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4 Wissen und Wahrheit?
Immer wenn ich im Zusammenhang mit Unrecht und Vergebung das Wort 'Verantwortung' hörte, hörte ich innerlich auch den Begriff 'Schuld'. Wer ist unschuldig, wer ist schuld? Der Täter soll gefälligst die Schuld auf sich nehmen, dann brauche ich es nicht zu tun. Sein Geständnis würde mich befreien. Doch das stimmt nicht. Indem er die Schuld auf sich nimmt, die ich ihm auferlegen will, vergrößert sich nur die Schuld, die ich mir selbst aufbürde.
Das Gewissen quält. Meist sagt das Gewissen ganz laut "du solltest jetzt...", viel öfter aber sehr leise "Hast du die Liebe vergessen?". Gewissen ist ein doppelter Drang, einmal der des biologischen Bedürfnisses zu Liebe, Anerkennung, Wertschätzung im Sein, im "Wir ohne Herrschaft", das der Neurobiologe Joachim Bauer beschreibt in "Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren" und schon 100 Jahre früher der Naturwissenschaftler Kropotkin 1902 in "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt". Dieses Bedürfnis lebt sich als freudiges Schenken und Empfangen aus der Fülle. Doch zum anderen verwandelt sich das zum neurotischen Zwang [1] im Haben, im "Wir unter Herrschaft", in Unterdrückung. Dieser Zwang nährt sich aus Regeln über Fordern und Zuteilen aus dem Mangel. Dann wird Liebe, Anerkennung, Wertschätzung zum virtuellen LAW-Virus [2]
So hat das "Gewissen" ein doppeltes Gesicht, einerseits die biologische Gewissheit, im "Wir ohne Herrschaft", immer Liebe, Anerkennung, Wertschätzung empfangen und schenken zu können, andererseits die neurotische Gewissheit, im Herrschafts-Wir, doch gefälligst Liebe, Anerkennung, Wertschätzung erlangen und abgeben zu sollen. In beiden Arten von Gewissheit kann ich verfehlen.
Wenn ich in der Stunde meines Todes das Buch meines Lebens aufschlage, kann mir deutlich werden, wo ich Liebe verfehlt habe, wo ich Liebe ausgeschlagen oder nicht verschenkt hatte. Das ist nicht Schuld - das ist Schmerz; da hatte mein Gewissen gefragt "Hast du die Liebe vergessen?". Da war ich in Sünde gefallen (griech. hamartía = Zielverfehlung, harmatáno = (ver)fehlen, nicht erreichen, entbehren, vergessen) - ich hatte mich vergessen (vgl. 9.2 Sünde).
Sünde im christlichen Sinne recht verstanden ist nur möglich, wenn die Motivation des Sünders in Lieblosigkeit besteht. Den Begriff "Sünde" auf die Bereiche Sexualität, Essen und Trinken, Gedanken und Phantasien, den gesamten Bereich von Lebensäußerungen auszuweiten, ist nichts anderes als der Versuch einer wie auch immer definierten Kontrollinstanz, alle diese Lebensäußerungen unter ihren Einfluss zu bringen. Die Auswirkungen einer solchen Kontrollhaltung sind unabsehbar und sie zeigen sich in den alles durchdringenden Schuldgefühlen und in der allgegenwärtigen Angst, die die Angehörigen einer so kontrollierten Gesellschaft, z.B. unserer christlich-abendländischen, beherrschen.[3]
Auf der 2. Variante von Gewissheit beruht das "Gewissen", das sagt "du solltest jetzt...". Das wollen ihren Anhängern die Religionen, Staatsapparate und die in ihnen verfassten Gruppen, wie z.B. Familien, Parteien, Bünde eintrichtern, um ihre Herrschaft zu festigen. Das tun sie mit dem Schüren der Angst vor Schuld.
Schuld ist ein großes Thema. Ganze Industrien, wie z.B. Banken und Versicherungen, leben davon. Berufsstände wie z.B. Juristen, Sozialarbeiter, Polizisten und viele mehr sind dadurch entstanden. Der Duden - Die deutsche Rechtschreibung, 2004, liefert 51 Begriffe. Der Brockhaus, 2002, wirft zum Suchwort <Schuld> 69 Artikel aus, hier insbesondere:
Schuld, Philosophie, Religion: 1) etwas, das man tun soll, eine Schuldigkeit;
2) Schuldigwerden, die Übertretung eines im Rahmen eines allgemeinen Normenkodex vorgegebenen beziehungsweise auf Gott oder die Götter zurückgeführten Gesetzes oder Gebots oder das Bewusstsein, der erkannten sittlichen beziehungsweise religiösen Pflicht zuwidergehandelt zu haben. Beurteilungsinstanzen der Schuld sind das eigene Gewissen, vor dem das Individuum sich als schuldig erfährt (Schulderfahrung, Schuldgefühl), Gott, die anderen Menschen. Die Religionen und das antike Drama zeigen, dass Schuldigwerden eine Urerfahrung des Menschen darstellt. (siehe: Sünde)
Schuld, Psychoanalyse: Das (v.a. neurotische) Schuldgefühl, die subjektive, bewusste oder unbewusste Überzeugung, einer Person Unrecht angetan oder gegen ein Gebot oder Gesetz verstoßen zu haben, wird psychoanalytisch v.a. als Ausdruck eines innerpsychischen Konflikts gedeutet; in der Therapie wird dessen Bewältigung versucht.
Schuld, Strafrecht: die Vorwerfbarkeit der Willensbildung des Täters. Sie setzt voraus, dass der Täter statt des rechtswidrigen einen normgemäßen Handlungswillen hätte bilden können; Schuld ist gegeben bei Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Das Vorliegen von Schuld ist Voraussetzung für die Bestrafung und Grundlage für die Zumessung der Strafe. Schuldausschließungsgründe (Entschuldigungsgründe) sind v.a. Schuldunfähigkeit, entschuldigender Notstand (§35 StGB), unvermeidbarer Verbotsirrtum und Tatbestandsirrtum (Irrtum). Die Schuldfrage (ob der Angeklagte der Tat schuldig ist) besteht aus der Beweisfrage (ob die Begehung der Tat durch den Angeklagten erwiesen ist) und der Frage nach der Gesetzesanwendung (Subsumtion; ob ein im Strafgesetz bezeichneter Tatbestand vorliegt). Sie umfasst ferner die Strafe ausschließende, mindernde oder erhöhende Umstände.
Schuld, Zivilrecht: 1) als Verbindlichkeit die Verpflichtung des Schuldners zu einer Leistung (Tun oder Unterlassen) aufgrund eines Schuldverhältnisses; 2) als Vorwerfbarkeit die Bewertung eines menschlichen Verhaltens (Verschulden).
Das "Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm", Der Digitale Grimm, liefert ebenfalls viele Seiten, von denen ich nur kleine Auszüge zeigen will:
[15,1870] SCHULD [Lfg. 15,10], f. zahlungsverpflichtung, vergehen, ursache.
I. form und verwandtschaft.
1) schuld ist ein verbalabstractum zu dem german. verbum (präteritopräsens) skulan (s. sollen), das auszerhalb des german. nur in den baltischen sprachen entsprechungen hat, vgl. lit. skeliù, inf. skeléti schulden, skylù, inf. skìlti in schuld geraten, skolà schuld, altpreusz. skellants schuldig, skallisnan (acc.) pflicht, schuldigkeit, ...
II. bedeutung.
1) seiner herkunft entsprechend bezeichnet schuld zunächst etwas, was man soll oder schuldig ist, eine verpflichtung oder eine leistung, wozu man verbunden ist. doch ist diese verwendung nur in den früheren perioden der deutschen sprache lebendig: althd. sô i? mîn scult (schuldigkeit) uuâri, ...
2) in der neuern sprache ist die verwendung von schuld auf einen speciellen fall eingeschränkt, nämlich auf die verpflichtung zu einer geldzahlung, die aus einem vorhergegangenen darlehen erwächst, das geld, das man von jemand entliehen hat und ihm zurückzuzahlen verpflichtet ist; ganz analog dem lat. debitum und seinen romanischen nachkommen. diese bedeutung ist mnd. noch nicht üblich, wol aber ...
SCHULD [Lfg. 15,10], adj. schuldig, die ursache bildend.
1) die altgerm. dialecte kennen ein adj. skuld, das eigentlich nichts als das part. perf. pass. zu skulan, ist, wie das subst. schuld des verbalabstractum (also der vorgänger unserer neubildung gesollt). es ist in folgenden sprachen bezeugt: goth. in der verbindung skuld ist man soll, musz, darf, es ist erlaubt, und substantiviert skuldo, n. das schuldige, gebührende: usgibiþ nu allaim skuldo. ...
2) erst nhd. begegnet schuld wieder in adjectivischer function und zwar ganz in der bedeutung 7 bez. 8 des substantivs. es ist kaum anzunehmen, dasz das alte adjectiv darin fortleben sollte; dazu ist die zeitliche kluft zu grosz, und auch die bedeutung weicht ab. es ist also wol nur das subst. schuld in prädicativer verwendung und ohne artikel (selten die schuld sein: ...
Und der Grimm bringt es für mich auf den Punkt: Es geht hier stets um ein SOLLEN. Etwas zu sollen kommt aus dem Feld der Gegebenheiten, der Wahnheiten, aus der Welt der Virtualität, nicht der Realität. Zu sollen ist Gedachtes, ist nicht leben. Das Universum, so mein fester Glaube, ist ein konkreter Ausdruck seiner Liebe zu sich selber. Darum kennt es kein Sollen, also auch keine Schuld. Die Planeten kreisen um ihre Sonne nicht weil sie das sollen - es ist ihr Leben. Meine Herzmuskelzellen spannen und entspannen nicht weil sie das sollen - es ist ihr Leben. Leben ist ständige, unvorhersehbare Evolution, ist Driften, kein Sollen zu einem Ziel. Nur weil ich mich in meinen Geschichten über eine Vergangenheit festhänge, lasse ich mir Gedanken kommen über Ziele, ich sollte gleich, morgen, bis an mein Lebensende dieses oder jenes sollen, wollen, mögen, dürfen, müssen. Und so, wenn ich der Forderung dieses "Gewissens" nicht folge, mache ich mich "schuldig", vor mir und vor allem den Anderen.
Meine Unschuld finde ich erst wieder, indem ich die Verantwortung für mein eigenes Leben völlig annehme. Das ist allein meine Angelegenheit. Und der andere muss die Wahrheit über die von ihm getroffene Wahl selbst herausfinden. Er muss sich selbst befreien. Für mein Leben spielt nur das eine Rolle, was ich mir selbst antue. Meine Selbstverantwortung bedeutet, aus dem Zustand meiner Wahrheit zu antworten. Wenn das Opfer seine Verantwortung an sich selbst zurück gibt, nimmt es seine Macht und Gelassenheit zurück, wird ein frei und in Eigenmacht Handelnder. Als Freie und Souveräne gehen wir aufeinander zu und miteinander um. Verantwortung hat nichts mit Schuld zu tun.
Im Buch meines Lebens wird verzeichnet sein, wo ich um dieser von den Institutionen geschürten Angst willen mich in meiner Liebe zu mir verfehlt, mich nicht beschenkt habe, wo ich mich nicht mehr als freier Souverän erkannt habe und mich blind gemacht habe selbst für die Liebe der anderen Freien. Das laute "Gewissen" des "du solltest ..", das könnte der Verstand sein mit seinem ununterbrochenen Berechnen von möglichem Nutzen-Aufwand zu möglichen Strafen, seinem sich Sorgen und sich Ärgern, mein Ego. Das leise "Gewissen", das könnte die Stimme der Seele sein. Die begleitet mich auf Schritt und Tritt, immerzu. Sie drängt sich nicht auf, aber wenn ich nach ihr schauen würde, wäre sie da.
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