Selbsterkenntnis und Eigensinn


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8.11 Ein bisschen Nächstenliebe

8 Wer antwortet?


Oben habe ich einiges über Selbstverantwortung, "Unterstützen statt Erziehen" und vom gleichwertigen Umgang miteinander geschrieben. Im Abschnitt 3.3 Bewußtmachen habe ich Amication und den
Freundschaft mit Kindern-Förderkreis vorgestellt, der auch unterstützt, diese Ideen im praktischen Alltag umzusetzen. Im Folgenden werde ich deshalb zwei Rundbriefe des Förderkreises zeigen über Nächstenliebe [1] und über die amicative Praxis [2] von Hubertus von Schoenebeck.

"Jeder Mensch kann sich lieben, so wie er ist. Diese konstruktive Sicht auf sich selbst kommt aus dem Lebenswillen und wird durch nichts und niemanden in Frage gestellt. Selbstliebe ist ohne Egoismus und von Nächstenliebe umgeben." So steht es als Punkt Eins in den "Grundlagen amicativer Lebensführung". Selbstliebe ist für jemanden, der sich auf die amicative Gesamtaussage bezieht, selbstverständliche Basis.

Wenn man dem Selbstliebegedanken zustimmt und sich zu eigen gemacht hat, wenn man ihn jetzt wieder oder schon lange wieder oder immer schon in sich trägt, dann gibt es all die Probleme und Belastungen nicht (mehr), die Menschen mit sich herumtragen, die wenig an sich glauben, die immer wieder an sich arbeiten müssen, die andere glücklich machen müssen, die nie aufhörende Schuldgefühle haben, die auf einer ziemlich dunklen und trüben Seite des Lebens wandern. Wer an sich glaubt und es nicht für übertrieben hält, sich auch noch zu lieben, der ist von Sonne umgeben. Zumindest im Nachdenken und im Selbstbild. Die Schwierigkeit, wie man diesen schönen Selbstliebegedanken auch im Alltag erlebt, will dann noch gemeistert sein. Aber irgendwie geht das dann schon, mal besser, mal schlechter. jedenfalls stimmt die Richtung, auch wenn der Weg dorthin immer wieder nicht so klar ist. Was einen aber letztlich nicht verdrießt. Denn, so ist das Gefühl, es ist ja erkannt, was einem gut tut und was nicht. Gut tut es, an sich zu glauben und sich zu lieben. Anderes nicht.

Wenn das soweit klar ist (und es "nur" noch und immer wieder darum geht, die Selbstliebe dann auch real zu erleben), dann gibt es einen weiterführenden Gedanken, der etwa so klingt: "Es ist die Grundlage meiner Sicht von mir, daß ich mich lieben kann, so wie ich bin. Kein Thema. In dieser Frage bin ich entschieden und gelegentliche Praxistiefs werfen das alles nicht um. Ich bin mir meiner Selbstliebe sicher. So weit so gut. Und nun, von dieser Sicherheit aus, sehe ich mich nach dem Anderen um. Von dieser meiner Selbstliebebasis aus frage ich nach Dir: Was kann ich für Dich tun? Was brauchst du? Wer bist Du?"

Amication hat die Selbstliebe als unverzichtbares Gut erkannt. Selbstliebe ist nicht gegen andere gerichtet, sie ist ohne Egoismus. Und sie enthält ein großes Tor zum Nächsten, zu dem Anderen, den man aus dem Ruhen in sich heraus sieht, dem man sich nah fühlt und dem man seine Unterstützung anbieten kann. Es ist die Frage, wann man in sich bemerkt, daß es dieses Tor gibt, und wann man es durchschreiten will. Es gibt nichts, das einen dazu drängt. Und wenn man sich seiner Selbstliebe nicht so sicher ist, wird man sich kaum um dieses Tor kümmern und daran vorbeigehen. Aber es ist da, und wenn die Zeit gekommen ist, wird man es bemerken und sich seiner bedienen.

Warum soll man nicht durch das Tor der Nächstenliebe zum Anderen gehen? Es gibt da keinen Streß und keine Pflicht. Keine Moral setzt amicative Menschen unter Druck, sich dem Anderen zuzuwenden. Jeder ist sein eigener Chef. Das ist amicative Grundposition. Aber man kann. Man kann nach dem fragen, was der Andere braucht, man kann ihn unterstützen, seine eigenen Dinge tun zu können. Wenn man dazu die Zeit und die Kraft hat. Aber ist diese Kraft denn nicht längst da bei denen, die sich selbst so lieben, wie sie sind?

Das muß man sehen, von Fall zu Fall. Ich möchte es in Erinnerung rufen, diese Möglichkeit, sich einmal um den Anderen und seine kleinen und größeren Nöte zu kümmern. Warum nicht? Einfach mal nett sein und schauen. Wenn der es dann Marke "Kleiner Finger - ganze Hand" sofort überzieht, kann man es ja wieder sein lassen. Aber mir geht schon durch den Sinn, daß diejenigen, die voll des süßen amicativen Selbstliebehonigweins sind - und davon kann man nicht voll genug sein - sich auch einmal um den Becher des Anderen zur Rechten und zur Linken kümmern können. Könnten!

Nein, natürlich soll daraus, daß man mal gefragt hat, kein Anspruch des Anderen erwachsen, man hätte sich nun öfter so um ihn zu kümmern. Die Frage nach dem Anderen ist nicht der Beginn einer neuen Verstrickung und Abhängigkeit, die amicative Menschen ja gerade erst mühsam überwunden haben. Wir haben uns von dieser unguten Verklammerung gelöst, daß die Wünsche des Anderen unsere eigenen Wege verstellt haben. Wir haben ja gerade diesen Griff auf uns überwunden, wie er in jeder (pädagogischen) Kindheit einen jeden von uns uns klein, ohnmächtig und schuldbewußt am Boden hielt. DAS habe wir hinter uns, dieses Kümmernmüssen um den Nächsten aus dieser ganzen Anspruchswelt heraus. Dagegen steht unsere Fanfare "Ich liebe mich so wie ich bin". Das alles ist schon klar, und dahinter soll es nicht zurück gehen.

Aber der Gedanke des Hinschauens auf den Anderen kann eben auch jenseits dieser schrecklichen Verdrehung gedacht werden. Das Kümmern um den Anderen kann aus der Diskreditierung gelöst werden, den das Anspruchsdenken über die Nächstenliebe gestülpt hat. Gelöst werden aus dem wilden Wahn, in den der Andere wegen all dieser Verdrehung gefallen ist, daß er nämlich meint, sich zu recht an uns wenden zu können, uns zu recht für seine Not vereinnahmen zu können, uns zu recht die Pflicht auferlegen zu können, daß wir uns um ihn kümmern. Schluß mit diesem schaurigen Szenario. Amication! Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Wir weisen solch ein Ansinnen zurück, es ist von der anderen Welt. Unsere Beschwörungsformel gegen diesen lähmenden Zauber heißt "Ich liebe mich so wie ich bin", solange wehrhaft und zugleich ohne Mißachtung immer wieder wiederholt, bis der Drachenkopf aus Anspruch und Schuld wieder versinkt im Meer der unendlichen Möglichkeiten. Nein: Wir lassen uns nicht mehr einfangen.

Von vorn: Der Gedanke des Hinschauens auf den Anderen kann auch jenseits dieser Verdrehung gedacht werden. Einfach mal so. Für Mutige. Oder beiläufig, ohne sich viel dabei zu denken. Oder als banaler Reflex in unseren Beziehungen. Ja, ja, wenn das denn alles so beiläufig und so banal schon ist! Wenn genug Liebe zwischen uns lebt, ist so etwas beiläufig und banal. Aber auch dort gilt: Wenn es eine wahre Liebe ist, dann keine, die auf Kosten des anderen geht.

Ist es eine noble Geste, nach dem Anderen Ausschau zu halten? Warum nicht. Wir sind noble Menschen. Sind wir nicht reinen Herzens? Ja, sind wir, und zwar uns selbst gegenüber, denn das "Ich liebe mich so wie ich bin" ist nur arglos und ohne irgendwelche Listigkeiten möglich (sonst wird es eine Farce und klappt niemals). Und diese hinterhaltslose Herzlichkeit kann man auch zum Anderen wenden, eben mal vorbeischauen, wie es ihm geht, was der denn so braucht, unser Nächster, unser Partner, unser Kind.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie offene Bücher die Anderen sind. Sie lassen doch stets erkennen, wo sie gerade sind und was sie brauchen. Eigentlich muß man sie überhaupt nicht fragen; es ist sowieso klar, was anliegt. Man kann da schon gleich den nächsten Schritt tun und sich selbst fragen, was man tun kann, damit sie bekommen, was ihnen gut tut. Das "Was braucht Du? Was kann ich für dich tun?" klingt sowieso nur aufgesetzt und unwirklich therapeutisch. So kann das nicht gehen.

In Wirklichkeit entfällt diese Frage auch als real gestellte Frage. Aber sie hat ihre Bedeutung in uns selbst. Sie ist das Tor zum Anderen, sie ist unsere Sensibilität für den Anderen, in Gedanken gefaßt, sie läßt uns anlegen an sein Lebensschiff. In der Welt des Handelns wird dann sichtbar, was wir im Moment gerade für Menschen sind: Nämlich solche, die aus ihrer Selbstliebe heraus auch für den Anderen da sind und die helfen, daß geschieht, was der Andere jetzt braucht.

Wißt Ihr, was Eure Anderen brauchen? Wann wißt Ihr es? Einmal im Monat, einmal in der Woche, einmal am Tag, einmal in der Stunde? Einmal in der Minute gilt nur für frisch Verliebte, und das ist man selten .... oder läßt sich dieses behutsame "Du-bist-mir-wichtig-Gefühl" pflegen und wieder herbeiholen? Und wenn Ihr es denn präsent habt, was Euer Anderer gerade braucht, was hindert Euch daran, dies zu tun? Wie üblich hunderttausend Beziehungssteine. Klar.

Aber, und nur das schlage ich vor, man kann ja mal schauen, einfach mal so schauen und einfach mal wieder erkennen, was der Andere braucht und es ihm vielleicht geben. Weil das Wetter schön ist. Oder weil es so schlecht ist. Weil, eben. Das ist jedenfalls nicht verboten und das kann ein jeder tun. Wenn man es denn will, ohne es zu sollen oder zu müssen, als Chef des eigenen Lebens. Und: "Könnt mich doch freuen, wenn ich Dir gebe, was Du brauchst. Mir zur Ehre und zum Hosianna." Nicht großartig inszeniert, sondern eben beiläufig. Weil ich mich so liebe, wie ich bin.

Ich meine ja nicht, daß man sich um der schönen Effekte willen verbiegen soll. Ich meine nur, daß man sich einfach auch in diese Region seines Selbstliebelandes begeben kann und dort auch Blumen pflanzen kann. Darauf mache ich aufmerksam und dazu lade ich ein. Wer Lust hat, kann das machen, mitmachen. Auch dieses Spiel des Lebens mitspielen. "Ich kann mich auch um Dich kümmern." Ich kann das tun. Jeder kann das tun. Amicative Nächstenliebe ist ein Geschenk wie die Selbstliebe. Auch sie ist uns geschenkt, als eine Kraft, die in uns ist.

Kinder werden dauernd genervt und gequält mit dem "Kümmere dich!" Um die Hausaufgaben, die gewaschenen Hände, das Vertragen, unsere Ruhe. Sie sollen sich ohne Unterlaß um uns - unsere Vorstellungen vom Leben und um unsere Wünsche - kümmern. Schöne Nächstenliebe! Der Blick auf dieses Geschenk des Lebens wird in der pädagogischen und Oben-Unten-Welt, in der wir groß geworden sind, so verfälscht, daß einem ganz grundsätzlich die Lust vergeht, sich des Anderen anzunehmen. So etwas wird anstrengend, wird zur Pflicht, zum Staatsakt. Oder so aufgebläht, daß man für seine Aufopferung und edle Sozialgesinnung mindestens den Nobelpreis erwartet.

Wirkliche Nächstenliebe findet beiläufig statt, sonst ist es Show. Kein Vorwurf, aber doch schal und ganz fern der Möglichkeiten, die wir in uns tragen. Wie kann man seine Nächstenliebe entwirren, befreien, zurückerobern? Nur kein Streß! Kein Bemühen, keine Arbeit. Einfach mal überraschen. Nicht zu viel, nur ein bißchen. Ein bißchen Nächstenliebe.






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