Hauptmenü
7 Wo und was ist Ich?
Yuan-sou, Zen-Meister (14. Jh.) sagte dazu: "Im Grunde ist da kein anderer, kein Ich, kein gewöhnlich, kein heilig, kein Geist, kein Buddha, kein Ding, kein Zen, kein Tao, kein Mysterium, kein Wunder. Nur durch einen Augenblick des subjektiven Unterscheidens, des Anhaftens und Zurückweisens, wachsen lauter Hörner an deinem Kopf und du wirst von den Zehntausend Dingen unentwegt hierhin und dahin gezerrt und kannst nicht frei und unabhängig sein."
Joanna Macy, geb. 1929, Ph.D., Autorin, lehrte Buddhismus, Systemwissenschaften und Tiefenökologie und engagierte sich für Frieden, soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt. Sie lebt heute in Berkeley, Kalifornien. (Joanna Macy: 'Fünf Geschichten, die die Welt verändern', Junfermann Verlag)
Joanna Macy sieht in der Dankbarkeit eine subversive Kraft, die uns von dem Gedanken befreit, nicht gut genug zu sein, von der Angst, zu kurz zu kommen, nicht genug zu haben, nicht mithalten zu können, nicht modern genug, nicht schön genug zu sein. Dankbarkeit befreit uns vom Zwang zum Konsum und von mangelnder Rücksichtnahme auf unsere Mitgeschöpfe, die unter unserem ständig wachsenden Wohlstand leiden. "Diese Erkenntnis ... rüstet uns mit einer Grundvoraussetzung aus, uns für den Wandel einzusetzen, uns quer zu stellen gegen das Fortschreiten des alten Systems." Es geht ihr darum, die "Energie des Herzens" zu wecken.
Sie sagte, u.a.: Wir befinden uns in einem Prozess der völligen Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Unabhängig von dem, was wir an diesem Punkt dagegen tun, ist es sicher, dass künftige Generationen dazu verdammt sein werden, in einer schwer geschädigten Umwelt zu leben.
Ich glaube, dass die Krise, in der wir uns befinden, im Kern geistiger Natur ist. Es ist wie eine Krankheit, die die Kultur ergriffen hat. Sie führt dazu, dass wir unsere tiefsten Werte völlig in Frage gestellt haben und nicht mehr wissen, woran wir uns orientieren sollen. Man kann auch von einem moralischen Kollaps sprechen, der darauf beruht, dass die Beziehung zwischen uns und den Dingen und Wesenheiten in unserer Mitwelt zusammengebrochen ist. Unsere Gesellschaft krankt an ihrem Anthropozentrismus. Durch ihn verstehen wir uns als Krone der Schöpfung und als Mittelpunkt der Welt. Dabei ist der vielleicht größte Mangel unserer Kultur eine wirklich inspirierende Vision einer gesunden Beziehung zwischen uns und der uns umgebenden Welt.
Die größte Gefahr besteht darin, wir haben Angst. Wir glauben, so zerbrechlich und klein zu sein, dass es uns in Stücke reißt, wenn wir es uns erlauben, unsere Gefühle über den Zustand der Welt anzuschauen. Wir fürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir es aussprechen, merken wir, dass wir nicht isoliert sind, sondern dass dieser Schmerz weit hinausgeht über das kleine Ego und Konsequenzen hat, die jenseits unserer individuellen Bedürfnisse und Wünsche liegen.
Wir erfahren dann nämlich eine Art größerer Identität. Wenn wir den Schmerz, den wir für die Welt fühlen, unterdrücken, dann isoliert uns das. Wenn wir ihn akzeptieren, anerkennen und darüber sprechen, dann wird er zum lebendigen Beweis unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen. Und er befreit unsere Hilfsbereitschaft. Ich bin in dieser Arbeit zu der Erkenntnis gekommen, dass unser Schmerz um den Zustand der Welt und unsere Liebe für die Welt untrennbar miteinander verbunden sind. Das sind nur zwei Seiten derselben Münze.
Was können wir tun, wenn die herkömmliche Art, die Welt wahrzunehmen und zu verstehen, vor dem Bankrott steht? Diese Einsicht ermöglicht gleichzeitig, uns für ein sehr viel größeres Verständnis des Lebens zu öffnen. Der Kern dieser neuen Sichtweise liegt darin, die Welt in einem größeren, lebendigen Kontext wahrzunehmen. Unsere Stellung in der Welt verändert sich grundlegend, wenn wir sie als ein lebendiges System verstehen und uns selbst als einen Teil eines im weitesten Sinne lebendigen Erdkörpers definieren.
Diese für immer mehr Menschen selbstverständliche Perspektive hat dramatische Folgen für die Art unserer Beziehung zur Welt, für unsere Kreativität, für unsere Lebensqualität und für unser inneres und kollektives Wachstum. Sie mag - angesichts der herrschenden Probleme in der Welt - visionär und verträumt wirken, kommt jedoch längst in unseren modernen Kulturen zum Ausdruck.
Eine Entwicklung sieht Joanna Macy auf drei wesentlichen Ebenen: Einerseits hat die Tatsache, da wir erstmals in der Geschichte der Menschheit mit der selbstverursachten Zerstörung der biologischen Lebensgrundlagen konfrontiert sind, die Chance eines Wandels erhöht. Keine Generation vor uns war mit derartig umfassenden Fragestellungen und Bedrohungen konfrontiert. Als eine Gattung, die - wie alle anderen - darauf programmiert ist, sich fortzupflanzen, kann die "Überlebensfrage" den Druck erhöhen, alte Denk- und Verhaltensmuster in Frage zu stellen und neue Konzepte zu akzeptieren. Zu keiner Zeit der Menschheit war das Wissen um die globalen Konsequenzen eines reduzierten, isolierten und abgetrennten menschlichen Selbstbildes so groß und der Bedarf an neuen "verbundenen" Sichtweisen so hoch wie heute.
Zudem versorgt uns die moderne Wissenschaft seit einigen Jahren mit schlüssigen Theorien und konzeptionellen Denkmustern, die uns wie Werkzeuge dabei unterstützen können, die konventionellen Vorstellungen einer klaren Grenzlinie zwischen dem Individuum und der Umwelt aufzubrechen. Die vielen Forschungsansätze in der Biologie, Physik, Chemie und Genetik, die das Geheimnis des Lebens entschlüsseln wollen, kommen ebenso wie die systemtheoretischen Ansätze zu dem Ergebnis, dass die klassische Trennlinie unseres Denkens zwischen der Person einerseits und ihrer Umwelt andererseits künstlich ist und dass es sich beim Leben stattdessen um einen wechselseitigen "inter-aktiven Prozess" handelt.
Zum Dritten haben alle großen religiösen Traditionen damit begonnen, sich wieder mit den Wurzeln einer ganzheitlichen, "nicht-dualistischen" Spiritualität zu beschäftigen, wo die scharfe Trennlinie zwischen dem individuellen Selbst und der ihn umgebenden Welt ebenso verschwimmt wie zwischen Gott und Mensch, Innen und Außen, Himmel und Erde.
Fangen wir mit der dritten Ebene an: Welche Wirkung kann eine solche Spiritualität politisch haben? Statt einer nur nach innen gerichteten Versenkung entsteht damit eine "soziale Mystik", in der Meditation und soziale oder ökologische Aktion eins werden. Diese Ansätze sind ein wesentlicher Zweig im Buddhismus, waren schon immer im islamischen Sufismus vorhanden und tauchen unter dem Begriff der Schöpfungsspiritualität nun auch verstärkt im Christentum auf.
Immer mehr Menschen beginnen sich zudem für die erdverbundenen Weisheiten indigener Völker zu interessieren. Weibliche Spiritualität entdeckt in den Traditionen uralter Mutter-Göttinnen fast verlorene ganzheitliche Konzepte. All diese Sichtweisen betonen die lebendige Heiligkeit der Welt. Der Weg geistiger Suche wird hier nicht länger als eine Flucht aus der schlechten Welt in irgendeinen paradiesischen Himmel angesehen. Vielmehr wird hier die Weit selbst zum Kloster, die Welt selbst als Arena einer geistigen Transformation verstanden, die Welt selbst zum geistigen Lehrer oder gar zum heiligen Ort.
Wo berühren sich die ganzheitlichen Ansätze aus Religion und moderner Naturwissenschaft? Die ganzheitlichen Ansätze in Wissenschaft oder Theologie betonen im Kern in immer wieder neuen Ausdrucksformen die wechseiseitige Verbundenheit des Menschen mit dem Leben und allem, was existiert. Bis in unser Jahrhundert war die klassische westliche Wissenschaft von der Annahme ausgegangen, dass man die Weit verstehen und unter Kontrolle bringen kann, indem man sie in immer kleinere Stücke aufspaltet, dabei den Geist von der Materie, die Organe vom Körper, die Pflanzen von ihren ökologischen Systemen trennt und jedes Teilstück für sich untersucht. Wir haben viel dadurch lernen können, aber auch wesentliche Fragen nicht gestellt, nämlich wie die Einzelteile zusammenwirken und kooperieren, um das Leben als Ganzes zu erhalten.
Immer mehr Wissenschaftler begannen deshalb damit, mehr das Ganze anstelle der Teile, mehr Prozesse anstelle von isolierten Substanzen zu betrachten. Was sie dabei entdeckten, war, dass dieses Ganze - ob es sich um Zellen, Körper, Ökosysteme oder sogar den Planeten selbst handelt - nicht nur aus einem Haufen einzelner unverbundener Teile besteht, sondern aus dynamischen, kompliziert organisierten und ausgewogenen Systemen, die miteinander in Beziehung stehen und bei jeder Bewegung, jeder Funktion und jedem Energieaustausch wechselseitig voneinander abhängen.
Diese Sichtweise widerspricht eigentlich zutiefst unserem individuellen Selbstverständnis, jedoch nur auf den ersten Blick. Tatsächlich hat die moderne westliche Welt jedem ihrer Bewohner durch Erziehung, Schule und die Alltagserfahrung in einer konkurrenzbetonten Welt die Überzeugung mit auf den Weg gegeben, ein abgetrenntes und isoliertes Individuum zu sein. Die Menschen leben in der Wahrnehmung, sich als allein stehende Einzelwesen in einer Weit behaupten zu müssen, stärker sein zu müssen als andere, Macht erringen und ausüben zu müssen und sich gegenüber der Macht und Aggression anderer schützen und verteidigen zu müssen.
Anstatt uns selbst als veränderbare offene Systeme zu begreifen, haben wir uns in unseren privaten Beziehungen, in unserem wirtschaftlichen Verhalten und in unserer zwischenstaatlichen Politik einer entsprechenden Burgmentalität untergeordnet, die in unserem Privatleben zu Verhärtung, im Wirtschaftlichen zur Konkurrenz, Macht- und Gewinnsucht und im politischen zum Kalten Krieg geführt hat.
Verstehen wir die Welt als ein zusammenhängendes Ganzes und uns als integralen Bestandteil davon, dann springen wir damit auf eine neue Ebene der Erfahrung, des Bewusstseins, der Wahrnehmung von der Natur der Wirklichkeit und unseres Verhaltens in ihr. Als offene Systeme sind wir an der Schöpfung der Welt beteiligt. Wenn unser Bewusstsein und Wissen wächst, so erweitert sich auch das Bewusstsein und Wissen des Netzes. Es scheint, als seien wir Teil eines größeren Bewusstwerdens. Das Netz des Lebens trägt uns und ruft uns dazu auf, weiter an ihm zu knüpfen.
Psychologisch bewirkt dieser Perspektivenwechsel einen Wandel vom Gefühl der Isolation und Angst hin zu Vertrauen. Statt das ganze System zu dominieren, um mühsam die Kontrolle zu behalten, kommen wir in dieser Wahrnehmung dazu, wirklich am Ganzen teilzunehmen. Es ist ein Wechsel von einem kontrollierenden hin zu einer annehmenden Haltung, die die Vielfalt der Realität begrüßt und zu nutzen weiß. Und es ist ein geistiger Wandel, der uns von eimem orthodoxen Glaubenssystem und der Abhängigkeit von fremden Autoritäten zu einer radikalen Offenheit gegenüber der Authentizität der eigenen Erfahrung zurückbringt.
Es handelt sich also um den Wechsel hin zu einem neuen Wahmehmungsmuster oder einem neuen Code, mit dem wir die Wirklichkeit entschlüsseln. Es ist ein Wandel von dem Gefühl der Isolation zur Wahrnehmung der Teilhabe, also zu ein Gefühl, ein integrierter Bestandteil von etwas Größerem zu sein. Er ermöglicht uns, auch unsere Erfahrungen in einem neuen Kontext verstehen zu lernen. Es ist wie Befreiung aus einem Käfig.
Das heißt nicht Rückkehr zum Kollektiv. Im Gegenteil! Es kann nicht mehr darum gehen, Individualität aufzugeben und in die Masse des Kollektivs zurückzukehren. Ein uniformer Monolith hat keine innere Intelligenz. Das dynamische, sich selbst organisierende Ganze lebt von der inneren Vielfalt und Lebendigkeit seiner Teile. Darin liegt das Paradox der Individuation: Je mehr ich werde, was ich bin, desto mehr kann ich zum schöpferischen Teil des Ganzen werden. Das Gemeinsame im Ganzen kann erst lebendig werden, wenn die inneren Unterschiede volle Anerkennung finden. Es geht der Evolution also wohl darum, das wir werden, was wir sind und so unseren Beitrag leisten.
Tiefenökologie sieht die Erde als ein lebendes System, in dem alle Dinge miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Tiefenökologie unterscheidet sich von der traditionellen Ökologie dadurch, dass sie über den Anthropozentrismus hinausgeht, der alle ökologischen Probleme immer nur zum Nutzen, zum Vorteil oder zum Profit der Menschen reparieren will. Tiefe Ökologie konzentriert sich statt dessen auf die essentiellen Kreisläufe und Systeme der Natur selbst, um uns selbst dann zum Diener der Gesundheit des größeren Ganzen zu machen.
Und das befreit uns dazu, glaube ich, mit mehr Weisheit und Inspiration zu handeln. Dieser Ansatz versorgt uns zudem mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zu unserem Universum. Es bringt uns heraus aus dem Gefühl der Isolation, der Entfremdung und Ausbeutung, hin zu einem Gefühl der Gemeinschaft mit dem lebenden Erdkörper und all seinen Manifestationen. Und das hat einen ganz wichtigen Effekt: Es löst unsere Hilfsbereitschaft und unsere Kreativität aus.
Ich glaube nicht, dass der Mensch dann wieder in der Rolle des Machers landet, diesmal als Retter. Ein zentraler Grundgedanke der Tiefenökologie besteht darin, allem einen inneren Wert zuzuerkennen - allen Lebensformen und der Natur selbst als lebendes selbstregulierendes System. All das hat seine innere Schönheit, seine eigene Würde, sein eigenes Existenzrecht. Darin liegt eine verehrende Haltung. Es geht erst mal nicht ums Machen, sondern um die Anerkennung z.B. der Tatsache, dass der Regenwald ein Lebensrecht hat und eine wichtige Funktion als Organ im lebenden Erdkörper. Wenn wir das begreifen, empfinden wir Mitgefühl - und das ist die tiefste Form der Liebe und der Verehrung.
Gleichzeitig wird uns bei dieser Sichtweise klar, wie eng wir mit diesem Erdkörper verwoben sind, wie er ein Teil von uns und wir ein Teil von ihm sind. In der Tiefenökologie sprechen wir von der Entwicklung unseres 'ökologischen Selbst': Wir erfahren uns als wesentliche und einzigartige Bestandteile dieses größeren lebenden Ganzen. Wir sind keine isolierten Macher. Wir stehen vielmehr in einer ganz persönlichen Beziehung zur Welt und können uns davon tragen und unterstützen lassen.
Es gibt keine Richtlinien, an denen sich der Einzelne orientieren kann. Ich ermutige die Leute dazu, sich für die Lösung der Probleme ihre eigenen Richtlinien zusammenzustellen. Ich habe ein paar, die sich als sehr nützlich erwiesen haben. Die erste ist, dankbar dafür zu sein, in einer Zeit zu leben, die so sehr zur Veränderung herausfordert und diesen sinnlichen, fast erotischen Instinkt in uns weckt, das Leben zu erhalten. Der zweite Ratschlag lautet: Hab keine Angst vor der Zukunft, die in der Dunkelheit liegt, keine Angst vor Ungewissheit, Stress, Verlorenheit, denn all das gehört zu einem einschneidenden Wandel dazu. Alles Neue reift zuerst im Dunkeln. Und wir können nicht auf fertige Pläne warten, um den nächsten Schritt zu tun. Der dritte Tipp ist: Ärmel hochkrempeln. Engagiere Dich politisch, verschaff Dir Durchblick, stell Fragen nach Ziel und Sinn! Es gibt so viel zu lernen und zu tun in dieser Zeit. Und viertens würde ich sagen: Habe Mut zur Vision!
Untermenü