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1 Einleitung
"Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen". Dieser Luther-Spruch kommt mir oft in den Sinn, wenn ich Freunde treffe, die sich mit Endzeit-Prophezeiungen auseinandersetzen. Sie suchen nach den garantiert sicheren Methoden, solche Zeit des Umbruchs heile, z.B. als Lichtkörper, zu überstehen. Bei diesen Methoden wird nur zu oft übersehen, dass es dabei wohl weniger um das Finden eines sicheren Ortes gehen kann als um das Entfalten von Bewusstheit. Es geht um das Finden von Klarheit und Frieden im eigenen Kopf, um Liebe und Wahrheit im eigenen Herzen. Es geht um Wandlung, um Sterben. Denn Leben ist ständiges Absterben und Neuwerden, nicht das Festhalten an Gedanken-Gebäuden, an Konzepten, wie Leben zu funktionieren habe.
Es gab und gibt aber anscheinend in Deutschlands Geisteswelt einen Hang zur Schicksalsergriffenheit, einen verhängnisvollen Drang zur Flucht in die willige Abtretung eigener Verantwortung an unklare geschichtliche Bewegungsgesetze. Die Neigung, in Ausnahmesituationen jede lebenspraktische Tatkraft des freien Menschen als vergebliche Liebesmüh abzutun und lieber von welthistorischen Wirkmächten zu raunen, ist ziemlich lebendig. Die Neigung, in Krisenzeiten "Feuer" zu rufen und darauf stolz zu sein, ist ein Verrat derer, die einen klaren Kopf bewahren könnten, an denen, die auf gangbare Wege hoffen. Wenn Menschen einander ermutigen und wir Vertrauen in uns setzen, statt sich als Schicksalspropheten zu gefallen - dann sind Krisen keine Götterdämmerung mehr, sondern werden zu rationalen Fragen mit rationalen Antworten. Ich glaube, wer Zukunft nicht aktiv gestaltet, hat keine. Oder will keine. Deshalb bin ich für Zukunftsoptimismus, aber auf der Grundlage der persönlichen Bereitschaft zur Gestaltung dieser Zukunft. Deshalb will ich wissen, um zu verstehen.
"Alles, was du jemand anderem sagst, ist, damit du es hörst. Wer hört nicht zu?" Dieser Satz schließlich gab den Anstoß, hier nun für mich aufzuschreiben, was ich anderen Menschen in Therapiesituationen oder in Mailinglisten oft erzählt habe. Denn ich habe bemerkt, dass einige danach etwas weniger leiden an ihrer Welt.
Wenn in einem Gespräch die schwarze, schwere Kanonenkugel, die Atem beklemmend dem Leidenden die Brust füllte, nun sich verwandelt in ein goldenes Schwert der Liebe, das in der warmen, lichten Halle des Herzens schimmert, dann verändert das nicht nur den Leidenden. Dieses Erleben und mein Begleiten dabei macht auch mich froh.
Als ich anfing, im März 1999 unter "Betr.: Enttaeuschung, Beziehungsstress: das innere Kind, die Maske, niederes und hoeheres Selbst" diesen Text zu schreiben, hatte ich noch den Eindruck, einem Geheimnis auf der Spur zu sein, eine Spur, die ich unbedingt mitteilen sollte, um möglichst viele daran teilhaben zu lassen. Das Projekt der Aufklärung ist noch lange nicht vollendet.
Das Zeitalter der Aufklärung (englisch "age of enlightenment", französisch "siècle des lumières"), das Ende des 17.Jahrhunderts in England seinen Ausgang nahm und im 18.Jahrhundert das geistige Leben in ganz Europa und Nordamerika bestimmte, hatte als Grundanliegen, dem Menschen mithilfe der Vernunft zum "Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" (I.Kant) zu verhelfen. Doch der Erkenntnisfortschritt bewirkte schließlich vor allem die Ausarbeitung eines materialistischen Weltbildes. Die spirituellen Dimensionen von Leben warten noch auf "enlightenment", auf die Aufklärung.
Unter Verzicht auf Transzendenz bemüht das materialistische Weltbild sich um eine Deutung der Zusammenhänge im Glauben an den Fortschritt, Fortschritt der Menschheit in eine bessere Zukunft, und dies im Bereich der Vernunft, des Wissens und der Freiheit ebenso wie auf dem Felde der Technik und der Zivilisation. Seit uns Quantenphysik immer neue Modelle zum Weltverständnis anbietet, dürfen wir Transzendenz - und das meint nichts Theologisches oder Esoterisches - nicht mehr ausschließen. Der Realismus (Naturalismus), dessen empiristisch geprägte erkenntnistheoretische Position nur die Körperwelt, das, was man messen, zählen, wiegen kann, als real gelten läßt, noch ausgeprägter der Szientismus, der versucht, Methoden und Prinzipien naturwissenschaftlicher Forschung (insbesondere der Physik) auf die Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften zu übertragen, mögen für einfache Hypothesen über technische Zusammenhänge gut sein. Für die Wirklichkeiten und Wahrheiten eines persönlichen Lebens greifen sie zu kurz. Die Realisten meinen, sie glauben nur, was sie sehen. Tatsächlich belegt Neuropsychologie, dass wir sehen, was wir glauben!
Mein individuelles Leben erschließt sich mir erst dann in einem weiten Panorama, wenn ich den Teilchen-Welle-Dualismus meiner materiellen Existenz ganz akzeptiere. Dann verlieren Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstliebe ihren hypothetischen Charakter und werden handgreiflich und lebbar in der Buntheit und Vielfalt des Alltags. Und darum geht es mir in diesem Text.
Inzwischen habe ich bemerkt, dass es zahllose ähnliche, vor allem zahllose wissenschaftlich bestätigte Ansätze gibt, die in dieselbe Richtung wie mein Ansatz von 1999 weisen. Menschen, die am liebsten auf intellektuelle Weise ihrem Verstand folgen, haben solche Erfahrungen als esoterischen Schnickschnack von sich gewiesen. Denen kann ich heute sagen, das sind keine okkulten Praktiken, Lehren von Weltanschauungsgemeinschaften, oder "innere Wege" zum Erlangen bestimmter spirituelle Erfahrungen, das ist gut untersucht und es gibt genug Angebote, wo Du selber auf solche Weise Dich erfahren und ausprobieren kannst.
So schreibe ich denn weiter an diesem Text. Denn mit dem Aufschreiben kann auch ich daraus selbst lernen, noch weniger an meiner Welt zu leiden. Es ist ein interessanter Prozess, wie sich mit dem Schreiben, mit jeder Bearbeitung, mein Bewusstsein und damit meine Welt verändern, wie sich "Unsagbarkeit" schärfer profiliert.
Dieses Bewusstsein, wie die Welt funktioniert und wie man darüber sprechen kann, ist nicht etwa eine Marotte im Kopf. Es sitzt tief unter der Haut. Ich habe das täglich im Beruf studieren können. Ich war "Beamter des bautechnischen Verwaltungsdienstes" und habe mir meist in den Schnittmengen von Recht und Technik die Aufgaben gesucht. Juristen und Ingenieure seien natürliche Feinde, heisst es: "Juristen kennen den Weg und suchen das Ziel; Ingenieure kennen das Ziel und suchen den Weg". Die beiden Berufsstände haben ihre Mitglieder vom Beginn des Studiums an grundlegend unterschiedlich sozialisiert.
Eine Fernstraße soll eine Wasserstraße queren. Die zuständige Verwaltung muss das planen. Ihre Ingenieure ermitteln die vorhandenen und die neuen technischen und wirtschaftlichen Tatsachen und geben diese an die Juristen ihrer Verwaltung. Die Juristen kennen die anzuwendenden Gesetze und die einschlägigen Paragraphen für das Planfeststellungsverfahren und erarbeiten subsumierend den Planfeststellungsbeschluss, d.h. sie prüfen, wie die technischen Tatsachen zu den Rechtstatsachen von Pargraphen und deren Rechtsfolgen passen und ordnen diesen Paragraphen weiteren Rechtsnormen unter, bis der Plan steht.
Der ganze Weg, von der Idee zur Kreuzung an irgendeinem Schreibtisch bis zum vollendeten Bauwerk in der Landschaft, ist begleitet von zahllosen Interessenkonflikten, die nach meinem Eindruck weniger aus Tatsachen als insbesondere aus den verschiedenen Herkommen, Denk- und Sprechstilen der Konfliktpartner genährt werden. Ich hatte das Glück, einige Jahre mit einer Rechtsanwältin zusammen zu leben, die die unter Juristen seltene Gabe hat, ihre Fachsprache in schlichte Alltagssprache übersetzen zu können, und von ihr zu lernen.
Und so erlebe ich mich bis heute, auch an diesem Text über "Selbsterkenntnis und Eigensinn", mal nach Art der Juristen den Weg subsumierend, mal nach Art der Ingenieure das Ziel konstruierend. Meist aber füge ich ingenieurmäßig ein Konstruktionselement an das andere, in der Gewissheit, dass jeder Leser seinen Sinn darin finden wird.
Mir erscheint Leben als schrittweises Entscheiden wie beim Bauen. Die Antworten der Architektur sieht der Architekt Ludwig Mies van der Rohe weder in der Form als Endzweck des Bauens noch in der Verabsolutierung der Funktion oder der Vergötzung des technisch Machbaren. Form, Funktion und Technik, all das spielt eine Rolle, aber zuallererst sei Bauen "ein geistiges Problem".
Noch in anderer Weise erlebe ich mich in zwei Welten. Ich bin Buchhalter und Anarchist, weil beides notwendig ist [*]. Als Beamter, eingebunden in Verwaltungs-Hierarchie, ernährte ich meine Familie. Als Missionar für die anarchistische Idee Freundschaft [1] mit Kindern, der Idee grundlegender Selbstverantwortung von Geburt an, bin ich durch unsere Republik gereist. Und auch in diesen beiden Haltungen schreibe ich hier, in der Gewissheit, dass jeder Leser seinen Sinn darin finden wird.
Solche Doppelgesichtigkeit empfinde ich nicht als Zwiespalt, kein Hin- und Hergerissensein, im Gegenteil. Ich erlebe das als mein lustvoll neugieriges Umkreisen von einander scheinbar ausschließenden Möglichkeiten. Die tragen jede ihre Wahrheit in sich und erinnern mich dadurch: Die ganze Wahrheit ist unwissbar, und, ich treffe ununterbrochen Entscheidungen über meine Wahrheit.
Die Bewusstheit meiner Wahl bedingt Kritikfähigkeit, die aus der Liebe zu mir selbst und nicht aus uneingestandener Angst vor dem Unbekannten kommt. Diese Kritikfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung, um wirklich von den Quellen der Wahrheit profitieren zu können. Jede bewußt getroffene Entscheidung und die Bejahung ihrer Konsequenzen kann mich befreien von den Konflikten und Schmerzen, die ich gewohnheitsgemäß auf mich zu laden möglicherweise schon als Kind gelernt hatte durch unbewusste Entscheidungen, durch das Zuweisen von Schuld bzw. das Abladen von Verantwortung auf andere, auf die Umstände, auf die Lebensbedingungen. Das sind alles dunkle, kaum greifbare Nebelbänke auf meinem Wege, Nebel von unbefragten Urteilen meiner Lehrer wie z.B. Eltern, Freunde, Bücher, Filme.
Ich treffe meine Wahl in meiner Verantwortung. Ich entscheide, natürlich wohl meist unbewusst, über jede einzelne Reaktion auf alles, was mir in einem langen Leben zustößt. Ich entscheide, ob ich mehr den Stimmen der Liebe oder denen der Angst folgen möchte. Dabei mag es wohl sein, das 80% meiner Entscheidungen bedingt sind durch meine Gegebenheiten, z.B. meine sozialen und biologischen Bedingungen. Diese Entscheidungsfreiheit ist eine Freiheit der Seele und keinesfalls zu verwechseln mit der Willensfreiheit des Verstandes. Verantwortung macht frei.
Mein Schreiben hier auf dem Papier kann nur eine Aneinanderreihung von Wörtern sein. Jeder Absatz bildet eine Kette von Wörtern, die solides, schlüssiges Denken andeutet. Doch tatsächlich ist der Gegenstand meines Schreibens die Betrachtung einer Summe dichter, funktionaler Netze von Verhalten und von Gedanken mit daran hängenden Gefühlen, mancher Absatz eine Kugel, rund, kaum zu greifen. Dennoch vertraue ich darauf, dass jeder Absatz in dem Zusammenhang aller Kapitel dieses Buches dann wieder klar und einleuchtend wird.
Dieser Text ist als immer weiter sich entfaltende Kollage gestaltet. Durch die Montage entstehen Zwischenräume, aus denen ein anderes Licht auf das Montierte fällt. Jedes Kapitel, eigentlich jeder Abschnitt, kann für sich gelesen werden, wenn auch die 76 Abschnitte in 12 Kapiteln sich letztlich erst gegenseitig erklären. Im ersten Drittel habe ich überwiegend einige theoretische Grundlagen zusammengetragen. Im zweiten habe ich deren praktische Durchführung betrachtet und im letzten Ausblicke auf Handfestes in meinem Alltag, das mir solche Theorie und Praxis für mein Leben zu bieten scheinen.
[1] Die Gründungssitzung mit Unterschriften (Jans, Hubertus, Ferdinand, Dorothee, Brigitte, Mechthild, Hans-Jürgen, Rosi) unter die Satzung war am 30.10.78. Da hatten wir 8 Leute den Willen, den Verein FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Förderkreis ins Leben zu rufen. Das Registergericht bestätigte am 2.4.79 durch den Registereintrag.
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