Selbsterkenntnis und Eigensinn


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9.2 Sünde

9 Eigensinn


In dieser Kette von Geschöpfen und Schöpfern tritt alles mal auch in den Vordergrund, z. B. der Eigensinn, sei es, wie üblich, aus Angst oder Stolz konfrontiert mit der virtuellen Welt meiner Gesellschaft, sei es aus kreativer Neugier in meinem bunten Leben. Die Neugier läßt Menschen, die gewiß nicht viel vereint, die aber doch eine Vorstellung von "Erfolg" haben, welche sich simplen geldwerten Rationalitäten entzieht, einen gemeinsamen Nenner von "Würde" und von Selbstbestimmung finden. Der Stolz läßt mich fragen "Und was wäre, wenn ich etwas nur für MICH erschaffe?". Und ich erschaffe: MEIN Geschöpf. Oder ich glaube: mein Wunschkind. Damit trete ich aus der AllEinheit, in die Trennung. Ein Sund - ein trennender Meeresarm - ist entstanden und, mit aller Konsequenz, entstehen daraus viele: Die Sünde.

Leider assoziiere ich bei solchen christlichen Begriffen immer automatisch auch die
Masken-haften Situationen aus dem Religionsunterricht meiner Schulzeit. Und das löste bei mir früher meist ziemlich krause Reaktionen aus. Geht es manchen von Euch ähnlich? Mit klarem Verstehen-wollen konnte ich dem erst begegnen in der Verfremdung beim Lesen des Koran und den islamischen Erläuterungen dazu.

Bei solchen 'kognitiven Dissonanzen', wenn ich dieses untergründige, widersprüchliche Schrillen im Hinterkopf verspüre, trete ich innerlich einen Schritt zurück, um mir das bewußt zu machen. Dann prüfe ich, ob mich die Sache wirklich interessiert, ob ich nicht den Finger verwechsle mit dem Mond auf den der zeigen will, ob ich tatsächlich die Botschaft vom Boten unterscheiden will. Wenn ja, trete ich noch einen innerlichen Schritt zurück, in eine meditative Haltung, nichts erwartend, weder hoffend, noch fürchtend, spreche meinen ganzen Namen und sage weiter "Friede sei mit Dir und mit Deinem Geiste". (Das funktioniert auch gegenüber anderen Streithähnen; dann gehört dessen Name natürlich in die Formel!)

Das ist wahrlich eine mächtige, magische Formel, die schlagartig die Atmosphäre der Situation verändert, wenn ich tatsächlich die meditative Haltung einschalten kann und wenn ich tatsächlich den Willen zum Frieden fühlen kann. Es wäre sonst leeres Ritual.

Sünde gibt es im Alten und in Neuen Testament. Das hebräische Wort chata', sowie das griechische hamartía (Tätigkeitswort: harmatáno = (ver)fehlen, nicht erreichen, entbehren, vergessen ) bezeichnen wörtlich eine Zielverfehlung, wir sagen heute Verfehlung (Fehler) oder Sünde. Jede Verfehlung der Ziele Gottes ist demnach Sünde. Erst als Gott dem Adam Ge- und Verbote gab, kam eine Gesetzgebung Gottes zu den Menschen. Zum ersten Mal seit der Erschaffung der Menschheit kam hier ein Gesetz Gottes in den Kosmos, wurde Sünde zugerechnet.

Paulus (Römer 7:7-11) erklärt ausführlich, was er meint: "Die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz ... Die Sünde aber ergriff durch das Gebot die Gelegenheit und bewirkte jede Begierde in mir; denn ohne Gesetz ist die Sünde tot. Ich aber lebte einst ohne Gesetz. Als aber das Gebot kam (durch Verkündigung!), lebte die Sünde auf - ICH ABER STARB! Und das Gebot, das zum Leben (gegeben), gerade das erwies sich mir zum Tod. Denn die Sünde ergriff durch das Gebot die Gelegenheit, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe."

Paulus beschreibt hier, wie das Gebot ihn erreichte, während ihm die zu seiner Erfüllung nötige Geistesgemeinschaft fehlte. So bewirkte die Kenntnis des Gebotes seinen Tod - womit nur der geistige Tod gemeint sein kann, denn er lebte danach ja weiter und schrieb seinen Brief.

Auch der Textzusammenhang von Genesis 2 beweist eindeutig, dass es nicht in erster Linie um körperlichen, sondern um geistigen Tod ging, also um die Trennung von Gott und seiner Lebenskraft. Denn der HERR hatte Adam gewarnt: "An dem Tag, an dem du vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse isst, wirst du gewiss sterben! (Genesis 2:17). Adam lebte nach seinem Fall jedoch noch hunderte von Jahren! Der geistige Tod, die Zerstörung der Gemeinschaft mit Gott, trat sofort ein, der körperliche Tod war eine spätere Folge davon
[1].

Was dort beschrieben wird als der geistige Tod weil das Gebot ihn erreichte, während ihm die zu seiner Erfüllung nötige Geistesgemeinschaft fehlte, die Zerstörung der Gemeinschaft mit Gott, ist für mich erstmal ganz irdisch und alltäglich mein Verfehlen meiner Liebe, Anerkennung, Wertschätzung für mich als Fülle, das Lieben-Was-Ist, das sich dann logischerweise ausbreitet auf alle meine Mitgeschöpfe, erstmal, im kleinsten Ausschnitt: "Freundschaft mit Kindern". Dieses Verfehlen führt zum neurotischen Gieren nach Liebe, Anerkennung, Wertschätzung im Mangel. Dem kann ich begegnen in Selbsterkenntnis durch: Selbstbetrachtung - Selbstüberwindung - Selbststeuerung.

Die Seele wächst an der Liebe und an der Erkenntnis, wann Liebe waltet und wann nicht. Gäbe es die Abwesenheit von Liebe nicht, gäbe es kein Bewußtsein von Liebe. Abwesenheit von Liebe ist ebenso wie die Liebe selbst ein kosmisches Prinzip, das der Urkräfte von Zusammenziehung und Ausdehnung. Dennoch manifestiert Abwesenheit von Liebe sich nur dort, wo eine Seele sich im Körper befindet und die Freiheit besitzt, gegen die Freiheit eines anderen Körpers zu handeln. Denn Abwesenheit allein bewirkt noch nichts, sie beschreibt vielmehr einen neutralen Zustand. Erst wenn aus dieser Abwesenheit durch Denken, durch Agieren oder durch Zerstören Konsequenzen gezogen werden, dann kann von Sünde die Rede sein. Sünde - um diese Bezeichnung vorläufig zu verwenden - ist also die manifeste Abwesenheit von Liebe, und Sünde in diesem Sinne kennt viele Facetten. Umgekehrt kann auch gesagt werden, daß jede Übertretung eines menschlichen Gesetzes, die nicht mit einer Abwesenheit von Liebe einhergeht und sie manifest macht, keine Sünde ist. Aber wir Menschen sehen wenig Möglichkeit, uns, die wir in der Dualität gefangen sind, davon überzeugen zu können, daß alle gedanklichen Strukturen, die uns mit Schuldgefühlen belasten und uns damit an der Erkenntnis von Liebe hindern, von Nachteil sind und uns dort fesseln, wo wir ohnehin gefangen liegen. Aber wir könnten uns dennoch befreien, wenn wir das Prinzip der Sünde und der Schuld in das Prinzip der verantwortlichen Liebe oder ihrer Abwesenheit umwandeln würden.

Das Christentum hat das Konzept der Erbsünde. Vom Baum der Erkenntnis essend wußten die Menschen gut und böse und bedeckten ihre Scham. Wenn ich mich da wieder an das Abblättern von tausenden Jahren Ideologie mache, dann fallen mir menschengemäßere Interpretationen ein. Die Entfremdung von Menschen zu Kindern drängt sich mir auf, das Umschwenken von Identität zur Identifikation, die vertrackte Grundlage von Urteilen in Gedanken und Gefühlen. Und die Scham? Ist das die Vorstellung, ich sei verletzlich, sei nicht liebenswert, sei so jedenfalls unannehmbar für meine Leute, weil meine Identität nicht der ihren entsprach, weil sie mich zwar herzlich als Gast begrüßt haben - aber nur unter ihren Bedingungen?

Anders gewendet: das Verbot war ein genialer Trick dieses Gottes des Alten Testaments, um für sich neue und überraschende Selbst-Erkenntnis anzustoßen! Gott braucht das Gegenüber, den Menschen, den er mit Fleiß nach seinem Ebenbilde schuf. Adam und Eva mußten sich aus der Einheit des Paradieses absondern, indem sie die Frucht dieses Baumes aßen. Der Gewinn der Fähigkeit zur Erkenntnis brachte ihnen wohl den Verlust der Einheit und damit allen ihren Nachkommen, die ja nun in die Vielheit hineingeboren wurden. Jedoch aus dieser Vielheit können sie, also wir bis heute, nun Erkenntnis gewinnen, können lernen. Lernen wiederum bedeutet, Erkenntnisse
in sich aufzunehmen, so daß diese nicht mehr die Daten außen sondern mein Wissen innen sind, was letztlich auf einem langen Weg uns zurückführt in die Einheit.

Die Erschaffung von Adam und Eva brachte etwas Neues in die Welt, das Fremde. Meine Existenz ist abhängig von der Existenz des Anderen, und das andere ist immer das Fremde. Das gilt für den Mann, für die Frau, es gilt für alle Menschen.

Bekanntlich hat aber der Mann den Namen des geschlechtslosen Menschenwesens, Adam, für sich reklamiert. Hat sich selbst Adam genannt und somit behauptet, nach wie vor für die Ganzheit, das Eine, zu stehen. Und damit gleichzeitig die Frauen, wie alle anderen Anderen, zu den ihm Fremden erklärt. Hat also das Fremdsein nicht als eine Grundtatsache des Menschseins gesehen, sondern als eine Abweichung von sich selbst.

Fremd zu sein, das ist seither etwas, das sich auf den Mann und die von ihm gesetzte Norm bezieht – und nicht auf Gott. Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat darin den eigentlichen Sündenfall gesehen: Nicht im Essen vom Baum der Erkenntnis, sondern darin, dass sich der Mann den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt hat – und dass die Frauen das zugelassen haben.
[2]

Bauhütten-Überlieferung kennt die Ursünde: als die Engel aus Asgard ihr Lichtgewand ablegten und körperlich menschliche Gestalt annahmen, um ihren eigenen Geschöpfen, den Erdmenschen, näher zu sein und sich schließlich in die Töchter ihrer eigenen Geschöpfe, die Erdmenschen, verliebten.

Alle Konzepte von Sünde, Schuld und Scham, die ich in meinem Alltag vorfinde, sind Konstrukte aus unserer langen Erfahrung mit Herrschaft und Unterdrückung. Für den Herrschenden ist es schlicht wirtschaftlicher, wenn er die Beherrschten nicht dauernd selber kontrollieren muß, sondern wenn sie schon selbst die Schere im Kopf haben, die die unpassenden Gedanken abschneidet, zumindest es ihnen sehr unangenehm macht, so zu denken.

Schuld- und Schamgefühle sind wohl so etwas wie die Servobremsen einer Gesellschaft, damit ihre Regeln von Virtualitäten und Wahnheiten eingehalten werden. Jedes Schuld- oder Schamgefühl ist die Erinnerung an eine strafende Hand, die zuschlug, als ich einst in aller Unschuld und Neugier etwas Ungewöhnliches getan hatte. "Scham", sagte Alfred Adler, "ist nichts als die klammheimliche Freude dennoch getan zu haben, was ich wirklich wollte". Es könnte sein, das zum Überleben in einer Gesellschaft ohne Schuld und Scham eine große Gelassenheit und Achtung vonnöten ist, das Leben sich leben zu lassen.

Vielleicht könnte "das Leben sich leben zu lassen, in Achtung und Gelassenheit" eine Form dessen sein, was in den Bücher von der Genesis bis zur Offenbarung des Johannes als die Gnade des Herrn umschrieben wird.








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