und die anderen Menschen wissen, mit denen ich darüber rede - wie sieht er aus für einen Farbenblinden, für eine Biene, einen Hund. Das kann keiner wissen! Das Wort bedeutet buchstäblich nur: Was dem Ding zu eigen ist - nach Menschenmaß. Das Wichtigste an einer Eigenschaft ist, daß sie objektiv-materiell nach menschlichen Bezugssystemen vorhanden ist; also unabhängig davon, wie ein einzelner Mensch sie bewertet. Das steht im Gegensatz zu einer Gegebenheit, die ein subjektiv-ideelles, von uns persönlich oder gesellschaftlich vergebenes oder vereinbartes Merkmal ist.
Eigenschaften sind im materiellen Sinne vorhanden und können, im Prinzip, mit den Sinnesorganen wahrgenommen werden oder mittels Instrumenten objektiv festgestellt werden. Im Gegensatz dazu müssen Gegebenheiten subjektiv, persönlich empfunden oder geistig erkannt werden und anerkannt werden, da sie vom Bewußtsein selbst zugeschrieben, zugeordnet, eingesetzt oder auf andere Weise angegeben ("attribuiert") wurden. Gegebenheiten können also nicht mittels Sinnesorganen oder Instrumenten wahrgenommen werden, sondern müssen geistig wahn-genommen (gewähnt, geargwöhnt, erwähnt, erdacht) werden.
Die Unterscheidung nach Eigenschaft und Gegebenheit ist wichtig, bedeutet sie doch, daß nur Eigenschaften physikalisch-materiell verändert werden können. Gegebenheiten dagegen erfahren ihren Wandel auf dem geistig-intellektuellen Weg. Wenn uns also eine Gegebenheit stört, dann liegt das meistens an unseren Ansichten und Bewertungen, d.h. wir müssen unsere geistige Haltung ändern. Das geschieht am besten durch Nachdenken und im Gespräch mit anderen, also psychisch, kaum durch physischen Einsatz.
Die Unterscheidung zwischen Eigenschaften für Gegenstände der Realität und Gegebenheiten für Gegenstände der Virtualität ist eine Sichtweise, die dazu dient, festzustellen ob etwas real oder virtual ist. Anstelle von Realität und Virtualität, könnte man auch 'Wahrheit' und 'Wahnheit' sagen. Die Wahrheiten (Realitäten) werden mittels unserer körperlichen Sinnesorgane, auch vermittelt durch Instrumente, wahrgenommen, während die Wahnheiten (Virtualitäten) mittels unserer geistigen Fähigkeiten wahngenommen werden.
Der Unterschied zwischen Realität und Virtualität ist nur durch Wechseln von einer Sichtweise auf eine andere zu erkennen, d.h. es handelt sich um eine geistige Umschaltung von einer Deutungsweise auf eine andere. Man könnte, in diesem Zusammenhang von einem "Wahrnehmungsmodus" reden. D.h. Körper und Geist, Realität und Virtualität usw. erscheinen uns als verschiedene Dinge, weil sie durch verschiedene Wahrnehmungsmodi gesehen werden. Das Wahrnehmungssystem erzeugt, abhängig vom gewählten Wahrnehmungsmodus, unterschiedliche Erscheinungen. Im späteren Abschnitt über das "präsentative System" kommen wir hierauf noch zurück.
Unsere Ansichten bestimmen, was wir sehen und wie wir es sehen; deswegen heißt es auch Ansichten. D.h. was wir sehen, ist weitgehend davon abhängig, was wir meinen, glauben oder wissen. Der Begriff 'Ansicht' ist also wörtlich zu nehmen. Auch die Ideen, die wir gedanklich erfinden, führen zu neuen Deutungsweisen und Ansichten und somit zu neuen Wahrnehmungen bzw. Wahnnehmungen. So gibt es dann einen Bewußtseinsraum, in dem Gut oder Böse, Edel oder Gemein, Geistig und Ungeistig sich gegenüberstehen könnten.
Das Virtuelle hat Macht. Das Wort "virtuell" (von lat. vis = Kraft, virtus = Macht) beinhaltet die Bedeutung 'wirksam' oder 'wirkungsvoll'. Aber wie kann etwas, das es in der Realität gar nicht gibt, überhaupt eine Wirkung haben?
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