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7 Wo und was ist Ich?
Dieses Dilemma beim "Ich untersuchen" von Wahr-Gebung und Wahr-Nehmung ist nicht nur dem praktizierenden Buddhisten vertraut. Es ist in der Kognitionswissenschaft und der Evolutionsbiologie gut untersucht. Im Folgenden gebe ich eine Zusammenfassung aus dem Buch von Francisco J. Varela - Evan Thompson mit Eleanor Rosch "Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft - der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung"; Scherz, 1992. (Im folgenden "Varela u.a.")
Phänomenologisch orientierte Kognitionsforscher, die über den Ursprung der Kognition nachdenken, könnten folgendermaßen argumentieren: Der menschliche Geist erwacht in einer Welt. Wir haben unsere Welt nicht entworfen, sondern fanden uns damit vor; wir erwachten nicht nur zu uns selbst, sondern auch zu der Welt, in der wir leben. Wachsend und lebend, reflektieren wir schließlich über eine Welt, die nicht geschaffen, sondern vorgefunden ist, und doch befähigt uns auch unsere Struktur, über diese Welt nachzudenken. In der Reflexion finden wir uns also in einem Zirkel: Wir leben in einer Welt, die der Reflexion vorauszugehen scheint, aber nicht von uns getrennt ist.
Dem französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty eröffnete die Anerkennung dieses Zirkels einen Raum zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Aussen. Dieser Raum war keine trennende Kluft; er umfasste die Unterscheidung zwischen Ich und Welt, stellte jedoch gleichzeitig die Kontinuität beider her. Seine Offenheit enthüllte einen Mittleren Weg, ein entre-deux. Im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) schrieb Merleau-Ponty:
"Beginne ich einmal zu reflektieren, bezieht sich meine Reflexion auf eine unreflektierte Erfahrung und kann sich darüber hinaus nicht als ein Ereignis verkennen. Und so erscheint sie sich selbst als wahrhaft kreativer Akt, als Wandlung in der Struktur des Bewusstseins, und muss doch anerkennen, dass die Welt, die dem Subjekt damit gegeben ist, dass es sich selbst gegeben ist, Vorrang vor ihren Operationen hat ... Wahrnehmung ist nicht Wissenschaft von der Welt, ist nicht einmal ein Akt, eine wohlerwogene Stellungnahme. Sie ist der Hintergrund, von dem sich alle Akte abheben und den sie voraussetzen: Die Welt ist nicht ein Objekt in dem Sinne, dass das Gesetz ihrer Schöpfung mein Besitz wäre. Sie ist die natürliche Szene und das Feld für alle meine Gedanken und meine deutlichen Wahrnehmungen."
Gegen Ende des Buches heisst es: "Die Welt ist unabtrennbar vom Subjekt, von einem Subjekt jedoch, das selbst nichts anderes ist als ein Entwurf der Welt, und das Subjekt ist untrennbar von der Welt, doch von einer Welt, die es selbst entwirft."
Die Naturwissenschaften (und die Philosophie) lassen den möglichen Gehalt eines solchen entre-deux oder Mittleren Weges meist außer acht. Man könnte die Naturwissenschaft als primär unreflektiert betrachteten, da sie Geist und Bewusstsein naiv voraussetzte. Dies ist tatsächlich eine der extremen Haltungen, die man in der Naturwissenschaft einnehmen kann. Der Beobachter, der Physikern im 19. Jahrhundert vorschwebte, wird oft als körperloses Auge mit objektivem Blick auf das Spiel der Phänomene dargestellt. Man könnte ihn auch mit einem Kognitionsagenten vergleichen, der am Fallschirm auf der Erde abgesetzt wird und diese als unbekannte objektive Realität kartographieren soll.
Die Kritik an dieser Position kann leicht ins andere Extrem umschlagen. Zum Beispiel wird die Unschärferelation der Quantenmechanik häufig verwendet, um eine Art Subjektivismus zu vertreten, worin der Geist aus eigener Kraft die Welt "konstruiert". Besinnen wir uns aber auf uns selbst, um unsere Kognition wissenschaftlich zu erforschen, ist keine dieser Positionen (körperloser Beobachter / weltloser Geist) angemessen.
Im weitesten Sinne besagt der Terminus Kognitionswissenschaft, dass die Erforschung des Geistes an sich ein lohnendes wissenschaftliches Unterfangen darstellt. Interessanterweise nimmt die Künstliche Intelligenz einen wichtigen Pol ein - das Computermodell des Geistes spielt also eine wichtige Rolle. Als die weiteren Disziplinen gelten meist Linguistik, Hirnforschung, Psychologie, manchmal auch Anthropologie, und die Philosophie des Geistes.
Jede dieser Disziplinen beantwortet die Frage nach dem Wesen des Geistes oder der Kognition eigenständig und hebt damit ihre jeweiligen Interessenschwerpunkte hervor. Von Alexandre Koyré bis Thomas Kuhn haben moderne Historiker und Philosophen argumentiert, dass sich die wissenschaftliche Phantasie von einer Epoche zur anderen grundlegend verändert und dass die Geschichte der Wissenschaft eher an einen phantastischen Roman als an eine lineare Progression erinnert.
Das Zentrum oder der Kern der Kognitionswissenschaft wird meist als Kognitivismus bezeichnet. Wichtigstes Instrument und zentrale Metapher des Kognitivismus ist der Computer, der so konstruiert ist, dass man bestimmte der darin ablaufenden Vorgänge als Rechenvorgänge deuten kann. Diese Rechenvorgänge basieren auf Symbolen, also Elementen, die etwas repräsentieren. Vereinfachend ließe sich sagen: Der Kognitivismus beruht auf der Hypothese, dass Kognition - auch die menschliche - aus einer Symbolverarbeitung wie im digitalen Computer besteht.
Demnach wäre Kognition mentale Repräsentation: Der Geist verarbeitet Symbole, die Eigenschaften der Welt oder die ganze Welt in einer bestimmten Weise repräsentieren. Nach dieser Hypothese bildet die Untersuchung der Kognition als mentale Repräsentation den Kernbereich der Kognitionswissenschaft, einen Bereich, in dem sie von der Neurobiologie einerseits, aber auch von der Soziologie und Anthropologie andererseits unabhängig sein soll.
Der Kognitivismus ist ein wohldefiniertes Forschungsprogramm mit angesehenen Institutionen und Zeitschriften, angewandten Techniken, internationalen Geschäftsinteressen. Er ist Kern der Kognitionswissenschaft, weil er die Forschung so stark dominiert, dass er oft mit dieser Wissenschaft gleichgesetzt wird. In den letzten Jahren sind mehrere alternative Sichtweisen der Kognition aufgekommen, die in zwei wichtigen Aspekten vom Kognitivismus abweichen: 1. Kritik der Symbolverarbeitung als angemessenes Mittel der Repräsentation; 2. Kritik am Repräsentationsbegriff als archimedischer Punkt der Kognitionswissenschaft.
Die erste Alternative, hier Emergenz genannt, wird gewöhnlich als Konnektivismus bezeichnet, Dieser Terminus basiert auf der Idee, dass viele kognitive Funktionen (etwa Sehen und Erinnern) am besten von Systemen mit vielen einfachen Komponenten ausgeführt werden. Verbindet man diese Komponenten nach geeigneten Regeln, ergibt sich jenes Gesamtverhalten, das der gewünschten Funktion optimal entspricht. Die Symbolverarbeitung ist jedoch lokalisiert; der Umgang mit Symbolen lässt sich spezifizieren, indem man nicht die Bedeutung, sondern nur die physische Form der Symbole verwendet.
Zwar ermöglicht es diese Eigenschaft der Symbole, Instrumente herzustellen, mit denen man sie verarbeiten kann. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht aber darin, dass bei Verlust von Teilen der Symbole oder der Verarbeitungsregeln schwere Fehlfunktionen auftreten. Konnektivistische Modelle setzen anstelle der lokalisierten Symbolverarbeitung überwiegend verteilte Vorgänge, die sich über ein ganzes Netzwerk von Komponenten erstrecken und globale Eigenschaften hervortreten lassen, die für rein lokale Defekte nicht so anfällig sind. Für Konnektivisten bedeutet Repräsentation, dass ein in Erscheinung tretender (emergenter) globaler Zustand bestimmten Eigenschaften der Welt entspricht; Repräsentation ist hier also keine Funktion spezieller Symbole.
Die zweite Alternative basiert auf einem noch tieferen Unbehagen am Konzept der Symbolverarbeitung. Sie stellt die zentrale Vorstellung in Frage, Kognition sei prinzipiell Repräsentation. Dahinter verbergen sich nämlich drei Grundannahmen: erstens, dass wir in einer Welt mit speziellen Eigenschaften (wie Länge, Farbe, Bewegung, Klang usw.) leben. Zweitens, dass wir diese Eigenschaften aufnehmen oder wiederherstellen, indem wir sie intern repräsentieren. Drittens, dass es ein separates subjektives "Ich" gibt, das diese Vorgänge ausführt. Alle drei Annahmen führen zu einer ausgeprägten, oft jedoch unausgesprochenen und nie in Frage gestellten Vorliebe für realistische oder objektivistisch/ subjektivistische Meinungen darüber, wie die Welt ist, was wir selbst sind und wie wir die Welt erkennen.
Selbst hartgesottene Biologen müssen einräumen, dass die Welt auf sehr vielfältige Weise ist - dass es sogar viele unterschiedliche Erfahrungswelten gibt -, abhängig von der Struktur der jeweiligen Lebewesen und den Unterscheidungen, die zu machen sie fähig sind. Selbst wenn wir uns auf die menschliche Kognition beschränken, kann die Welt sehr unterschiedlich aufgefasst werden.
Für diesen Ansatz schlagen Varela u.a. den Ausdruck Inszenierung vor. Damit wollen sie betonen, dass Kognition nicht die Repräsentation einer vorgegebenen Welt in einem vorgegebenen Geist darstellt, sondern das In-Szene-Setzen einer Welt und eines Geistes auf der Grundlage einer Geschichte vielfältiger Aktionen eines Lebewesens in der Welt. Das Modell der Inszenierung nimmt also die philosophische Kritik an der Idee ernst, der Geist sei ein Spiegel der Natur; es geht aber noch weiter und spricht dieses Problem im Kernbereich der Wissenschaft selbst an.
Heute ist es modisch zu behaupten, Freud habe das Ich "dezentriert". In Wahrheit gliederte er das Ich in mehrere grundlegende Ichs. Freud war kein strikter Kognitivist: Das Unbewusste hatte die gleichen Repräsentationen wie das Bewusstsein, und - zumindest theoretisch - konnten sie alle bewusst werden oder sein. Der strikte moderne Kognitivismus fasst die unbewusste Verarbeitung viel radikaler und befremdlicher auf, unpassssend für das Verständnis unserer Erfahrung in zwei verwandte Aspekten: 1. Der Kognitivismus postuliert mentale oder kognitive Prozesse, deren wir uns nicht nur nicht bewusst sind, sondern deren wir prinzipiell nicht gewahr sein können. Dadurch übernimmt er 2. die Idee, das Ich oder Subjekt der Kognition sei im Grunde zersplittert oder uneinheitlich.
Zum ersten Punkt wurde bereits erwähnt, dass der Kognitivismus eine Spannung zwischen Wissenschaft und Erfahrung erzeugt. Man könne, mit anderen Worten, in der bewussten Wahrnehmung oder in der selbstbewussten Introspektion keine jener kognitiven Strukturen oder Prozesse ausmachen, die das Kognitionsverhalten erklären sollen. Wenn Kognition prinzipiell symbolische Berechnung ist, liegt diese Diskrepanz zwischen "persönlich" und "subpersönlich" auf der Hand, da vermutlich niemand von uns eines Rechenvorganges in einem internen symbolischen Medium gewahr ist, während er/sie denkt.
Aufgrund unseres psychoanalytisch geprägten Glaubens an das Unbewusste neigen wir dazu, diese tiefe Infragestellung unseres Selbstverständnisses zu übersehen. Allerdings meinen wir mit "unbewusst" in der Regel nicht die unbewussten mentalen Prozesse des Kognitivismus: Gewöhnlich nehmen wir an, dass sich Unbewusstes bewusst machen lässt - sei es durch Selbstreflexion oder durch ein diszipliniertes Verfahren wie das psychoanalytische. Dagegen postuliert der Kognitivismus mentale Prozesse, die prinzipiell nicht bewusst werden können. So sind uns die Regeln für das Zustandekommen mentaler Bilder oder für die Verarbeitung visueller Bilder nicht bloß unbewusst, sondern dem Bewusstsein absolut unzugänglich.
"Man betritt das Gehirn durch das Auge, geht den Sehnerv entlang, rundherum um die Großhirnrinde, schaut hinter jede Nervenzelle und taucht dann unversehens im Tageslicht auf, an der Spitze eines motorischen Nervenimpulses, kratzt sich am Kopf und fragt sich, wo das Selbst geblieben ist."
Das Problem liegt jedoch tiefer. Es mag durchaus schwierig sein, im Tumult "subpersönlicher" Vorgänge ein kohärentes, einheitliches Ich zu finden, und diese Schwierigkeit könnte unser Ich-Empfinden bedrohen - allerdings nur in Maßen. Immerhin können wir noch annehmen, dass es ein Ich gibt, dass wir es nur nicht auf diese Weise finden können. Vielleicht ist uns, wie Jean-Paul Sartre schrieb, das Ich so nahe, dass wir es durch Rückwendung auf uns selbst nicht entdecken können.
Doch die kognitivistische Herausforderung ist sehr viel gravierender. Nach Auffassung des Kognitivismus kann Kognition ohne Bewusstsein vor sich gehen, weil zwischen beiden keine notwendige, innere Verbindung besteht. Was immer wir sonst noch über das Ich annehmen mögen, wir halten Bewusstsein meist für seine zentrale Eigenschaft. Der Kognitivismus stellt daher unsere Überzeugung in Frage, dass die zentralste Eigenschaft des Ich notwendig ist für die Kognition. Damit besagt die kognitivistische These nicht allein, dass wir kein Ich finden können, sondern mehr noch: dass für die Kognition gar kein Ich erforderlich ist.
Wenn die Kognition ohne ein Ich auskommt, warum haben wir gleichwohl die Erfahrung eines Ich? Diese Erfahrung können wir nicht ohne nähere Erklärung von der Hand weisen. Bis vor kurzem gingen die meisten Philosophen nonchalant über dieses Problem hinweg und taten es als irrelevant für die Zwecke der Kognitionswissenschaft ab? Jedoch, alle reflexiven Traditionen in der menschlichen Geschichte - Philosophie, Wissenschaft, Psychoanalyse, Religion und Meditation - haben die naive Ich-Empfindung in Frage gestellt. Keine hat je beansprucht, in der Erfahrungswelt ein unabhängiges, festes, einheitliches Ich entdeckt zu haben.
So schrieb David Hume (1711 - 1776) mit einer berühmten Passage: "Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als "mich" bezeichne, so unmittelbar als irgend möglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedesmal über die eine oder die andere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust. Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption."
Diese Einsicht widerspricht direkt unserer kontinuierlichen Ich-Empfindung. Es scheint, dass viele nichtwestliche (selbst kontemplative) und alle westlichen Traditionen diesem Widerspruch einfach dadurch begegnen, dass sie sich abwenden, ihn nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Keines der kognitivistisch betrachtbaren Aggregate enthält ein Ich. Doch vielleicht ergibt sich dieses aus einer bestimmten Kombination aller Aggregate? Ist das Ich also identisch mit der Gesamtheit der Aggregate? Diese Vorstellung erschiene sehr reizvoll, wenn sie nur praktikabel wäre. Für sich ist jede einzelne der Gruppen vergänglich und unbeständig; wie könnten wir sie also zu einer dauerhaften, kohärenten Einheit verbinden? Vielleicht ist das Ich eine emergente Eigenschaft der Aggregate? Ein solcher selbstorganisierter oder synergistischer Mechanismus ist in der Erfahrung nicht unmittelbar evident. Wichtiger noch: Wir halten ja nicht primär an der abstrakten Idee eines emergenten Ich als dem Ich fest; wir greifen nach einem "wirklichen" Ego-Selbst.
Wenn wir erkennen, dass ein solches wirkliches Ich in der Erfahrung nicht vorzufinden ist, mögen wir zum anderen Extrem übergehen und sagen, das Ich müsse sich radikal von den Aggregaten unterscheiden. In der westlichen Tradition zeigt sich diese Konsequenz besonders in der These Descartes' und Kants, die beobachtete Regelmäßigkeit und Strukturiertheit der Erfahrung setze zwingend eine ordnende Instanz oder einen Beweger hinter den Strukturen voraus. Für Descartes war dieser Beweger die res cogitans oder "denkende Substanz". Kant dachte tiefer und genauer. In seiner Kritik der reinen Vernunft schreibt er:
"Das Bewusstsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes, bei der innern Wahrnehmung ist bloß empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innrer Erscheinungen geben ... Es muss eine Bedingung sein, die vor aller Erfahrung vorhergeht, und diese selbst möglich macht ... Dieses reine ursprüngliche, unwandelbare Bewusstsein will ich nun die transzendentale Apperzeption nennen."
"Apperzeption" bedeutet soviel wie Bewusstheit, speziell für den Prozess der Kognition. Kant erkannte äusserst klar, dass es in dieser Erfahrung der Bewusstheit nichts gibt, was dem Ich entspricht. Deshalb postulierte er ein transzendentales Bewusstsein, das aller Erfahrung vorausgeht und die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bildet. Außerdem wies Kant der transzendentalen Bewusstheit unseren Sinn für zeitliche Einheit und Identität zu, so dass er die Basis des empirischen Ich als "transzendentale Einheit der Apperzeption" bezeichnete.
Kants Analyse ist zwar brillant, macht das Problem aber nur noch komplizierter, denn danach soll es wirklich ein Ich geben, das wir jedoch prinzipiell nicht erkennen können. Außerdem entspricht dieses Kantsche Selbst kaum unserer emotionalen Überzeugung, denn es ist nicht das Ich oder mein Selbst, sondern nur die allgemeine Idee eines Selbst, irgendeiner unpersönlichen ordnenden Instanz hinter der Erfahrung. Diese Instanz ist rein, ursprünglich und unwandelbar; ich dagegen bin unrein und vergänglich. Was kann ein derart abgehobenes Ich mit meiner Erfahrung zu tun haben? Wie kann es die Bedingung oder Grundlage aller meiner Erfahrungen sein und doch von diesen unberührt bleiben? Gäbe es wirklich ein solches Ich, könnte es für die Erfahrung nur relevant sein, wenn es am Gewebe der bedingten Welt teilhätte, aber damit verlöre es sofort seine Ursprünglichkeit und Absolutheit.
Die Wissenschaft entfernt sich von der menschlichen Erfahrung und neigt, besonders im Fall der Kognitionswissenschaft, zu einer gespaltenen Haltung, in der wir Schlussfolgerungen verkünden, die wir konstitutionell offenbar nicht akzeptieren können. Da uns die Kognitionsforschung zunehmend zwingt, unsere naive Vorstellung vom Kognitionssubjekt zu revidieren, wird der Brückenschlag zwischen Kognitionswissenschaft und einem offenen, pragmatischen Zugang zur menschlichen Erfahrung um so unausweichlicher.
In einem so mächtigen technischen Kontext wie der heutigen Naturwissenschaft bereitet die bloß theoretische Entdeckung des ichlosen Geistes allerdings noch ein tieferes Problem, da sie hier fast zwangsläufig zu einer Form des Nihilismus führt. Manipuliert die Wissenschaft weiter Dinge, ohne zu berücksichtigen, wie wir in ihrer Mitte leben, wird die Entdeckung der Ichlosigkeit des Geistes außerhalb des Laboratoriums keine gelebten Konsequenzen für den Wissenschaftler haben, auch wenn sein Geist dort ja derselbe ichlose Geist ist. Dieser Geist stellt zwar fest, dass er keine persönliche Basis hat - eine tiefgreifende, bemerkenswerte Entdeckung -, findet aber keine Mittel, seine Erkenntnis zu verkörpern. Doch ohne eine solche Verkörperung bleibt uns nichts übrig, als das Ich völlig zu leugnen, ohne dabei für einen Moment unsere habituelle Gier nach dem aufzugeben, was so geleugnet wurde.
Mit Nihilismus meint Varela u.a. das, was Nietzsche folgendermaßen definiert: "Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt ... ". Das nihilistische Dilemma besteht also darin zu wissen, dass unsere höchsten Werte unhaltbar sind, ohne sie jedoch aufgeben zu können.
Dieses nihilistische Dilemma tritt bei einigen Kognitionswissenschaftlern deutlich zutage. So wird einerseits behauptet, das Bewusstsein sei "zu nichts nütze", jedoch andererseits: "Das Bewusstsein scheint in unserem Leben eine zu wichtige Rolle zu spielen - bereitet zu viel Freude -, als dass wir ihm jeden Nutzen absprechen könnten." Auf den letzten Seiten von Mentopolis untersucht Minsky den Begriff des freien Willens, den er als "Mythos der dritten Alternative" zwischen Zufall und Notwendigkeit bezeichnet. Nach Auskunft der Wissenschaft sind alle Prozesse determiniert oder - wenigstens teilweise - zufällig. Daher sei in ihr kein Raum für eine mysteriöse dritte Möglichkeit namens "freier Wille", worunter Minsky ein "Ich, Selbst oder Letztes Zentrum der Kontrolle" versteht, "in dem wir entscheiden, was wir an jeder Gabelung der Straße der Zeit tun werden".
Minsky schreibt zu diesem Dilemma: "Wenn uns auch die physische Welt keinen Raum für Willensfreiheit lässt: dieses Konzept ist fundamental für unsere Modelle des mentalen Bereiches. Ein zu großer Teil unserer Psychologie basiert auf ihm, als dass wir es aufgeben könnten. Wir sind buchstäblich gezwungen, diesen Glauben beizubehalten, obwohl wir wissen, dass er irrig ist - es sei denn natürlich, wir fühlten uns bemüßigt, die Fehler in allen unseren Überzeugungen zu finden, wie auch immer dann die Folgen für unsere Zuversichtlichkeit und unseren geistigen Frieden aussehen mögen."
Das Zitat über den freien Willen ist seine abschließende Vision zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und menschlicher Erfahrung. Wissenschaft und menschliche Erfahrung fallen unrettbar auseinander. Das entspricht genau Nietzsches Diagnose unseres kulturellen Dilemmas aus dem Jahr 1887. Wir sind gezwungen oder "verdammt", wider besseres Wissen an etwas zu glauben.
Die Kognitionswissenschaft belehrt uns, dass wir kein wirkendes oder freies SELBST besitzen. Die buddhistische Achtsamkeit/ Gewahrseins-Tradition besagt dagegen, dass wir gewiss nicht gezwungen sind, an unserem Glauben festzuhalten. Sie bietet als vierte Alternative eine Vision der Handlungsfreiheit, die sich radikal von unseren üblichen Konzeptionen der Freiheit unterscheidet. Entscheidend ist, dass es eine Tradition gibt, die solche Probleme in der Erfahrung selbst untersucht. Fast das ganze buddhistische Streben zielt darauf, das emotionale Anhaften am Ich zu überwinden. Meditationstechniken, Traditionen der Forschung und der Kontemplation, soziales Handeln und die Organisation ganzer Gemeinschaften sind diesem Ziel gewidmet. Es prägt Geschichtsschreibung, Psychologie und Soziologie in buddhistisch geprägten Kulturen. Menschen verändern sich auf diesem Weg zunehmend (und glauben auch, dass sie sich so verändern können). Daraus resultiert in dieser Weltanschauung, dass wahre Freiheit nicht aus den "Willensentscheidungen" eines Ich-Selbst erwächst, sondern aus ichlosem Handeln.
Was die Kognitionswissenschaft über den ichlosen Geist zu sagen hat, ist wichtig für die menschliche Erfahrung. Und doch: Wenn wir uns der Welt zuwenden, nachdem wir die Grundlosigkeit des Ich aufgedeckt haben, können wir nicht mehr so sicher sein, sie zu finden. Vielleicht sollten wir sagen: Sobald wir das feste Ich aufgeben, wissen wir nicht mehr, wie wir nach der Welt suchen sollen. Schließlich definieren wir die Welt als das, was Nicht-Ich ist, das andere des Ich. Wie ist das jedoch möglich, wenn wir kein Ich als Bezugspunkt mehr haben?
Wir scheinen also erneut unseren Zugriff auf etwas Vertrautes zu verlieren. Gewiss werden viele Leser an diesem Punkt ärgerlich und sehen die Gespenster des Solipsismus, des Subjektivismus und des Idealismus am Horizont auftauchen, obwohl sie bereits wissen, dass wir kein Ich finden, in dem sich solche buchstäblich egozentrischen Auffassungen verankern ließen. Vielleicht sind wir der Idee, dass die Welt eine feste letzte Grundlage hat, noch stärker verfallen als der eines persönlichen Ich. Daher müssen wir uns die Angst bewusst machen, die den Spielarten des kognitiven und des emergenten Realismus zugrunde liegt. Mit der Analyse dieser Angst wollen wir unsere Entdeckungsreise fortsetzen.
Wir nehmen an, die Welt sei vorgegeben, so dass sich ihre Merkmale vor jeder Kognitionstätigkeit spezifizieren lassen. Weiterhin unterstellen wir, um die Beziehung zwischen dieser Kognitionstätigkeit und einer vorgegebenen Welt zu erklären, dass es innerhalb des Kognitionssystems geistige Repräsentationen gibt (seien es Bilder, Symbole oder subsymbolische Aktivitätsmuster, die sich über ein Netzwerk verteilen). Damit besitzen wir eine ausgewachsene Theorie mit folgenden Thesen: 1. Die Welt ist vorgegeben. 2. Unsere Kognition betrifft diese Welt - wenn vielleicht auch nur teilweise. 3. Unsere kognitive Auffassung dieser vorgegebenen Welt besteht darin, ihre Merkmale zu repräsentieren und auf dieser Basis zu handeln.
Diese Theorie klingt, um eine frühere Metapher aufzugreifen, als wäre ein Kognitionsagent per Fallschirm in einer vorgegebenen Welt gelandet. Als solcher kann er nur überleben, wenn er eine Karte hat und lernt, sich danach zu richten. In der kognitivistischen Version ist die Karte ein angeborenes System von Repräsentationen - manchmal eine "Sprache des Denkens" genannt -. Lernen, mit der Karte umzugehen, ist dagegen eine Aufgabe der Ontogenese.
Wir stellen fest, dass wir uns immer mehr von der Vorstellung des Geistes als eines Input-Output-Apparates, der Informationen verarbeitet, entfernt haben. Auch die Umwelt ist zunehmend in den Hintergrund gerückt, wohingegen der Geist als emergentes, autonomes Netzwerk von Beziehungen eine zentrale Rolle spielt. Daher müssen wir fragen: Was haben solche Netzwerke - wenn überhaupt - mit Repräsentation zu tun?
Um diese Frage anschaulich zu gestalten, beziehen sich Varela u.a. erneut auf Minskys Mentopolis, wo er schreibt: "Immer wenn wir über den Geist sprechen, sprechen wir über die Prozesse, die unser Gehirn von einem Zustand in einen anderen versetzen ... Das Interesse am Geist ist in Wirklichkeit das Interesse an Beziehungen zwischen Zuständen - und diese Beziehungen haben buchstäblich nichts mit der Natur der Zustände selbst zu tun." Wie sind diese Beziehungen zu verstehen? Was an ihnen hat mentalen Charakter?
Gewöhnlich lautet die Antwort, diese Beziehungen verkörperten oder stützten Repräsentationen der Umwelt. Behaupten wir jedoch, die Funktion dieser Prozesse liege darin, eine unabhängige Umwelt zu repräsentieren, dann müssen wir sie den außengelenkten (heteronomen) Systemen zuordnen, die durch externe Steuermechanismen definiert sind.
Damit betrachten wir Information als eine vorab definierte Quantität, die unabhängig in der Welt besteht und als Input für Kognitionssysteme fungieren kann. Dieser Input liefert also die anfänglichen Prämissen, nach denen das System sein Verhalten - den Output - errechnet. Doch wie sollen wir Input und Output bei stark kooperativen, selbstorganisierten Systemen wie dem Gehirn näher bestimmen? Zwar fließt Energie in beide Richtungen, aber wo endet die Information, und wo beginnt das Verhalten? Minsky sieht das Problem, und seine Lösung empfiehlt sich für ein längeres Zitat:
"Weshalb sind Prozesse so schwer zu klassifizieren? In früheren Zeiten konnten wir Maschinen und Prozesse in der Regel anhand der Art einordnen, wie sie Rohmaterialien in Fertigprodukte umwandelten. Aber es ergibt keinen Sinn, von Gehirnen zu sprechen, als bearbeiteten sie Gedanken in der Art, wie Fabriken Kraftwagen produzieren. Der Unterschied ist der, dass in Gehirnen Prozesse ablaufen, die sich selbst verändern - und das bedeutet, dass wir solche Prozesse nicht von ihren Produktionen unterscheiden können. Insbesondere arbeiten Gehirne mit Gedächtnissen, die sich im Laufe der Denkprozesse verändern. Die wichtigste Tätigkeit des Gehirns besteht darin, Veränderungen in sich selbst hervorzurufen. Weil die Vorstellung selbstmodifizierender Prozesse eine neue Erfahrung für uns ist, können wir uns in diesem Fall nicht auf unser vernünftiges Urteilsvermögen verlassen".
Bemerkenswert an dieser Passage ist, dass keinerlei Vorstellung von Repräsentation darin vorkommt. Minsky behauptet nicht, die wichtigste Funktion des Gehirns bestehe darin, eine Außenwelt zu repräsentieren. Vielmehr sagt er, sie bestehe darin, sich ständig selbst zu modifizieren. Was ist aus dem Repräsentationsbegriff geworden?
In der Kognitionswissenschaft bereitet sich infolge der eigenen Forschungsergebnisse ein bedeutender, tiefgreifender Wandel vor. Er besteht darin, dass wir die Idee der Welt als unabhängiges äusseres Faktum aufgeben müssen. Wir haben vielmehr anzunehmen, dass die Welt unlösbar mit der Struktur dieser prozessualen Selbstmodifikation verbunden ist. Darin äussert sich neben einer neuen philosophischen Vorliebe auch die Notwendigkeit, Kognitionssysteme nicht nach ihren Beziehungen zwischen Input und Output, sondern nach ihrer operationalen Geschlossenheit zu beurteilen.
Operational geschlossene Systeme sind dadurch charakterisiert, dass die Ergebnisse ihrer Prozesse diese Prozesse selbst sind. Daher ist das Konzept der operationalen Geschlossenheit eine Möglichkeit, Prozesse zu bestimmen, die auf sich selbst zurückwirken und damit autonome Netzwerke bilden. Solche Netzwerke sind nicht (heteronom) durch externe Steuermechanismen, sondern (autonom) durch interne Mechanismen der Selbstorganisation bestimmt. Entscheidend ist, dass derartige Systeme nichts repräsentieren: Statt eine unabhängige Außenwelt zu repräsentieren, inszenieren sie eine Welt. Diese ist als Feld von Unterscheidungen untrennbar mit der im Kognitionssystem verkörperten Struktur verbunden.
Bevor wir jedoch weitere Schlüsse ziehen, müssen wir uns fragen, warum die Idee einer Welt mit vorgegebenen Merkmalen oder fertigen Informationen so unbezweifelbar erscheint. Warum können wir uns nicht vorstellen, diese Idee aufzugeben, ohne in Subjektivismus, Idealismus oder kognitiven Nihilismus abzugleiten? Woraus resultiert dieses scheinbare Dilemma? Hier gilt es, direkt jenes Gefühl zu analysieren, das sich einstellt, wenn wir meinen, der Welt als festem, stabilem Bezugspunkt nicht mehr trauen zu können.
Die empfundene Unruhe wurzelt in etwas, das wir mit Richard Bernstein "die kartesianische Angst" nennen können. Dabei verstehen wir "Angst" im psychoanalytischen Sinne und bezeichnen sie allein deshalb als "kartesianisch", weil Descartes sie in seinen Meditationen rückhaltlos offen geäussert hat. Diese Angst entspricht einem Dilemma: Entweder unsere Erkenntnis hat eine feste, stabile Grundlage und einen ruhenden Ausgangspunkt, oder wir geraten in Dunkelheit, Chaos und Verwirrung. Kurz, sofern es keine absolute Basis gibt, bricht alles auseinander.
Dieses Angstgefühl erwächst aus der Sehnsucht nach einer absoluten Grundlage. Kann diese Sehnsucht nicht gestillt werden, scheinen Nihilismus und Anarchie die einzigen Alternativen zu sein. Die Suche nach einer Grundlage kann zwar viele Formen annehmen, doch angesichts der inneren Logik des Repräsentationsdenkens neigen wir dazu, uns entweder auf eine Basis in der Außenwelt oder auf den inneren Geist zu stützen. Wer Geist und Welt als den Gegensatz von subjektivem und objektivem Pol behandelt, schwankt in seiner kartesianischen Angst bei der Suche nach einer Basis unaufhörlich zwischen beiden Aspekten.
iAllerdings st der Gegensatz von Subjekt und Objekt keineswegs fest vorgegeben, sondern eine Idee, die der menschlichen Geschichte von Geist und Natur angehört. So galt der Begriff "Idee" vor Descartes nur für Inhalte des göttlichen Geistes. Descartes war einer der ersten, die ihn auf Vorgänge des menschlichen Geistes bezogen. Diese sprachliche und begriffliche Verschiebung ist nur ein Aspekt dessen, was Richard Rorty die "Erfindung des Geistes als Spiegel der Natur" nennt, eine Erfindung, in der heterogene Bilder, Konzeptionen und Sprachgebräuche verschmelzen.
Die kartesianischen Wurzeln zeigen sich deutlich, sobald wir an der Metapher der Widerspiegelung zu zweifeln beginnen. Suchen wir nach anderen Denkweisen, verfolgt uns die kartesianische Angst auf Schritt und Tritt. Doch unsere heutige Situation ist auch einmalig insofern, als wir zunehmend daran zweifeln, eine letzte Grundlage ausmachen zu können. Stellt sich die Angst also heute ein, scheinen wir hilflos dem Nihilismus ausgeliefert, weil wir es nicht gelernt haben, jene Formen des Denkens, Handelns und Erfahrens aufzugeben, aus denen das Verlangen nach einer Grundlage erwächst.
Wir haben gesehen, dass die Kognitionswissenschaft gegenüber dieser nihilistischen Tendenz keineswegs immun ist. Zum Beispiel erkennt man den inneren Zusammenhang zwischen Nihilismus und kartesianischer Angst sehr deutlich in Minskys Mentopolis, wo sich der Autor mit unserer Unfähigkeit befasst, eine gänzlich unabhängige Welt zu finden. Wie er schreibt, ist die Welt kein Ding, kein Ereignis und kein Prozess innerhalb der Welt. Vielmehr entspricht sie einer Art Hintergrund - bildet also den Rahmen und das Umfeld für alle unsere Erfahrungen, existiert jedoch nicht unabhängig von unserer Struktur, unserem Verhalten und unserer Kognition. Alles, was wir über die Welt sagen, betrifft also gleichermaßen uns selbst.
Auf diese Erkenntnis reagiert Minsky ähnlich widersprüchlich wie auf das Fehlen eines Ich. Er schreibt: "Was immer Sie über ein Ding auszusagen vorgeben, Sie drücken nur Ihre persönliche Überzeugung aus. Und doch vermittelt sogar dieser hoffnungslose Gedanke eine Einsicht. Selbst wenn unsere Modelle der Welt keine brauchbaren Antworten über die Welt als Ganzes liefern können und selbst wenn auch ihre anderen Antworten oft falsch sind, können sie uns doch etwas über uns selbst mitteilen."
Varela u.a. stellt diese Ideen in den Worten Minskys dar, weil er ein herausragender Kognitionsforscher ist und seine Gedanken klar formuliert. Allerdings steht er nicht allein da. Bei Gesprächen über diese Frage würden viele Menschen einräumen, dass wir in Wirklichkeit nicht die Welt, sondern nur unsere Repräsentationen der Welt erkennen. Doch wir scheinen durch unsere Beschaffenheit dazu verdammt zu sein, diese Repräsentationen so zu behandeln, als wären sie die Welt, denn unsere alltägliche Erfahrung vermittelt uns den Eindruck, in einer unmittelbar gegebenen Welt zu leben.
Diese Situation erscheint tatsächlich hoffnungslos. Zu bedenken ist jedoch, dass eine solche Hoffnungslosigkeit nur berechtigt wäre, wenn es eine vorgegebene, unabhängige Welt - eine äussere Grundlage - gäbe, die wir allerdings nie erkennen könnten. Dann könnten wir uns nur auf unsere inneren Repräsentationen zurückziehen und sie behandeln, als böten sie eine solide Grundlage. Die Hoffnungslosigkeit resultiert also aus der kartesianischen Angst und ihrem Ideal des Geistes als Spiegel der Natur.
Danach sollte sich die Erkenntnis auf eine unabhängige, vorgegebene Welt beziehen und sie genau repräsentieren. Bleibt dieses Ideal unerreichbar, sind wir auf uns selbst zurückgeworfen und suchen eine innere Grundlage. Dieses Schwanken prägt Minskys Vorbehalt, wir äusserten nie etwas über Dinge, sondern immer nur über unsere persönlichen Überzeugungen. Geht es bei dem, was man denkt, nur um subjektive Repräsentationen, bleibt man ganz auf die innere Grundlage verwiesen, auf ein solitäres kartesianisches Ich, das in seine subjektiven Repräsentationen eingekerkert ist. Diese Wendung erscheint um so ironischer, als Minsky prinzipiell nicht an die Existenz eines solchen Ich glaubt, das als innere Grundlage dienen könnte. Am Ende erfordert Minskys Version der kartesianischen Angst nicht nur, dass wir wider besseres Wissen an ein Ich glauben, sondern auch, dass wir an eine Welt glauben, die uns prinzipiell unzugänglich bleibt. Die innere Logik dieses Dilemmas mündet unausweichlich in eine nihilistische Grundhaltung.
In Varelas u.a. Analyse der menschlichen Erfahrung durch die Praxis der Achtsamkeit/Gewahrseins-Meditation sahen wir, dass unser Greifen nach einer inneren Grundlage das Wesen des Ich-Selbst ausmacht und eine Quelle ständiger Enttäuschungen darstellt. Damit beginnen wir zu erkennen, dass dieses Verlangen nach einer inneren Grundlage selbst ein Moment in einem umfassenderen Muster des Ergreifens ist, dem auch unser Anhaften an eine äussere Grundlage in der Vorstellung einer vorgegebenen, unabhängigen Welt zuzurechnen ist. Damit bildet unser Greifen nach einer inneren oder äusseren Grundlage die tiefe Quelle unserer Enttäuschung und Angst.
Diese Erkenntnis steht im theoretischen und praktischen Zentrum der buddhistischen Madhyamika-Lehre, der Lehre vom "Mittleren Weg". Das Streben nach einer letzten Grundlage, ob innerhalb oder außerhalb des Geistes, folgt stets dem gleichen Denkmuster und Leitmotiv: der Neigung zum Anhaften. Im Madhyamika gilt diese habituelle Neigung als Wurzel der beiden Extreme "Absolutismus" und "Nihilismus". Zunächst veranlasst uns der ergreifende Geist, nach einer absoluten Grundlage zu suchen - nach etwas Innerem oder Äusserem also, das sui generis, vermöge seines "eigenen Seins", alles andere stützen und fundieren könnte. Angesichts der Unmöglichkeit, dergleichen zu finden, schreckt der ergreifende Geist zurück und klammert sich an das Fehlen einer Grundlage, indem er alles andere als Illusion behandelt.
Die philosophische Analyse des Madhyamika ist also in doppelter Hinsicht direkt für unser Dilemma relevant. Erstens bestätigt sie, dass sich die Suche nach einer letzten Grundlage - die wir heute als das Projekt des Fundamentalismus bezeichnen würden - nicht auf den Begriff des Subjekts und seine Fundierung in einem Ich-Selbst beschränkt, sondern unseren Glauben an eine fertig vorgegebene Welt einschließt. Dieser Aspekt, den man in Indien bereits vor Jahrhunderten erkannt hat und der in den kulturellen Umfeldern Tibets, Chinas, Japans und Südostasiens unterschiedlich ausgearbeitet wurde, beginnt erst seit etwa hundert Jahren, auch in der westlichen Philosophie bedacht zu werden. Die westliche Philosophie kreist überwiegend um das Problem, wo man eine letzte Grundlage finden könnte, hinterfragt aber nicht bewusst und achtsam die grundsätzliche Neigung zum Greifen nach einem Grund.
Zweitens hebt die Tradition des Madhyamika hervor, dass zwischen Absolutismus und Nihilismus ein innerer Zusammenhang besteht. Unsere ethnozentrische Geschichtsschreibung redet uns ein, das Interesse am Nihilismus - im Sinne Nietzsches - sei ein speziell westliches Phänomen und verdanke sich unter anderem dem Scheitern des Theismus im 19. Jahrhundert und dem Aufstieg der Moderne. Da sich indische Philosophen schon in vorbuddhistischen Zeiten stark für den Nihilismus interessierten, müsste dieser ethnozentrische Dünkel eigentlich verschwinden.
In der Tradition der Achtsamkeit/Gewahrseins-Meditation wird angestrebt, Absolutismus und Nihilismus direkt und fundiert als Formen des Ergreifens zu durchschauen, die aus der Suche nach einem festen Ich-Selbst resultieren und damit unsere konsensuelle Lebenswelt auf die Erfahrung von Leid und Enttäuschung beschränken. Indem man fortschreitend lernt, diesen Hang zum Ergreifen zu überwinden, beginnt man zu erkennen, dass alle Phänomene leer von einer absoluten Grundlage sind und dass diese "Grundlosigkeit" (Shunyata) das Gewebe des Entstehens in gegenseitiger Abhängigkeit bildet.
Im Sinne der Phänomenologie könnten wir sagen: Grundlosigkeit ist geradezu die Bedingung für die eng verwobene, interdependente Welt der menschlichen Erfahrung. Das haben Varela u.a. oben mit der Formulierung angesprochen, dass alle unsere Tätigkeiten von einem Hintergrund abhängen, der sich niemals endgültig festlegen lässt. Damit findet sich Grundlosigkeit nicht nur in entlegenen, abstrus philosophischen Analysen, sondern in der alltäglichen Erfahrung. Sie enthüllt sich in der Kognition als "Common sense" - das Wissen, wie man sich einen Weg durch eine Welt bahnt, die nicht fertig vorgegeben ist, sondern durch unsere eigenen Handlungen ständig umgestaltet wird.
Doch die Stärke der lebendigen Kognition liegt gerade darin, innerhalb eines sehr weiten Rahmens jeweils die Aufgaben ausmachen zu können, die gerade bewältigt werden müssen. Diese Probleme und Interessen sind nicht vorgegeben, sondern werden vor einem Hintergrund des Handelns - in dem allein unser Common sense bestimmt, was im gegebenen Kontext als relevant gilt - inszeniert oder hervorgebracht.
Betrachten wir die visuellen Wahrnehmung und fragen: "Was kam zuerst. die Welt oder das Bild?" Die Antwort der - kognitivistischen und konnektivistischen - Sehforschung ergibt sich eindeutig aus den erforschten Themen. So sprechen die Wissenschaftler von "Wiederherstellung der Gestalt aus den Schattierungen", "der Tiefe aus Bewegung" oder "der Farbe aus wechselnder Beleuchtung". Diese Haltung nennen wir die Henne-Position.
Henne-Position: Die Außenwelt hat vorgegebene Eigenschaften, und diese gehen dem auf das Kognitionssystem geworfenen Bild voraus. Das System soll die Eigenschaften richtig wiederherstellen (was über Symbole oder durch globale subsymbolische Zustände erfolgen kann).
Das klingt sehr vernünftig, und wir können uns kaum eine andere Erklärung vorstellen. Als einzige Alternative scheint die Ei-Position in Frage zu kommen.
Ei-Position: Das Kognitionssystem entwirft seine Welt selbst, und die scheinbare Realität dieser Welt spiegelt nur die internen Gesetze des Systems wider.
Eine Erörterung des Farbe-Sehens deutet einen Mittleren Weg zwischen diesen beiden Extremen an. Wir haben gefunden, dass Farben nicht "da draußen", nicht von unserer Wahrnehmung und Kognition unabhängig sind. Allerdings haben wir auch gesehen, dass Farben nicht "hier drinnen" und damit unabhängig von unserer biologischen und kulturellen Umwelt existieren. Im Gegensatz zur objektivistischen Auffassung sind Farbkategorien empirisch geprägt. Im Gegensatz zur subjektivistischen Sichtweise gehören Farbkategorien unserer gemeinsamen biologischen und kulturellen Welt an. Das Beispiel Farbe verhilft uns also zu der Einsicht, dass Henne und Ei, Welt und Wahrnehmender einander spezifizieren.
Diese wechselseitige Spezifikation eröffnet einen Mittleren Weg zwischen den Scylla der Kognition als Wiederherstellung einer vorgegebenen Außenwelt (Realismus) und der Charybdis der Kognition als Projektion einer vorgegebenen Innenwelt (Idealismus). Beide Extreme basieren zentral auf dem Begriff der Repräsentation: Im ersten Fall dient diese dazu, eine Außenwelt wiederherzustellen, im zweiten, eine Innenwelt zu projizieren. Wir möchten diese logische Geographie von Innenwelt und Außenwelt ganz umgehen, indem wir die Kognition nicht als Wiederherstellung oder Projektion, sondern als verkörpertes Handeln auffassen.
Den Ausdruck verkörpertes Handeln wollen wir nun erläutern. Mit verkörpert meinen wir zweierlei: Kognition hängt von Erfahrungen ab, die ein Körper mit verschiedenen sensomotorischen Fähigkeiten ermöglicht. Diese sind ihrerseits in einen umfassenderen biologischen, psychologischen und kulturellen Kontext eingebettet. Mit Handeln möchten wir erneut betonen, dass sensorische und motorische Prozesse, Wahrnehmung und Handlung, in der lebendigen Kognition prinzipiell nicht zu trennen sind. Beide gehören aber bei Individuen nicht zufällig zusammen, sondern haben sich auch gemeinsam entwickelt.
Damit können wir nun vorläufig formulieren, was mit Inszenierung gemeint ist. Das Konzept der Inszenierung hat zwei Ansatzpunkte: 1. Wahrnehmung ist wahrnehmungsgeleitetes Handeln. 2. Kognitionsstrukturen emergieren aus rekursiven sensomotorischen Mustern, die eine Lenkung des Handelns durch Wahrnehmung ermöglichen. Beide Aussagen klingen etwas dunkel, werden aber im Verlauf dieser Untersuchung noch aufgehellt.
Beginnen wir mit dem Begriff des wahrnehmungsgeleiteten Handelns. Wir haben gesehen, dass Repräsentationstheoretiker die Wahrnehmung vom Problem der Informationsverarbeitung her angehen. Nach diesem Modell müssen vorgegebene Eigenschaften der Welt wiederhergestellt werden. Im Gegensatz dazu fragen wir beim Modell der Inszenierung, wie ein Wahrnehmender sein Handeln lokal ausrichten kann. Da die lokalen Situationen sich aufgrund der Aktivität des Wahrnehmenden ständig wandeln, müssen wir die Wahrnehmung nicht mehr vom Bezugspunkt einer vorgegebenen, vom Wahrnehrnenden unabhängigen Welt her verstehen, sondern über die sensomotorische Struktur des Wahrnehmenden (mit der das Nervensystem sensorische und motorische Flächen verbindet).
Genau diese Struktur - die Verkörperungsform des Wahrnehmenden -, und nicht eine vorgegebene Welt, legt fest, wie der Wahrnehmende handeln und durch Ereignisse in der Umwelt beeinflusst werden kann. Beim Inszenierungskonzept kommt es also nicht darauf an, wie eine vom Wahrnehmenden unabhängige Welt wiederhergestellt wird. Entscheidend sind vielmehr die gemeinsamen Prinzipien oder gesetzmäßigen Verbindungen zwischen sensorischen und motorischen Systemen, da sie erklären, wie das Handeln in einer vom Wahrnehmenden abhängigen Welt wahrnehmungsgeleitet sein kann.
Diese Sicht der Wahrnehmung gehörte zu den zentralen Erkenntnissen im Frühwerk Merleau-Pontys. Daher möchten wir eine seiner visionären Passagen vollständig zitieren.
".. Der Organismus lässt sich eben nicht vergleichen mit einer Klaviatur, auf der äussere Reize spielen und ihre eigentümliche Gestalt abzeichnen, aus dem einfachen Grunde, weil er selbst dazu beiträgt, die Gestalt zu bilden. "Die Verhältnisse des Objekts und die Intentionen des Subjekts mischen sich nicht nur..., sondern fügen sich auch zu einem neuen Ganzen zusammen". Wenn Auge und Ohr ein flüchtiges Tier verfolgen, so lässt sich bei dem Austausch von Reizen und Reaktionen unmöglich sagen, "wer angefangen hat". Da alle Bewegungen des Organismus stets durch äussere Einflüsse bedingt sind, kann man durchaus, wenn man so will, das Verhalten als eine Wirkung der Umwelt behandeln. Doch da alle Reize, die der Organismus aufnimmt, ihrerseits erst ermöglicht wurden durch die vorausgehenden Bewegungen, die schließlich das Rezeptionsorgan den äusseren Einflüssen aussetzten, könnte man geradesogut sagen, das Verhalten sei die Primärursache aller Reize.
So wird die Reizgestalt durch den Organismus selbst geschaffen, durch seine eigentümliche Art und Weise, sich den äusseren Einwirkungen auszusetzen. Zweifellos muss er, um überhaupt bestehen zu können, um sich herum eine bestimmte Anzahl physikalischer und chemischer Agenzien antreffen. Doch er ist es, der entsprechend der eigentümlichen Natur seiner Rezeptoren, den Schwellen seiner Nervenzentren und den Bewegungen der Organe aus der physischen Welt die Reize auswählt, für die er empfänglich ist. Man könnte sagen, "dass die Umwelt sich durch das Sein des Organismus aus der Welt herausschält, unpräjudizierlicher, dass ein Organismus nur sein kann, wenn es ihm gelingt, in der Welt eine adäquate Umwelt zu finden". Es wäre das eine Klaviatur, die sich selbst bewegt, und zwar so, dass sie - nach wechselnden Rhythmen - diese oder jene ihrer Noten der Einwirkung eines äusseren Hammers aussetzt, die in sich selbst monoton ist. .."
In einem solchen Ansatz ist die Wahrnehmung also nicht nur in die Umwelt eingebettet und von ihr geprägt, sondern trägt auch zur Inszenierung dieser Umwelt bei. Wie Merleau-Ponty feststellt, gestaltet der Organismus seine Umwelt und wird von ihr beeinflusst. Merleau-Ponty erkannte also, dass wir die wechselseitige Spezifikation und Selektion von Organismus und Umwelt begreifen müssen.
Varela u.a. belegen nun anhand von Beispielen, wie die Wahrnehmung das Handeln leitet. In einer klassischen Untersuchung zogen Held und Hein Kätzchen im Dunkeln groß und setzten sie nur unter kontrollierten Bedingungen dem Licht aus. Eine Gruppe von Tieren durfte sich normal bewegen, war aber an ein einfaches Wägelchen mit einem Korb angeschirrt, in dem sich ein Tier der zweiten Gruppe befand. Die Tiere beider Gruppen machten also die gleichen visuellen Erfahrungen, doch die der zweiten mussten völlig passiv bleiben. Als man die Tiere nach einigen Wochen freiließ, verhielten sich die Tiere der ersten Gruppe normal, die Tiere, die jedoch nur herumgefahren wurden, wirkten, als seien sie blind: Sie stießen dauernd an und fielen über Kanten. Die Studie stützt das Konzept der Inszenierung, wonach Objekte nicht nur durch visuelle Rekonstruktion von Merkmalen, sondern durch die visuelle Ausrichtung des Handelns gesehen werden.
Wir kommen nun zu der Vorstellung, dass Kognitionsstrukturen aus jenen rekursiven sensomotorischen Mustern emergieren, die eine Wahrnehmungsleitung des Handelns ermöglichen. In diesem Bereich hat Jean Piaget Pionierarbeit geleistet. Er entwickelte sein Programm einer genetischen Epistemologie. Piaget wollte erklären, wie sich das Kind von einem unreifen biologischen Organismus (bei der Geburt) nach und nach zu einem abstrakt denkenden Wesen entwickelt. Zu Beginn hat das Kind nur sein sensomotorisches System. Piaget wollte verstehen, wie sich die sensomotorische Intelligenz dahingehend entwickelt, dass das Kind zu einer Vorstellung von einer Außenwelt mit beständigen, in Raum und Zeit lokalisierten Objekten gelangt sowie zu einer Konzeption seiner selbst als Objekt unter anderen Objekten und als ein interner Geist. In Piagets System ist das Neugeborene weder objektivistisch noch idealistisch gesonnen. Es hat nur seine eigenen Aktivitäten, und selbst das einfachste Erkennen eines Objekts lässt sich nur im Sinne seiner Aktivität verstehen. Aus dieser heraus muss es das ganze Gebäude der phänomenalen Welt (mit ihren Gesetzen und mit ihrer Logik) errichten. Dies ist ein klares Beispiel für das Emergieren kognitiver Strukturen aus rekursiven Mustern (in Piagets Terminologie "zirkulären Reaktionen") der sensomotorischen Aktivität.
Interessanterweise scheint Plaget selbst theoretisch nie an einer vorgegebenen Welt und an einem unabhängigen Erkennenden mit vorgegebenem logischen Endpunkt der kognitiven Entwicklung gezweifelt zu haben. Die Gesetze der kognitiven Entwicklung sind für ihn, selbst auf der sensomotorischen Stufe, eine Assimilation der und Angleichung an die vorgegebene Welt. Daher besteht in Piagets Werk eine interessante Spannung: Ein objektivistischer Denker behauptet, das Kind sei ein inszenierender Agent, doch als solcher entwickelt es sich unausweichlich zu einem objektivistischen Denker. Piagets Werk, das in einigen Bereichen sehr einflussreich ist, hätte mehr Aufmerksamkeit der Nichtpiagetianer verdient.
Eine der grundlegendsten Kognitionsleistungen aller Organismen ist die Kategorisierung. Durch sie wird die Einmaligkeit jeder Erfahrung in eine begrenzte Gruppe erlernter, sinnvoller Kategorien umgewandelt, auf die Menschen und andere Organismen reagieren. In der behavioristischen Ära der Psychologie (die auch den Höhepunkt des kulturellen Relativismus in der Anthropologie bildete), wurden Kategorien als willkürlich behandelt, und die Psychologie setzte Kategorisierungsübungen nur ein, um die Gesetze des Lernens zu erforschen.
Denken Sie an das Objekt, auf dem Sie sitzen, und fragen sich, was es ist - wie es heißt. Sitzen Sie auf einem Stuhl, dürften Sie eher Stuhl als Möbelstück oder Sessel gedacht haben. Warum? Rosch hat angeregt, dass es eine Grundebene der Einordnung in Taxonomien konkreter Objekte gibt, auf der Biologie, Kultur, kognitive Informationsbedürfnisse und Ökonomie zusammentreffen. In mehreren Experimenten haben sie und andere herausgefunden, dass die Grundebene der Kategorisierung auch die umfassendste ist: Die Elemente 1. werden durch eine ähnliche Motorik eingesetzt und behandelt, 2. haben ähnliche wahrgenommene Gestalten und können imaginiert werden, 3. zeigen erkennbare, für den Menschen sinnvolle Merkmale, 4. werden von Kleinkindern kategorisiert und 5. genießen (in mehrerer Hinsicht) sprachlichen Vorrang.
Auf dieser Grundebene der Kategorisierung werden Kognition und Umwelt offenbar gleichzeitig inszeniert. Das Objekt erscheint dem Wahrnehmenden, als ermögliche es bestimmte Interaktionen, und der Wahrnehmende benutzt die Objekte entsprechend körperlich und geistig. Form und Funktion, meist als Gegensätze behandelt, sind Aspekte ein und desselben Prozesses, und Organismen reagieren äusserst empfänglich auf ihre Koordination. Der Umgang des Wahrnehmenden/ Handelnden mit Objekten der Grundebene gehört den kulturellen, konsensuell bewerteten Lebensformen der Gemeinschaft an, in welcher sich der Mensch und das Objekt befinden - er ist eine Aktivität auf der Basisebene.
Sinnvolle Begriffsstrukturen haben zwei Quellen: 1. die Strukturiertheit der körperlichen und gesellschaftlichen Erfahrung und 2. unsere angeborene Fähigkeit, bestimmte wohlstrukturierte Aspekte unserer körperlichen und interaktiven Erfahrung auf abstrakte Begriffsstrukturen zu projizieren. Das rationale Denken wendet sehr allgemeine Kognitionsprozesse - Fokussieren, Abtasten, Überlagern, Vertauschen von Figur und Hintergrund etc. - auf solche Strukturen an. Diese Thesen scheinen mit Varelas u.a. Auffassung der Kognition als Inszenierung übereinzustimmen.
Eine etwas provokative Ausdehnung der Auffassung von Kognition als Inszenierung wäre es wohl, sie auf das kulturelle Wissen anzuwenden, das die Anthropologie untersucht. Wo sind kulturelle Kenntnisse wie Märchen, Namen für Fische oder Witze lokalisiert? Im Geist des einzelnen? In gesellschaftlichen Regeln? In kulturellen Artefakten? Wie können wir die zeitlichen und individuellen Abweichungen erklären? Für die Anthropologie könnte es sehr förderlich sein, das Wissen an der Schnittstelle von Geist, Gesellschaft und Kultur zu suchen, statt in einem oder allen drei Bereichen. Das Wissen ist nicht irgendwo oder irgendwie vorgegeben, sondern wird in besonderen Situationen inszeniert - zum Beispiel, wenn jemand ein Märchen erzählt oder einen Fisch benennt. Wir überlassen es der Anthropologie, diese Möglichkeit zu prüfen.
Karl Jaspers, Ludwig Binswanger und Merleau-Ponty haben auf der Basis von Heideggers Philosophie ein Konzept der Psychopathologie entwickelt, das sich grundlegend vom Ansatz Freuds und von der neueren Theorie der Objektbeziehungen unterscheidet. Da er psychische Störungen allgemeiner, stärker charakterologisch erklären soll als Freuds auf Hysterie und Zwangsneurosen spezialisierte Analyse, kann man diesen Ansatz als die ontologische Sichtweise bezeichnen. Er steht also im Gegensatz zu Freuds repräsentativ kognitivistischer, epistemologischer Auffassung.
Aus ontologischer Sicht kann man einen gestörten Charakter nur verstehen, wenn man das ganze In-der-Welt-Sein der Person berücksichtigt. Ein Motiv wie Minderwertigkeit oder Dominanz, gewöhnlich nur ein Aspekt unter vielen, mit denen ein Individuum seine Welt definiert, verfestigt sich durch frühe Erfahrungen und wird so zum einzigen Modus, durch den sich die Person in der Welt erfahren kann. Dadurch gleicht es dem Licht, in dem man Objekte sieht - das Licht selbst kann man nicht als Objekt sehen -, und Vergleiche mit andern Modi des In-der-Welt-Seins sind deshalb nicht möglich. Die Existenzanalyse hat diesen Ansatz nicht nur auf pathologische Charakterstörungen angewandt, sondern auch sogenannte Pathologien als existentielle Entscheidungen neu bewertet.
Dieser phänomenologischen Sicht der Pathologie fehlt es jedoch an eigenständigen Behandlungsmethoden. Der Patient kann zwar versuchen, frühkindliche Vorfälle zu erinnern, aus denen die Dominanz eines Motivs erwuchs, dieses in der Übertragung mit dem Therapeuten inszenieren und durcharbeiten oder eine körperbezogene Therapie machen, um die Somatisierung des Motivs aufzuspüren und zu lindern - das alles wäre aber ebenso typisch für Therapien, in denen die Störung im Freudschen Sinne, im Sinne der Objektbeziehungen oder mit anderen Theorien gefasst würde.
Die achtsame, offene Zugangsweise zur Erfahrung, die wir beschrieben haben, bietet Möglichkeiten einer umfassenden Neuverkörperung der Person. Daher könnte sie den erforderlichen Rahmen und die nötigen Hilfsmittel liefern, um die Psychoanalyse im existentiellen, verkörperten Sinne auch praktisch anzuwenden. Das Verhältnis zwischen Meditationspraxis, buddhistischer Lehre und Therapie wird bei westlichen Praktikern der Achtsamkeit/Gewahrseins-Meditation engagiert, aber auch kontrovers diskutiert. Die westliche Psychotherapie ist ein historisch und kulturell einmaliges Phänomen; im traditionellen Buddhismus gibt es nichts Vergleichbares. Viele westliche Meditierende (ob Anhänger des Buddhismus oder nicht) sind entweder Therapeuten oder streben diesen Beruf an. Viele weitere haben Therapieerfahrung.
Die Evolutionsproblematik liegt faktisch parallel zum Problem der Kognition. Wenn der Begriff Repräsentation (in seiner starken Formulierung) im Zentrum der heutigen Kognitionswissenschaft steht, gruppiert sich die moderne Evolutionstheorie um den Begriff der Anpassung.
Bis zum Aufkommen der Kritik an diesem sogenannten adaptivistischen Programm galt die Theorie der organischen Evolution als orthodoxe Grundlage des Neodarwinismus. Dieser ist für die moderne Evolutionstheorie, was der Kognitivismus für die Kognitionswissenschaft bedeutet - und das in mehrerer Hinsicht. Wie der Kognitivismus, lässt sich auch das neodarwinistische Programm relativ einfach in Kurzform darstellen.
In erster Linie stützt sich der Neodarwinismus auf Darwin selbst. Dessen Vermächtnis besteht aus drei wesentlichen Aspekten:
1. Die Evolution vollzieht sich als allmähliche Veränderung der Organismen in einer Abstammungslinie. In der Vererbung gibt es also ein Element der Reproduktion.
2. Das Erbmaterial diversifiziert ständig (durch Mutationen und Rekombinationen).
3. Ein zentraler Mechanismus - die natürliche Selektion - erklärt, wie es zu diesen Veränderungen kommt. Die natürliche Selektion basiert darauf, im Kampf mit der jeweiligen Umwelt die bewährtesten Artmerkmale (Phänotypen) auszuwählen.
Der Neodarwinismus ging in den dreißiger Jahren (durch die sogenannte moderne Synthese der zoologischen, botanischen und systematischen Ideen Darwins mit den neuen Erkenntnissen über Zell- und Populationsgenetik) aus dem klassischen Darwinismus hervor. Diese Synthese prägte die Grundauffassung, dass Modifikationen auf geringfügigen Veränderungen in den Erbanlagen oder Genen der Organismen beruhen. Evolution ist die Summe der genetischen Veränderungen bei den sich kreuzenden Populationen. Rhythmus und Tempo der Evolution werden durch Veränderungen in der "Tüchtigkeit" der Genstruktur gemessen. Obwohl diese Konzepte allgemein bekannt sind, müssen wir sie genauer analysieren, um ihren wissenschaftlichen Funktionen gerecht werden zu können.
Nehmen wir den Begriff Anpassung. Intuitiv verstehen wir darunter eine Art Plan oder Entwurf, die einer bestimmten physischen Situation optimal (oder zumindest sehr gut) entsprechen. So eignen sich etwa die Flossen von Fischen gut für das Leben im Wasser, während der Huf besser dem Galoppieren über Prärien entspricht. Evolutionstheoretiker begreifen Anpassung als einen Prozess, der mit Reproduktion und Überleben zu tun hat, als ein Sichanpassen. Dieser Prozess soll erklären, wie es in der Natur zur beobachteten adaptiven Struktur kommt.
Um die Idee des Sichanpassens theoretisch tragfähig zu machen, müssen wir jedoch die Angepasstheit von Organismen untersuchen. Dabei kommt der Begriff Tüchtigkeit ins Spiel. Unter dem Aspekt der Angepasstheit muss die Evolution vererbbare Strategien finden, das heisst, aufeinander bezogene Gengruppen aussondern, die mehr oder weniger gut zur differenzierten Reproduktion beitragen können. Verändert sich ein Gen in diesem Sinne, um seine Aufgabe besser zu lösen, dann steigert es seine Tüchtigkeit. Diese Idee der Tüchtigkeit wird oft als ein Maßstab des individuellen Überflusses formuliert und besagt dann, wie viele überschüssige Nachkommen vorhanden sind. Sie kann aber auch als Maßstab für den Überfluss auf Populationsebene gelten, betrifft also die Auswirkung der Gene auf die Wachstumsrate einer Population.
Diese quantitative Messung der Tüchtigkeit hat jedoch begriffliche und empirische Mängel. Zunächst hängt der Reproduktionserfolg bei den meisten Tierarten vom geschlechtlichen Umgang mit anderen Tieren ab. Da Gene stets in große Gesamtheiten eingebunden sind, kann man ihre Effekte zudem meist nicht isoliert betrachten. Dazu ist das Milieu der Gene sehr vielfältig und zeitabhängig. Schließlich muss man dieses Milieu im Kontext des gesamten Lebenszyklus und der ökologischen Bedingungen eines Tieres sehen.
Tüchtigkeit kann auch als Maßstab des Beharrungsvermögens gelten. Dabei misst man die Wahrscheinlichkeit der beständigen Reproduktion in der Zeit. Optimiert wird jedoch nicht die Zahl der Nachkommen, sondern die Wahrscheinlichkeit ihres Aussterbens. Dieser Ansatz betont langfristige Effekte und damit schon ein Fortschritt gegenüber der engen Sichtweise, die Tüchtigkeit bloß mit dem Überfluss an Nachkommen gleichsetzt. Allerdings lässt er sich kaum quantifizieren.
Die orthodoxe neodarwinistische Evolutionstheorie wird meist vorausgesetzt, wenn die Beziehung zwischen Evolution und Kognition geklärt werden soll. Sie bildet also innerhalb der Kognitionswissenschaft die herrschende Auffassung der Evolution. Diese orthodoxe Sicht untersuchen Varela u.a. kritisch. Allerdings richtet sich die Kritik nicht nur auf die wissenschaftliche Plausibilität des Anpassungskonzepts. Dazu skizzieren wir einige der offenen Fragen und strittigen Punkte, die zur Entwicklung alternativen Ansätze beitrugen. Daraus ergibt sich eine Sicht der Evolution, die wir natürliches Driften nennen werden. Die Evolution als natürliches Driften ist das biologische Pendant zur Kognition als verkörpertes Handeln. Daher bildet sie auch einen breiteren theoretischen Kontext für die Analyse der Kognition als biologisches Phänomen.
Alle hier zu erörternden Aspekte haben mit einem grundlegenden Mangel in der herrschenden Deutung der natürlichen Selektion zu tun. Gene sind so verknüpft, dass man Organismen - auch mit eleganten Tricks - nicht als Ansammlung von Eigenschaften oder Merkmalen behandeln kann. Biologen bezeichnen den Sachverhalt, dass einzelne Gene (abgesehen von Sonderfällen wie der Augenfarbe) nicht für das Auftreten isolierter Merkmale verantwortlich sind, als Verknüpfung und Pleiotropie. Pleiotropische Effekte sind jedoch keine bizarren Eigenschaften weniger außergewöhnlich komplexer Merkmale. Vielmehr ist das Genom infolge genetischer Wechselwirkung keine bloße Aneinanderreihung unabhängiger Gene (die sich in Merkmalen äußern), sondern ein eng verwobenes Netzwerk multipler reziproker Auswirkungen, zwischen denen Blocker und Antiblocker, Exone und Introne, springende Gene und sogar strukturelle Proteine vermitteln.
Die vielleicht deutlichsten Beispiele für Ganzheit auf der Genomebene (im Rahmen der Makroevolution, nicht der Ontogenese) sind Brüche in den zeitlichen Veränderungen von Spezies; man bezeichnet sie als punktiertes Gleichgewicht. Dieses vieldiskutierte Phänomen entkräftete die Idee einer evolutionären Kontinuität (wonach sich die Evolution durch schrittweise Ansammlung selektierter punktueller Mutationen vollzieht). Die Fossilfunde scheinen nicht unvollständig zu sein. Oft kann man sich Zwischenformen einfach nicht vorstellen. Wie ließe sich etwa der Übergang von einer Spezies mit dorsal-ventraler Asymmetrie zu einer solchen mit Spiegelasymmetrie konstruieren? Der Übergang muss sich durch globale Umgruppierungen vollziehen und koordinierte genetische Wechselwirkungen einschließen. Solche Effekte können in einfachen Fällen sogar ohne jede Selektion auftreten.
Wie oft in der Wissenschaft, kann man solche Probleme entweder als gravierende Mängel oder noch ungeklärte Details auffassen. Überzeugte Neodarwinisten erkennen zwar genetische Wechselwirkungen an, hoffen aber, den Einfluss der Pleiotropie durch feinere Messtechniken von der natürlichen Selektion abgrenzen zu können. Gleichwohl bleibt es dabei, dass die klassischen Tüchtigkeitsmaßstäbe für Artmerkmale das Problem der pleiotropischen Effekte nicht überzeugend lösen können. Man darf also fragen, ob die Analyse der Evolution als optimierte Tüchtigkeit von Merkmalen nicht ein Irrweg ist. Statt dessen könnte man die Evolution in einem theoretischen Rahmen erforschen, der Organismen und Gesellschaften primär als integrale Einheiten, statt als Ansammlung von Merkmalen definiert - unabhängig davon, wie viele Kompromisse man in Kauf nehmen will.
Die Schwäche eines Ansatzes, der Organismen als Ansammlungen unabhängiger Merkmale definiert, zeigt sich besonders deutlich dort, wo es um die Rolle der Entwicklung im Evolutionsprozess geht. Der klassische Ansatz, der sich noch in den meisten Lehrbüchern findet, springt einfach von den Genen und Genfrequenzen zu Phänotypen und reproduktionsfähigen Organismen. Zwar wird die Entwicklungsphase zwischen Geburt und Reife anerkannt, dann aber sofort beiseite geschoben.
Evolutionsbiologen haben jedoch auf ihrem eigenen Gebiet zu zeigen versucht, dass Musterbildung und Morphogenese streng festgelegten zellulären Choreographien folgen, die den Rahmen der Veränderungsmöglichkeiten stark eingrenzen. In den Worten de Beers heißt das: "Embryologische Studien haben gezeigt, dass Prozesse der Strukturbildung für die evolutionäre Morphologie und Homologie ebenso wichtig sind wie die Strukturen selbst."
Man denke etwa an die Entwicklung einzelner Segmente im Embryo der Fruchtfliege Drosophila. In einer frühen Phase, dem sogenannten Blastoderm, gibt es bereits einen ausgewachsenen epigenetischen Kode für die Topographie des Tieres. Dieser Kode definiert eine endliche Menge alternativer Entwicklungsentscheidungen, darunter eine begrenzte Menge von Transformationen. Dieses Modell lässt sich mit einem verteilten Mechanismus, der auf morphogenetischen Gradienten basiert, weiter analysieren und bekommt dann konnektivistische Züge. In der Tat ist der zentrale Punkt wieder derselbe: Man stellt erneut fest, wie wichtig emergente Eigenschaften für komplexe Netzwerke sind (seien sie neuronal, genetisch oder zellulär).
Je mehr wir uns mit embryologischen Landschaften und genetischen Netzwerken vertraut machen, desto stärker treten deren interne Eigenschaften der Selbstorganisation hervor. Daher nennen wir sie intrinsische Faktoren der Evolution. Man muss sich jedoch davor hüten, die natürliche Selektion als etwas Externes im Gegensatz zu den internen Entwicklungseingrenzungen aufzufassen, da diese Dichotomie von Innen und Außen nichts zum Verständnis der Evolution beiträgt.
Neben Pleiotropie und Entwicklung gibt es ein weiteres Element, das die Logik des Anpassungskonzeptes sprengt - den Zufall. Heute ist weithin anerkannt, dass es in der Zusammensetzung tierischer Populationen viel zufälliges genetiches Driften gibt (nicht zu verwechseln mit unserer Vorstellung der Evolution als natürliches Driften). Eine Zufallsquelle ist der bloße Näheneffekt: Wird ein Gen aktiv selektiert, werden dadurch - durch einen "Mitnehm"-Effekt andere Gene aus seiner näheren Umgebung betroffen. Da sich die Lage in den Chromosomen kaum epigenetisch auswirkt, bilden diese Näheneffekte einen erheblichen Zufallsfaktor.
Hält die Population, zweitens, eine bestimmte Größe, "driftet" ihre genetische und genotypische Frequenz von Generation zu Generation. Der Grund dafür ist, dass die genotypischen Frequenzen der Elterngeneration, durch differenzierte Wahrscheinlichkeiten der Reproduktion gefiltert, oft nicht für die genotypischen Frequenzen der nächsten Generation repräsentativ ist. Deren genetische und genotypische Frequenzen können nämlich von denen der Vorläufer abweichen. Selbst wenn man Evolution als genotypische Veränderung auffasst, vollzog sich der evolutionäre Prozess ohne jeden selektiven Druck und beruhte auf etwas, das Statistiker "Stichprobenfehler" nennen könnten. Mehrere Beobachtungen ergaben, dass dieses Driften nicht nur eine Nebenrolle spielt. Zum Beispiel wurde festgestellt, dass sich rund vierzig Prozent des Genoms nicht äußern, sondern repetitiv bleiben. Daher bezeichnet man diesen Anteil als "faule" DNS. Für den klassischen Standpunkt ist diese gewaltige Menge genetischen Materials völlig inaktiv und dürfte daher gar nicht existieren.
Es gibt noch weitere Möglichkeiten jenseits des Tüchtigsten in Evolution und Kognition. Die oben skizzierten Streitpunkte lassen die Schwächen des Anpassungskonzepts deutlich zutage treten. Varelas u.a. Einwand lautet, kurz gefasst: Die Erklärung beobachteter biologischer Regelmäßigkeiten durch die Optimierung der Tüchtigkeit oder der Anpassung an vorgegebene Dimensionen der Umwelt ist aus logischen und empirischen Gründen unhaltbar. Richard Lewontin schrieb in einer Kritik der klassischen Position: "Nicht, dass diese Phänomene [Eingrenzung in der Entwicklung, Pleiotropie etc.] übergangen würden, sie lenken aber von einem Großereignis ab, der Besteigung des Berges Tüchtigkeit durch Sir Ron Fisher und seine getreuen Sherpas." Die Evolutionstheoretiker wenden sich zunehmend vom "Berg Tüchtigkeit" ab und arbeiten an einer breiteren, noch nicht vollständig ausformulierten neuen Theorie. Diesen neuen Ansatz wollen wir nun aus unserer Sicht skizzieren.
Die Probleme der Evolution und der Kognition überschneiden sich in mindestens zwei wichtigen Bereichen, auf welche sich die heutige Kognitionswissenschaft implizit beruft:
1. Die Evolution wird häufig bemüht, um jene Art der Kognition zu erklären, die wir oder andere Tiere derzeit haben. Damit beruft man sich, meist im Rahmen des klassischen Neodarwinismus, auf den Anpassungswert der Erkenntnis.
2. Die Evolution dient oft als Quelle für Begriffe und Metaphern, aus denen Kognitionstheorien entstehen. Besonders deutlich zeigt sich diese Neigung in den sogenannten selektiven Theorien über die Funktionsweise des Gehirns und das Lernen.
In beiden Fällen stellt sich ein zentrales Problem: Kann man den Evolutionsprozess - im Sinne der Repräsentationstheorie - so auffassen, als bestehe zwischen dem Organismus und seiner Umwelt eine Entsprechung, die auf dem Optimierungszwang des Überlebens und der Reproduktion beruht? Zugespitzt ausgedrückt, bildet der Repräsentationsbegriff der Kognitionswissenschaft eine genaue Homologie zum Anpassungskonzept der Evolutionstheorie, da es in beiden Bereichen zentral um Optimierung geht. Daraus folgt, dass jede Schwächung des Anpassungskonzepts ipso facto Schwierigkeiten für den Repräsentationsbegriff der Kognitionsforschung mit sich bringt.
Im vorigen Abschnitt haben Varela u.a. gezeigt, dass sich die Kognitionsforscher bei ihrer Arbeit veranlasst sahen, lokale Teilnetzwerke zu untersuchen. Diese wirken zusammen und bilden, um mit Minsky zu sprechen, Gesellschaften von Agenten. Die Liste der aktuellen Probleme zeigt, dass die Evolutionstheoretiker unabhängig davon zu ähnlichen Folgerungen gelangt sind. Die Zwänge des Überlebens und der Reproduktion reichen bei weitem nicht aus, um erklären zu können, wie sich Strukturen entwickeln und verändern. Daher lassen sich evolutionäre Prozesse nicht auf ein globales Modell optimaler Tüchtigkeit zurückführen. Zwar gibt es lokale genetische Agenten, etwa für den Sauerstoffverbrauch oder das Wachstum des Gefieders, die man an einer vergleichenden Optimierungsskala messen kann, aber keine Messskala wird sich für alle diese Prozesse eignen.
Das zentrale Problem lässt sich durch eine Analogie darstellen: John braucht einen Anzug. In einer durchweg symbolischen Welt der Repräsentation ginge er zu seinem Schneider, der Maß nähme und einen genau passenden Anzug nähte. Es gibt jedoch eine weitere Möglichkeit, die der Umwelt weniger abverlangt. John geht in mehrere Kaufhäuser und wählt aus den vielen dort zur Verfügung stehenden Anzügen einen seiner Größe aus. Obwohl verschiedene Modelle ihm nicht genau passen, sind sie doch gut genug, und unter diesen wählt er dann den Anzug aus, der seiner Größe und seinem Geschmack am besten entspricht. Damit haben wir ein gutes Alternativkonzept der Selektion, das mit einigen Kriterien der optimalen Tüchtigkeit arbeitet. Die Analogie lässt sich jedoch noch verfeinern.
John kann, wie alle Menschen, einen Anzug nicht unabhängig von anderen Lebensbereichen kaufen. Beim Kauf denkt er daran, wie seine Freundin oder sein Chef reagieren werden. Daneben könnten auch politische oder ökonomische Faktoren eine Rolle spielen. Tatsächlich stellt sich die Entscheidung, einen Anzug zu kaufen, nicht von vornherein als ein Problem dar, sondern wird erst durch seine globale Lebenssituation konstituiert. Die Auswahl, die er letztlich trifft, genügt zwar einigen sehr lockeren Zwängen (etwa dem, sich "anständig" zu kleiden), hat aber nicht die Form einer Anpassung - schon gar nicht einer optimalen Anpassung - an diese Zwänge.
Mit dieser dritten Stufe der Analogie nähern wir uns wieder Problemen der Evolutionstheorie und der Kognitionswissenschaft, bei denen man lokale Lösungen nicht einfach auf die Gesamtleistung übertragen kann. Außerdem verweist die Analogie auf Probleme, die in einer umfassenderen Evolutionstheorie neu formuliert werden müssten. Diese wollten wir nun im biologischen Kontext angreifen.
Um den Rahmen der Anpassung überschreiten zu können, müssen wir das Erklärungsprinzip der natürlichen Selektion durch einen anderen Ansatz ersetzen, der nicht alle Strukturen, Mechanismen, Merkmale oder Anlagen auf ihren Überlebenswert reduziert. Dabei ist man versucht zu fragen: Existiert dann alles grundlos? Die Evolutionsbiologie müsste die logische Geographie der Debatte verändern und die verwickelten, zirkulären Kongruenzbeziehungen zwischen den zu erklärenden Aspekten untersuchen.
Der erste Schritt wäre, von einer Logik der Vorschriften zu einer solchen der Gebote überzugehen. Statt: Was nicht erlaubt ist, ist verboten, müsste es heißen: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Im Kontext der Evolution folgte daraus, die Selektion als prozessuale Vorschrift für die Optimierung der Anpassung zu verabschieden. Auf der Basis einer von Geboten ausgehenden Sichtweise müsste die darwinistische Selektion nicht verworfen, aber modifiziert werden: Sie sonderte aus, was nicht mit Überleben und Reproduktion vereinbar wäre. Organismen und die Population bieten Vielfalt; die natürliche Selektion garantiert nur, dass deren Konsequenzen den beiden Grundprinzipien des Überlebens und der Reproduktion genügen.
Diese Orientierung an Geboten verlagert unsere Aufmerksamkeit auf die enorme Vielfalt der biologischen Strukturen auf allen Ebenen. Einer der wichtigsten Aspekte des modernen biologischen Denkens ist, dass sich diese Vielfalt nicht nur mit dem Grundprinzip kontinuierlicher Fortpflanzung vereinbaren lässt, sondern dieses sogar fördert. Dadurch werden alle Probleme, die wir oben als Schwächen des Anpassungskonzepts erörtert haben, zu denkbaren Erklärungsansätzen für eine alternative Konzeption. Sie beleuchten nämlich, wie die enorme Vielfalt aller Ebenen des genetischen und evolutionären Prozesses die Koppelung an eine Umwelt sowohl prägt als auch von ihr geprägt wird.
Wir haben wiederholt gezeigt, dass solche emergenten Eigenschaften ein wichtiges Resultat der Hirnforschung sowie der Analyse selbstorganisierter Systeme und nichtlinearer Netzwerke sind. Heute wollen Neurobiologen, Entwicklungsbiologen, Immunologen und Linguisten verstehen, wie es möglich ist, eine derart ausufernde Verschwendungssucht so zu bändigen, dass Substrate für zahlreiche tragfähig Wege zustandekommen, statt zwischen Bahnen zu selektieren, die einer externen Norm entsprechen müssen.
Der zweite Schritt besteht also darin, den Evolutionsprozess als hinreichend, statt optimal zu begreifen; dabei wirkt die Selektion als grober Überlebensfilter, der alle Strukturen mit ausreichender Bestandskraft zulässt. Aus dieser Sicht kommt es nicht mehr primär auf die Merkmale an, sondern auf organismische Muster und ihre Lebensgeschichte. Eine andere Metapher, die jüngst für diese postdarwinistische Konzeption vorgeschlagen wurde, ist Evolution als bricolage, Bastelei, das Zusammenfügen von Einzelteilen zu komplexen Strukturen, deren Beschaffenheit nicht daher rührt, dass sie einem idealen Plan entsprächen, sondern die einfach nur so möglich ist. Danach lautet das evolutionäre Problem nicht mehr, wie eine bestimmte Entwicklungslinie durch die Anforderung der Optimierung von Tüchtigkeit erzwungen wird, sondern vielmehr, wie die jeweils gegebene Vielzahl tragfähiger Entwicklungslinien sinnvoll zu reduzieren ist.
Eine interessante Konsequenz dieser Umstellung von der Selektion durch Optimierung der Anpassung auf Lebensfähigkeit ist: Präzision und Besonderheit der morphologischen oder physiologischen Merkmale (bzw. der kognitiven Fähigkeiten) lassen sich gut damit vereinbaren, dass sie keinerlei Überlebenswert haben. Anders gesagt: Erscheinungsweise und "Zweck" eines Organismus sind keineswegs durch die Zwänge des Überlebens und der Reproduktion determiniert. Anpassung (im klassischen Sinne), Problemlösung, Einfachheit des Planes, Assimilation, externe "Steuerung" und viele andere Erklärungsprinzipien, die auf der Vorstellung der "Sparsamkeit" der Evolution basieren, treten nicht nur zurück, sondern müssen vollständig revidiert und in andere Erklärungsbegriffe und Metaphern eingebaut werden.
Formulieren wir also die Alternative zu der hier kritisierten Position. Varelas u.a. Ansatz, den sie Evolution durch natürliches Driften nennen wollen, lässt sich durch vier Hauptaspekte darstellen:
1. Die Einheit der Evolution (auf allen Ebenen) ist ein Netzwerk, das vielfältige selbstorganisierende Konfigurationen hervorbringen kann.
2. Diese Konfigurationen erzeugen ihre Selektion in struktureller Koppelung an ein Medium, indem sie ständig Bedingungen erfüllen. Dadurch werden Veränderungen in der Form tragfähiger Entwicklungslinien ausgelöst (jedoch nicht spezifiziert).
3. Die spezifische (nicht einzigartige) Entwicklungslinie oder Art der Veränderung in der Selektionseinheit ist das komplexe (nicht optimale) Resultat vielfältiger Ebenen von Teilnetzwerken ausgewählter selbstorganisierter Repertoires.
4. Der Gegensatz zwischen inneren und äußeren Kausalfaktoren wird durch eine gegenseitig inklusive Beziehung ersetzt, da Organismus und Medium einander spezifizieren.
Mit diesen Mechanismen wollen wir die oben dargestellte Skizze eines Anpassungsmodells ersetzen und die angekündigte alternative Sichtweise inhaltlich füllen. Diese basiert darauf, dass drei Bedingungen gemeinsam anwendbar sind:
1a. die Vielfalt selbstorganisierender Fähigkeiten in biologischen Netzwerken;
2a. eine Form der strukturellen Koppelung, die es erlaubt, tragfähigen Entwicklungslinien zu genügen; und
3a. Verschachtelung von Teilnetzwerken unabhängiger Prozesse, die in einem Prozess des "Herumbastelns" (unkering, bricolage) interagieren.
Diese drei Bedingungen hängen offenbar nicht logisch voneinander ab. Daher können wir uns verschachtelte Netzwerke vorstellen, die sich auf Zwänge einer zielgerichteten Selektion einstellen, statt nur Anforderungen zu genügen. Denkbar wären auch vielfältige Netzwerke, die zwar historisch Anforderungen erfüllen, aber nicht verschachtelt sind und daher keine Entwicklungsqualitäten zeigen. Daher ist es so interessant wie bemerkenswert, dass lebendige Organismen diesen drei verbundenen Bedingungen empirisch genügen. Allerdings gilt das weder für Systeme im allgemeinen, noch gilt es im logischen Sinne, sondern nur für Wesen unseres Schlages, nämlich für lebende Systeme.
Da diese Ideen unsere wissenschaftlichen Auffassungen verändern, müssen sie auf Widerstand stossen. Punkt 1a wird heute von fast allen Biologen und Kognitionsforschern akzeptiert, doch 2a und 3a sind noch Positionen von Minderheiten. Für Varela u.a. liegt der Unterschied zwischen partiellen Veränderungen und der hier vorgeschlagenen radikalen Revision darin, wie man die Idee der Koppelung an eine Umwelt konzeptualisiert. Sie behaupten, dass die Punkte1 bis 3, folgerichtig angewandt, zwingend zu Punkt 4 führen. Diese These wollen wir genauer untersuchen.
Nach der traditionellen Theorie ist die Umwelt, in der Organismen evolvieren und die sie kennenlernen, fest vorgegeben und einzigartig. Hier stossen wir erneut auf die Vorstellung, dass Organismen prinzipiell aus dem Nirgendwo in einer vergebenen Umwelt landen. Diese Simplifizierung wird jedoch verfeinert, wenn wir zugestehen, dass die Umwelt sich verändert, eine Tatsache, mit der schon Darwin empirisch vertraut war. Eine mobile Umwelt schafft den Selektionsdruck, der das Rückgrat der neodarwinistischen Evolutionstheorie bildet.
Sehen wir die Evolution jedoch als natürliches Driften, müssen wir einen Schritt weiter gehen, da an Stelle des Selektionsdrucks dann allgemeinere Anforderungen treten, die zu erfüllen sind. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass wir nicht am Begriff einer unabhängigen, vorgegebenen Umwelt festhalten, sondern ihn zurücktreten lassen und sogenannte intrinsische Faktoren bevorzugen. Varela u.a. betonen also, dass die Vorstellung von dem, was eine Umwelt ist, prinzipiell nicht von dem zu trennen ist, was Organismen sind und was sie tun. Diesen Aspekt hat auch Richard Lewontin hervorgehoben:
"Organismus und Umwelt sind nicht getrennt voneinander determiniert. Die Umwelt wird den Lebewesen nicht als äussere Struktur aufgezwungen, sondern ist faktisch ihre Schöpfung. Sie ist also kein autonomer Prozess, sondern spiegelt die Biologie der Spezies wider. Wie es keinen Organismus ohne Umwelt gibt, so gibt es auch keine Umwelt ohne Organismus."
Die Spezies bringt also ihre Domäne der zu lösenden Probleme oder zu erfüllenden Bedingungen selbst hervor und spezifiziert sie; diese Domäne existiert nicht "da draußen" in einer Umwelt, die als Landeplatz für aus dem Nirgendwo einschwebende Organismen dient. Vielmehr sind Lebewesen und ihre Umwelt durch wechselseitige Spezifikationen und Kodetermination aufeinander bezogen. Was wir Regelmäßigkeiten der Umwelt nennen, sind also keine äußeren Merkmale, die dann internalisiert werden, wie das Repräsentationskonzept und die Anpassungslehre nahelegen. Regelmäßigkeiten der Umwelt resultieren aus einer gemeinsamen Geschichte, also einer Kongruenz, die sich im Laufe einer langen Geschichte der wechselseitigen Determination entfaltet.
Nach Lewontin ist der Organismus sowohl Subjekt als auch Objekt der Evolution. Diesen Aspekt kann man nicht stark genug hervorheben, da viele Forscher auf der Suche nach einer nicht-adaptivistischen Evolutionstheorie der Versuchung erliegen, die Trennung von Organismus und Umwelt aufrechtzuerhalten, und auf dieser Basis versuchen, den jeweiligen "Anteil" der getrennten Pole an der Entwicklung zu bestimmen - ein paar intrinsische Faktoren hier und ein paar externe Zwänge da. Diese Methode, die Dynamik der Evolution zu bilanzieren, ist jedoch unangemessen, da sie uns die angeblich veralteten Alternativen angeboren oder erworben, Natur oder Erziehung, aufzwingt. Doch wie Susan Oyama zutreffend analysiert hat, wird das vermeintlich tote Thema "Natur oder Erziehung" sich so lange hartnäckig halten, bis wir lernen, Organismus und Umwelt als einander wechselseitig entfaltende und einfaltende Strukturen aufzufassen. Oyama schreibt:
"Formen tauchen in sukzessiver Wechselwirkung auf. Sie werden der Materie nicht durch irgendeinen Agenten auferlegt, sondern beruhen darauf, dass die Materie auf vielen hierarchischen Ebenen reagiert und dass diese Wechselwirkungen wiederum aufeinander reagieren. Da wechselseitige Selektion, Reaktion und Einengung nur in wirklichen Prozessen stattfinden können, sind es diese Vorgänge, die die Aktivitäten unterschiedlicher Teile der DNS in Einklang bringen und für eine Wechselwirkung zwischen genetischen und Umwelteinflüssen sorgen: Gene und Genprodukte bilden Umwelten füreinander. Die extraorganismische Umwelt wird durch psychische und biochemische Assimilation internalisiert. Der interne Zustand wird durch Produkte und Verhaltensweise externalisiert, welche die Umwelt selektieren und organisieren."
Man begreift Gene also am besten als Elemente, die spezifizieren, was in der Umwelt festgelegt werden muss, damit etwas als ein Gen fungieren kann, das heißt, voraussagbar mit einem Ergebnis korreliert ist. Bei jeder erfolgreichen Reproduktion vererbt ein Organismus neben Genen auch eine Umwelt, in welche diese Gene eingebettet sind. Wir betrachten Merkmale dieser Umwelt, etwa Sonnenlicht oder Sauerstoff, nur deshalb als vom Organismus unabhängig, weil unser Bezugsrahmen relativ ist. Der innere Zusammenhang der Welt lehrt jedoch etwas anderes, denn die Welt ist, wie gesagt, kein bloßer Landeplatz für Organismen aus dem Nirgendwo: Natur und Erziehung sind als Produkt und Prozess aufeinander bezogen.
Daraus folgt nicht, dass Gene und Umwelt für alle ererbten erworbenen Eigenschaften nötig wären (die übliche aufgeklärte Position), sondern dass man nicht sinnvoll zwischen vererbten (biologischen, genetisch begründeten) und erworbenen (umweltbedingten) Eigenschaften unterscheiden kann. ... Entfällt der Unterschied zwischen ererbt und erworben - nicht nur als Extreme, sondern auch als Kontinuum -, kann die Evolution auch nicht mehr auf ihm beruhen. Die Voraussetzung für evolutionären Wandel ist nicht das Vorhandensein genetisch kodierter Merkmale im Gegensatz zu erworbenen, sondern das Vorhandensein funktionierender Entwicklungssysteme: ökologisch eingebetteter Genome.
Lewontin und Oyama können in ihrem Verständnis dieses wichtigen Aspekts als beispielhaft gelten. Im großen und ganzen haben die Biologen dieses Problem nicht genügend durchdacht. Nehmen wir nämlich die Sicht der wechselseitigen Einfaltung von Leben und Welt ernst, stellt sich anfangs ein Schwindelgefühl ein, da uns die vermeintlich sicheren, festen Grundlagen entgleiten. Statt dieses Gefühl der Bodenlosigkeit jedoch unter den Teppich zu kehren, indem wir das Interne wiederum (erfolglos) gegen das Externe auszuspielen versuchen, müssen wir sogar noch tiefer in den Strudel eintauchen und allen seinen philosophischen und empirischen Windungen folgen.
Neuere Theorien behandeln die neuronalen Kognitionsmechanismen im Sinne des darwinistischen Selektionskonzepts. Aus Varela u.a. Sicht umfassen sie nicht nur Punkt 1a, sondern belegen auch in unterschiedlichem Maße die Punkte 2a und 3a. Manche dieser sogenannten Selektionstheorien folgen den Konsequenzen der genannten Punkte bis hin zur gegenseitig inklusiven Beziehung zwischen Organismus und Umwelt. So sagte Gerald Edelman, ein führender Verfechter dieser Selektionstheorien, zu einem Interviewpartner: "Sie und die Welt sind gemeinsam eingebettet."
Kehren wir erneut zum Beispiel der Farbe zurück. Als wir diesen kognitiven Bereich verließen, hatten wir gesehen, dass es unterschiedliche, inkommensurable "Farbenräume" gibt. Einige lassen sich mit nur zwei Dimensionen beschreiben (dichromatisch), bei anderen benötigt man drei (trichromatisch) und wieder andere erfordern vier (tetrachromatisch), eventuell gar fünf Dimensionen (pentachromatisch). Jeder dieser Farbenräume wurde durch eine besondere Geschichte der strukturellen Koppelung inszeniert oder hervorgebracht.
Wir behaupten also, dass man diese einzigartigen Geschichten der Koppelung, die inkommensurable Farbenräume inszenieren, nicht als optimale Anpassung an unterschiedliche Regelmäßigkeiten der Welt erklären darf, sondern als Folge unterschiedlicher Geschichten des natürlichen Driftens. Da sich Organismus und Umwelt nicht voneinander trennen lassen, sondern in der Evolution als natürliches Driften kodeterminiert sind, müssen die Regelmäßigkeiten der Umwelt, die wir mit diesen verschiedenen Farbenräumen assoziieren (zum Beispiel das Reflexionsvermögen der Oberfläche), letzten Endes gemeinsam mit dem wahrnehmungsgeleiteten Verhalten des Tieres spezifiziert werden.
Nehmen wir ein Beispiel aus der vergleichenden Untersuchung des Farbsehens. Wir wissen, dass Honigbienen Trichromaten sind, deren Farbempfindlichkeit zum Ultraviolett hin verschoben ist. Bekannt ist auch, dass Blumen in ultraviolettem Licht kontrastreiche Reflexionsmuster haben. Bedenken wir in diesem Rahmen unsere "Henne-Ei-Frage" aus dem vorigen Abschnitt: Was kam zuerst, die Welt (Ultraviolettreflexion) oder das Bild (für Ultraviolett empfindliches Sehen)? Die meisten von uns würden sofort antworten: Die Welt (Ultraviolettreflexion). Daher ist interessant, dass die Farben der Blumen mit dem für Ultraviolett empfindlichen trichromatischen Sehen der Bienen koevolviert zu sein scheinen.
Warum sollte es zu dieser Koevolution kommen? Einerseits ziehen Blumen die Bienen durch ihren Nahrungsgehalt an, müssen also auffällig sein und sich gleichzeitig von Blumen anderer Spezies unterscheiden. Andererseits holen die Bienen ihre Nahrung aus den Blumen und müssen diese schon von weitem erkennen. Diese beiden allgemeinen und wechselbezüglichen Einschränkungen scheinen eine Geschichte der Koppelung geprägt zu haben, in der die Merkmale der Blumen mit den sensomotorischen Fähigkeiten der Bienen koevolvierten. Es ist also diese Koppelung, die das Ultraviolettsehen der Bienen und die Ultraviolettreflexion der Blumen hervorgebracht hat. Diese Koevolution liefert also ein gutes Beispiel dafür, dass Regelmäßigkeiten der Umwelt nicht vorgegeben sind, sondern durch eine Geschichte der Koppelung inszeniert oder hervorgebracht werden. Dazu nochmals Lewontin:
"Unser Zentralnervensystem ist nicht an absolute Naturgesetze angepasst, sondern auf Naturgesetze eingestellt, die in einem Rahmen wirken, den unsere sensorischen Aktivitäten geschaffen haben. Im Unterschied zu Bienen können wir mit unserem Nervensystem die Ultraviolettreflexion von Blumen nicht wahrnehmen. Fledermäuse "sehen" anders als Nachtschwärmer. Wir fördern unser Verständnis der Evolution nicht, indem wir uns auf allgemeine "Naturgesetze" berufen, denen alle Lebewesen gleichermaßen unterliegen. Vielmehr müssen wir fragen, wie sich Organismen im Rahmen der allgemeinen Einschränkungen durch Naturgesetze Umwelten geschaffen haben, die nicht nur ihre weitere Evolution, sondern auch die Fortentwicklung der Natur zu neuen Umwelten ermöglichen."
Man darf dieses Beharren auf Kodetermination oder wechselseitiger Spezifikation von Organismus und Umwelt jedoch nicht mit der trivialeren These verwechseln, dass unterschiedlich wahrnehmende Organismen einfach voneinander abweichende Weltsichten haben. Darin wird die Welt weiterhin als vorgegeben aufgefasst, kann aber aus mehreren Perspektiven betrachtet werden. Varela u.a. geht es darum, dass Organismus und Umwelt einander in vielfacher Hinsicht einfalten, so dass die jeweilige Welt eines Organismus durch seine Geschichte der strukturellen Koppelung hervorgebracht oder inszeniert wird. Zudem verläuft die Geschichte der strukturellen Koppelung nicht über optimale Anpassung, sondern über Evolution als natürliches Driften.
Behandelt man die Welt als vorgegeben, so dass der Organismus sie repräsentiert oder sich ihr anpasst, ist dies eine dualistische Auffassung. Der extreme Gegenpol wäre ein Monismus. Wir treten hier nicht für den Monismus ein. Vielmehr soll die Inszenierung einen Mittleren Weg zwischen Dualismus und Monismus eröffnen.
Stellen wir die Kognition als verkörpertes Handeln in den Kontext der Evolution als natürliches Driften, so erkennen wir, dass die kognitiven Fähigkeiten untrennbar mit Lebensgeschichten verbunden sind, die Wege ähneln, welche erst im Gehen gebahnt werden. Daher begreifen wir die Kognition nicht mehr als Problemlösung auf der Basis von Repräsentationen, sondern als Inszenierung oder Hervorbringen einer Welt durch eine tragfähige Geschichte der strukturellen Koppelung.
Diese Differenz ist auch relevant für die Anforderungen an Kognitionssysteme im Rahmen ihrer strukturellen Koppelung: Müsste die Koppelung optimal sein, wären die Interaktionen des Systems (mehr oder weniger) vorgeschrieben. Um tragfähig zu sein, muss das wahrnehmungsgeleitete Verhalten des Systems jedoch nur dessen Bestand (Ontogenese) und/oder seine Fortpflanzung (Phylogenese) fördern. Wir haben es also erneut mit einer Logik der Gebote, nicht der Vorschriften zu tun: Jedes Verhalten des Systems ist erlaubt, solange es dem Gebot nicht zuwiderläuft, dass die Integrität des Systems und/oder seiner Fortpflanzungslinie aufrechtzuerhalten ist.
Nun können wir das Inszenierungskonzept der Kognitionswissenschaft genau formulieren, indem wir die an den Kognitivismus und an das Emergenzprogramm gestellten Fragen nochmals beantworten:
Frage 1: Was ist Kognition?
Antwort: Inszenierung: Eine Geschichte der strukturellen Koppelung, die eine Welt hervorbringt.
Frage 2: Wie funktioniert sie?
Antwort: Über ein Netzwerk, das aus vielfältigen Ebenen wechselseitig verknüpfter sensomotorischer Teilnetzwerke besteht.
Frage 3: Woran erkenne ich, ob ein Kognitionssystem richtig funktioniert?
Antwort : Daran, dass es sich in eine fortbestehende Welt einfügt (wie die Jungen aller Spezies) oder eine neue Welt gestaltet (wie in der Evolutionsgeschichte).
Die wichtigste Neuerung besteht darin, dass die Funktion der Umwelt als Quelle von Inputs zurücktritt, da die Repräsentation keine zentrale Rolle mehr spielt. Sie spielt in Erklärungen jetzt nur noch in solchen Fällen eine Rolle, bei denen Systeme zusammenbrechen oder mit Ereignissen konfrontiert werden, denen ihre Struktur nicht gewachsen ist. Auf dieser Basis wird Intelligenz von einer Fähigkeit der Problemlösung zu dem Vermögen, in eine gemeinsame Welt der Bedeutung einzutreten.
Soweit Varela u.a. zum "Ich". Seine umfangreichen Ausführungen über die theoretischen und praktischen Zugänge zu der buddhistischen Madhyamika-Lehre, der Lehre vom "Mittleren Weg" sowie seine Schlußfolgerungen daraus für einen Ausweg aus dem Dilemma Wissenschaft versus Alltagserfahrung möge der interessierte Leser besser direkt an der Quelle bei Varela u.a. lesen.
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