Selbsterkenntnis und Eigensinn


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II Gesellschaftlicher Bezug

13 Anhang > 13.1 FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Heft 4 - 09/1982


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II Gesellschaftlicher Bezug

4. Friedenspolitik 21
5. Friedensbeziehung statt Friedenserziehung 27
6. Wirkungen 30
7. Kinderrechtsbewegung
(mit Deutschem Kindermanifest) 32
8. Schule 41
9. Unterscheidungen 47



4. Friedenspolitik


4. I Plattformder 4. Münsteraner Friedenswoche vom Mai 1982
(erarbeitet vom FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Förderkreis e.V. und verschiedenen münsterschen Gruppen. Entwurf: Doris Lange u.a.)

F R I E D E N !
Durch Wen und Für Wen?

Wir leben in einem Land, in dem zur Zeit kein Krieg geführt wird. Doch leben wir deshalb im Frieden? Überall schwelen Konflikte, überall herrscht Angst vor dem nächsten Krieg - einem Atomkrieg! Regierungen müssen wachgerüttelt werden, dem Wettrüsten ein Ende zu bereiten und sich daran zu erinnern, daß die Generationen dieses Jahrhunderts nicht für den Atomtod geboren wurden. Doch sind nur die Politiker und Militärs die EINZIG MÄCHTIGEN Adressaten solcher Appelle? Was können wir NOCH TUN für den Frieden, außer gegen Krieg auf die Straße zu gehen?

Die Abwesenheit von Krieg ist nicht Frieden, sondern bestenfalls Ruhe! Alle beteiligten Staaten scheinen, zumindest was Westeuropa betrifft, bemüht zu sein, diese Ruhe zu erhalten. Für sie ist es eine Frage der Macht, so daß sie an Kräftegleichgewichte glauben. Auf die Idee, ihre Konflikte untereinander unter gegenseitiger Achtung auszutragen, kamen sie nicht! Wie sollten sie auch? Niemand hat es sie gelehrt.

Jeder kennt aus seinem Alltag Situationen, wo er seinen Unmut über einen anderen unterdrückt, weil dieser ihm mächtiger erscheint. Einen Konflikt mit einem scheinbar mächtigeren Menschen achtungsvoll auszutragen, mußten wir bereits als Kinder verlernen. Gleichzeitig verlernten wir den offenen und achtungsvollen Umgang mit scheinbar schwächeren Menschen! Macht und Unterordnung sind uns von klein auf begegnet.

Als jungem Menschen steht uns die Klasse der Erwachsenen gegenüber einerseits mit so gut gemeinten Institutionen zu unserer Erziehung wie Schule, Kirchen, Lehrherren und der Bundeswehr, die uns vermitteln sollen, was wir zu lernen haben; andererseits aber auch mit Institutionen wie Fürsorgestellen, Erziehungsheimen und Jugendgefängnissen, die jede Weigerung, sich unterzuordnen, brechen sollen.

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Die Unterordnung des erwachsenen Menschen setzt sich kunstvoll fort in Arbeitsverhältnissen und Bürokratie. Für den, der sich weigert, stehen Psychiatrien und Gefängzur Verfügung. Die Menschen, die Staaten lenken, setzen mit ihrer internationalen Machtpolitik diese alltägliche Unterdrückung folgerichtig fort. Wer sich dem Mächtigeren nicht "freiwillig" unterordnet, dem wird der Krieg erklärt.

Es ist für jeden Menschen heute lebenswichtig, dieses Drohen mit Macht und Gegenmacht zu beenden! Unseren Beitrag können wir nicht nur dadurch leisten, daß wir auf der Straße öffentlich gegen Krieg protestieren. Der Weg zum Frieden, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg, beginnt Alltag eines jeden von UNS. Wenn jeder einzelne von uns lernt, Konflikte offen und gewaltfrei unter Achtung des anderen auszutragen, setzt er ein Zeichen dafür, daß Frieden die Abwesenheit von Unterdrückung und Gewalt ist. Dazu ist JEDER MENSCH in seinen Beziehungen stark genug! Zu einem solchen "FRIEDEN VON UNTEN" kann jeder beitragen! Dies ist grundlegende Friedensarbeit, die Basis überhaupt für Frieden! Mit dieser sanften Revolution kann jeder jetzt beginnen!

Dieser Appell richtet sich an alle Menschen,

  • die den Frieden für sich suchen
  • die jetzt und hier anfangen möchten, aktiv für den Frieden einzutreten
  • die bis jetzt gedacht haben, daß sie gegen die "große Politik" nichts ausrichten könnten.


F R I E D E N !
Durch Mich und Dich! Für Dich und Mich!




4. II FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist Friedenspolitik

Junge Menschen, je jünger desto klarer, nehmen die faktische Realität für sich selbst. Ich für mich. Ohne zu trennen, ohne den Dualismus durch Grenzen und Wertungen, ohne Innen/Außen, Ich/Du, Gut/Böse, Schön/Häßlich, Erlaubt/Verboten, Rechtmäßig/Ungesetzlich. Menschen werden geboren mit der Erfahrung: Ich bin Einzig, Vollkommen, Zufrieden. Ich bin der vollkommene, zufriedene Mittelpunkt dieses wunderbaren Universums. Ich bin mit Euch Menschheit. Ich liebe und bin geliebt. Dieses Wissen und diese Erfahrung sind in unseren Genen eingeschrieben. Aus allen Kulturkreisen bis aus unvordenklichen Zeiten rufen uns das die Mythen, die Religionen und Philosophien immer wieder in die Erinnerung. Leben ist Liebe.

Und da ist die andere Erfahrung. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die von Not und Angst. Früher die Not und Angst durch Naturgewalten und die ihnen zugeschriebene Herrschaft, später und bis heute die durch Menschen und die ihnen zugeschriebene Herrschaft. Jeder Mensch entwickelt neue Überlebenstechniken in unübersehbarer Vielfalt, persönliche und soziale Muster, die

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in ihrer Starrheit über Generationen weitergegeben werden. Auch davon künden uns Mythen, Religionen, Philosophien und Ideologien: Du bist so nicht in Ordnung. Du mußt den richtigen Glauben haben, die richtigen Werke tun, nur dann gehörst du zu uns. Das Leben ist Krieg.

Wir haben ja schon in unserer Kindheit wieder und wieder erlebt, daß es beim Streit zwei Parteien gibt, die beide gewinnen wollen und die beide sich als die Besseren, Stärkeren, Gerechteren, Bedürftigeren gesehen wissen wollen. Es ging immer darum, wer gewinnt. Und es ging immer darum, nicht zu verlieren. Und so streiten wir als Erwachsene so, als wenn es um die Existenz ginge. Das ist ganz anders als der Streit zwischen sehr jungen Menschen. Diese existenzielle Dramatik, die erzogene Menschen ins Spiel bringen, läßt sie zu viel gefährlicheren Kampfmitteln greifen. Mittel, die den einen nicht nur gewinnen lassen, sondern die den Verlierer auch tot zurücklassen können. Und inzwischen sogar solche, die auch den "Gewinner" sterben lassen, die gar kein Leben auf dem Planeten Erde lassen.

Was hat die Lebensart FREUNDSCHAFT MIT KINDERN mit Friedenspolitik zu tun? FREUNDSCHAFT MIT KIND DERN ist eine neue Art miteinander zu leben. "Neu" insofern, als sie die jahrtausendealte pädagogische Kultur verläßt. Neu insofern, als sie wieder die Gleichwertigkeit aller Menschen - auch in Bezug auf Kinder - gelten läßt und mithin eigentlich ur-uralt ist. Neu auch insofern und mithin ururalt, als diese Lebensart auch in Bezug auf den Streitfall einen anderen Weg geht als dies die pädagogische Kultur kann.

Wer FREUNDSCHAFT MIT KINDERN praktiziert, der hat tief in sich aufgedeckt das Fühlen für seine Menschenwürde und für die des Mitmenschen. Dieses Fühlen wird zum Wollen, das so stark ist, daß so ein Mensch nie mehr besser als der andere - und sei dieser auch noch so jung oder "anders" - in dessen eigenen Angelegenheiten Bescheid zu wissen sich anmaßt. Der andere wird IMMER als der Mensch erlebt, der seine Dinge sinnvoll tut. So, wie ein jeder für sich selbst sicher ist, die eigenen Dinge zum eigenen Besten sinnvoll zu tun.

Es ist klar, daß es bei der Umwelt nicht nur Freude hervorruft, wenn einer tut, was ihm selbst als sinnvoll erscheint. Und das kommt immer wieder vor. Doch dies schmälert nicht "Für mich ist es sinnvoll - auch wenn es dich verletzt".

Das Bewußtsein für die Würde des anderen schränkt sich nicht ein, auch im Streite nicht. Weder, wenn wir den anderen als Gegner erleben und überhaupt nicht einverstanden sind mit dem, was er tut, sagt oder von uns will, noch, wenn wir ihn mit Gewalt hindern, weil wir uns unserer Haut wehren oder unser eigenes Interesse gewahrt wissen wollen. Auch in den schwierigsten wie den banalsten Konfliktfällen lebt der Kontakt von meiner Würde zu deiner Würde. Der Konfliktgegner ist in Wirklichkeit der gleichberechtigte und gleichwertvolle Konfliktpartner. "Das, was er jetzt tut, das, was er jetzt von mir will und was ich nicht hinnehmen will, dieses sein Tun ist für ihn ja sinnvoll! Durch das, was er an Gefährlichem und für mich Schmerzvollem tut, schwindet nicht mein Bewußtsein und meine Achtung für meine und seine Menschenwürde!" So etwa sieht es in Menschen aus, die FREUNDSCHAFT MIT KINDERN leben und das sogar in Streitfällen schon können.

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Diese Art, Konflikte zu leben, hat eine revolutionierende Philosophie zur Grundlage. Es ist das uralte Menschheitswissen davon, mit Konflikten so umzugehen, daß Menschenwürde und Leben nicht gefährdet sind. Mag früher "Mensch" nur Mitglied der eigenen Horde, des eigenen Stammes oder Volkes gewesen sein. Stammesnamen haben oft dieselbe Wortwurzel wie Mensch (z.B. deutsch/tiush/tuath = wir Menschen/Nation). Heute wissen wir uns auf dem kleinen Raumschiff Terra als eine Menschheit von Gefahren bedroht durch ökologische Zerstörung und nukleare Waffen. Es gilt, Denkmuster und vielleicht früher sinnvolle Überlebenstechniken aus der Erstarrung zu lösen. Es geht nicht mehr: "Im Streit gibt es Gewinnen und Verlieren". Heute, unter dem Druck der Verhältnisse erkennen wir es wieder: Die Idee des Siegens und Verlierens ist Herrschaftsmuster, das aus Angst vor Unterdrückung entsteht. Es ändert aber nichts an der Unterdrückung und schon gar nichts an der Angst.

Wer im Streit an Sieg oder Niederlage denkt und sich entsprechend verhält, der lebt in der nun abgelebten pädagogischen Kultur. Die ist zwar alt und mag ihren Sinn für das Überleben des Menschen gehabt haben. Wahrscheinlich aber ist sie kaum älter als zehntausend Jahre und damit gemessen am Alter der Menschheit nur ein Blinzeln, gerade ausreichend, die Möglichkeit der Selbstzerstörung ins Auge zu fassen. Bevor wir uns im nuklearen "Ich will gewinnen" vernichten, können wir umkehren.

Wenn es nicht um Siegen und Verlieren geht im Konflikt - warum geht es denn dann? Das ist ganz einfach, einfach für den, der sich selbst uneingeschränkt achtet und deshalb die Identität, das Selbstbild der anderen nie mehr antasten muß, seien sie auch noch so jung oder "anderen". Es geht für einen FREUNDSCHAFT MIT KINDERN -Menschen darum, das eigene Interesse entgegenzuhalten, OHNE DAS INTERESSE DES ANDEREN ALS GERINGER WERTVOLL einzustufen. "Wir haben zwei gleich wertvolle aber entgegengesetzte Interessen - Was können wir tun?"

Was können wir tun? FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gibt wie stets keine konkreten Antworten auf Fragen aus konkreten Lebenssituationen. Aber FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gibt den Hintergrund, den anderen Blickwinkel, andere Wege, auf denen sich die konkreten Fragen in einer neuen und friedenstiftenden Weise beantworten lassen. Diese anderen Blickwinkel sind da in den Menschen, die sich selbst mögen. Ich muß nichts nicht mich zu einem besseren Menschen verändern, nicht an mir arbeiten. Ich bin und ich bin sinnvoll. Und was ich fühle, will und tue, ist sinnvoll aus sich. Das gilt auch für dich. Es gilt für jeden. (Wenn wir hier diesen Artikel schreiben, tun wir das nicht, weil wir andere Menschen auf den rechten Weg locken wollten, sondern weil wir für uns unsere Lust und unseren Sinn darin finden ohne Anspruch an uns oder andere).

Wenn mein Gegenüber als Konfliktpartner von gleicher Würde wie ich selbst erlebt wird, dann geht es nicht mehr um Gewinnen oder Verlieren. Dann geht es darum, daß wir beide unsere Achtung voreinander und Liebe füreinander viel höher schätzen als daß sich jetzt einer über den anderen emporheben müßte. Nächstenliebe - die soziale Potenz des Menschen, die Kraft, die die menschliche Art entwickelt hat, den Nächsten zu lieben wie sich selbst - Nächstenliebe ist in uns wieder lebendig, auch wenn es Konflikte gibt.

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Bleiben dabei nicht die eigenen Interessen auf der Strecke, wenn man stets mit an den anderen denkt? FREUNDSCHAFT MIT KINDERN nimmt die Voraussetzung für Nächstenliebe ganz ernst: die von Selbstsucht freie Selbstliebe. Weil ich selbst der sein kann, der ich sein will, kann ich dies auch dem anderen zubilligen. "Ich bin gut und ohne Schuld und Mittelpunkt des Universums so wie du dies auch bist". Und von daher sehen wir unsere Konflikte an. Der Konflikt ist somit eine spezielle Form des Miteinanders. Nie ist er jedoch eine Art des Gegeneinanders, wie dies zu empfinden uns die Erfahrung unserer Eltern lehrte, wie wir das den pädagogischen Erwachsenen abguckten.

Sie hielten uns entgegen "Wir wissen es besser als du. Wir sind besser weil erfahrener als du". Und so schleusten sie uns in die Denkbahnen des Oben-Unten. Die pädagogischen Erwachsenen, die sicher guten Willens sind und ebenfalls zu jeder Zeit unter ihren Umständen für sich das Beste tun, leben in der herrschaftsbestimmten pädagogischen Kultur. Wenn sie sagten, wir wissen es besser, dann bedeutet das: "Du bist schlechter. Wir sind schon oben, du bist noch unten". Und das enthält die allgemeine Vorstellung, die Idee des Oben-Unten sei eine richtige Idee, sie gelte für den Umgang von Menschen als eine Art von Naturrecht.

Die pädagogischen Erwachsenen unserer Kindheit schleusten uns in die Denkbahnen des Gewinnens (das ihnen zukam) und des Verlierens (das uns zukam). Wir lernten rasch, daß es sehr not-wendig ist, selbst auf der Gewinnerseite zu stehen. Einmal eingetaucht in das Oben-Unten-Denkmuster, einmal angesteckt von der Kränkung und Krankheit "Ich weiß es besser als du - ich bin besser als du", gab es kaum ein zurück. Wir glaubten an die Richtigkeit dieser Grundposition und richteten unser Leben danach aus. Erst auf der Verliererseite, um später um so mehr zu den Gewinnern zu gehören.

Heute erst durchschauen wir das Spiel, durch das wir Kränkung für das Normale hielten. Kinderrechtsbewegung, Antipädagogik und Selbstbegegnung sind für uns Gegenmittel und wirken befreiend und heilend. Wir erkennen heute, daß wir durch die pädagogische Krankheit in den Sog geraten waren des "Ich bin gar nicht in Ordnung" "Niemand ist EINFACH SO o.k.", "Man muß gewinnen, sonst verliert man". Wir erkennen heute, daß auch nach uns der Wahnsinn "Krieg ist unvermeidbar - ja, sogar der Vater aller Dinge" gegriffen hatte. So lehrten es die Patriarchen.

Heute wissen wir: Jeder Mensch wird mit der Fähigkeit geboren, Konflikte als ein Miteinander-Problem OHNE Oben-Unten, ohne Siegen-Verlieren zu erleben. Dies schenkt uns die Natur zur Geburt! Doch von klein auf wird uns diese Art des Konflikterlebens verwehrt und ausgetrieben. Wir sind umgeben von Menschen, die in ihrer Kindheit nur gelernt hatten, daß ein Konflikt Gegeneinander sei. Wie sollten wir da in unserer Kindheit unsere fantastische soziale Fähigkeit der achtungsvollen Konfliktlösung entwickeln und ausbauen?

Wer heute FREUNDSCHAFT MIT KINDERN praktiziert, erkundet diese in jedem von uns lebende und nur verschüttete Möglichkeit zum friedlichen Konfliktverhalten. Dies ist nun wirklich ein schwieriges Umlernen, ein ständiger Widerspruch! Doch wir haben wichtige und potente Helfer: die jüngsten Menschen - die, die bisher nur selten oder im Glücksfall noch nie Oben-Unten erfahren haben. Wir können uns von ihnen den Weg weisen lassen zum Frieden, nachdem wir damit begonnen haben, vom Oben-Unten durch die Medizin des "Ich bin o.k." freizukommen.

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Heute aktuell ist die FRIEDENSSEWEGUNG. Doch sie verfehlt den Frieden, wenn sie festhält an der Ideologie des Gegeneinanders. Friedenskämpfer sein wollen, ein besserer Krieger werden, um dem Gegner die tödlichen Waffen zu entwinden, "Krieg dem Krieg" - dies ist bei allem guten Willen und den guten Zielen mit Sicherheit der alte tödliche Weg. Denn er bleibt auf den Schienen der pädagogischen Tradition, die Grenzen und Wertungen vorspiegelt, indem sie auf der einen Seite Recht und auf der anderen Seite Unrecht sieht.

Der neue Weg läßt uns statt Kriegern F R I E D E R sein. Nicht Todesverachtende, sondern Lebensliebende, liebende Lebende. Nur die Potenz des Friedens wird den Krieg ablösen und als Erinnerung an eine Zeit finsterer Menschheitsgeschichte zurücklassen. Es gilt "Fried dem Krieg".

Dies beginnt bei einem jeden von uns. Und dies beginnt beim Umgang mit uns selbst (indem wir uns von Grund auf mögen) und beim Umgang mit anderen (indem wir sie nicht verändern müssen). Und dies beginnt vor allem beim Umgang mit Kindern, denen wir ihren eigenen Weg lassen, die wir nicht mit erzieherischen Ansprüchen sich selbst entfremden, die wir unterstützen statt erziehen.

Der Schwimmer, der sich lustvoll
durch die Wellen und Strudel des
Flusses bewegt, erlebt das völlig
anders als ein Nichtschwimmer,
der am Ufer sitzt und in einem
Lehrbuch des Wassersports blättert.

Wir aus dem Wasser rufen euch am
Ufer zu: "Fürchtet euch nicht!
Kommt, es ist so einfach
und so schön!"

Und wir mögen euch eine Zeitlang
unterstützen, den Kopf über Wasser
zu halten, bis Ihr selbst merkt,
daß ihr ja allein schwimmen könnt.

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5. Friedensbeziehung statt Friedenserziehung


Ich weiß, was für dich gut ist besser als du selbst: Dies ist die erzieherische Grundhaltung, wie sie von der neuen Beziehung, von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN abgelehnt wird. Ich weiß, was für dich gut ist - besser als du selbst: Diese Grundhaltung mischt sich unbefugt in die Angelegenheiten eines anderen Menschen ein, sie ist ein psychischer Angriff. Ich weiß, was für dich gut ist - besser als du selbst: Die erzieherische Grundhaltung ist somit bereits Krieg, Versuch, den anderen zu overpowern, ihn nach dem eigenen Bild zu formen. Wie soll aus so einer Grundeinstellung jemals Frieden entstehen können?

Ich lehre dich, wie sich Frieden machen und erhalten läßt - denn ich weiß besser als du, was für dich gut ist. Du weißt es (noch) nicht. Ich sage dir, wie es geht, und du sollst es lernen. Jede pädagogisch ausgerichtete Bemühung, anderen Frieden zu vermitteln, scheitert durch die Grundhaltung, von der sie getragen wird.

Ganz deutlich wird dies, wenn wir uns vor Augen halten, wie erzieherisch eingestellte Erwachsene in einen Streit von Kindern eingreifen. Was kommt dabei auf der Ebene der psychischen Realität über, der Ebene, die viel wirksamer für das Gewinnen des wirklichen und dauerhaften Friedens ist als der momentane physikalisch beobachtbare Waffenstillstand? Die Kinder erleben, daß der "friedenstiftende" Erwachsene mit allen Mitteln einer Supermacht den Krieg der Kleinen "befriedet". "Ihr hört sofort auf" oder "Wir sollten doch einmal ein Gespräch über euren Streit führen" oder "Kinder streiten nicht" usw. Der Hammer des "Ich bin besser als ihr, ich weiß besser als ihr, was für euch gut ist" trifft voll.

... Und wenn ICH mal so groß bin, dann kann ICH bestimmen ...

Frieden kann nur von denen vermittelt werden, die auf der psychischen Realitätsebene tatsächlich frei sind von Angriffszwängen und Formungswahn, von Besserwissereien und Oberschiedsrichtergehabe - von den pädagogischen Krankheiten. Die den anderen in seiner Art und Identität den sein lassen können, der er ist. Die auch die streitende Seite des anderen annehmen können, ohne sie mit dem "Du solltest nicht streiten" innerlich abzulehnen. Für die gilt: "Wie du bist, ist es sinnvoll für dich und gut. Wenn du streitest, ist dies für dich gerade sinnvoll - ich achte dich".

Soweit die wichtigste Voraussetzung für die Beziehung, die den Frieden wachsen läßt. Der andere erfährt dabei, daß ihm nicht schon wieder ein neuer Krieger gegenübersteht, sondern ein Wesen ganz anderer Art: ein F R I E D E R , ein Mensch, der auch den Streit annehmen kann. Es gibt Vorbilder, z.B. Jesus, der den Streit kommentiert: Wenn du genug Energie hast, laß dich auch zum zweiten Mal schlagen, dein Gegenüber braucht diese verzweifelte Aktion jetzt, "... so halte ihm die anders Wange hin ... "

Doch dies ist nicht alles, was den Frieden schaffen hilft. Hinzu kommt, daß wir uns selbst mit unseren Gefühlen, unserer Angst, unserem Verstricktsein in den Krach der anderen, mit unserer Geduld, unserer Zeit, unserer Energie einbringen. Daß wir nicht abdrehen: ach, der Streit ist doch

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deren Sache. Daß wir unser Einbezogensein in den Streit der anderen ebenso akzeptieren können wie ihren Sinn, jetzt zu streiten. Dies wirkt sich wiederum auf der psychischen Realitätsebene aus: Euer Streit geht mich an. Er berührt mich. Nicht, daß ich euch zum Aufhören bringen müßte, nein, aber er wühlt mich auf und er drängt mich, euch zu zeigen, daß ich euch mag, daß ihr schön seid, daß das, was ihr tut, sicher sinnvoll für euch ist, daß ich beide von euch annehmen kann.

Ja aber reicht das denn aus, das atomare Chaos zu verhindern? Hätte sich damit Afghanistan, Nicaragua, der Falkland-Konflikt, der Libanonkrieg verhindern lassen? Brauchen wir nicht Erziehung zum Frieden? Unsere Antwort ist: Jeder Mensch wird als Souverän geboren, dem niemand zu Recht - ohne ihn zum Krieg anzustiften, ohne ihn mit dem Kriegsbazillus anzustecken - sagen kann, was für ihn gut ist. Wenn wir uns auf diese unsere eigene Kraft wieder besinnen und uns dabei von den heute jungen Menschen helfen lassen, können wir den Frieden wieder gewinnen. Grundsätzlich und langfristig. Nicht mehr in unserer Generation, und wohl auch nicht in der Generation unserer Kinder und Enkel. Aber es gibt auch das Jahr 2100 und das Jahr 2200 und das Jahr 2300.

Wenn man mit einem Ohr (mehr ist nicht erträglich) den Politikern zuhört, sei Frieden nichts anderes als die Abwesenheit von Krieg. Als Krieg wird dabei lediglich eine bewaffnete Auseinandersetzung angesehen. Vertreter dieser Ansicht wenden gegen den grundsätzlichen Friedensbegriff ein, daß dieser vielleicht wünschenswert, bestimmt aber utopisch sei, da es Menschen, die diesen Frieden leben könnten, nicht gäbe. Sie tun ihn als naiven Idealismus ab. Aus ihrer Sicht ist auch nichts anderes denkbar, da ihr Wissen um sich selber durch ihre Erfahrung als Erzogene mit einem Charakterpanzer zugewachsen ist. Sie wollen von der gefahrvollen Eigennützigkeit der Menschen ausgehen. Doch sie irren. Aus der Sicht von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Menschen ist Frieden ein Zustand, in dem Menschen achtungsvoll und ohne Angst und mit der Möglichkeit zu unbeschränkter liebevoller Zuwendung zu jedem anderen Wesen miteinander leben. Konflikte sind da nicht Zusammenstöße von Menschen in deren Existenz, sondern Widersprüche in den Interessen, die sich als ein Miteinander-Problem gewaltlos lösen lassen.

Die Angst, die der Pädagogik zugrunde liegt, besteht darin, daß neugeborene Menschen und schließlich alle Menschen nicht in der Lage wären, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Da die Erwachsenen sich nur in ihrem derzeitigen Erfahrungszustand wahrnehmen, gehen sie davon aus, daß schon Säuglinge auf Kosten anderer eigennützig seien und daher der Sozialisation bedürften. Erziehung ist danach das mehr oder weniger freundlich ausgestaltete Pressen eines Menschen in die Schemata der herrschenden Haltung von Erwachsenen. Gerade diese aber ist bestimmt von Not und Kummer von Kind auf durch Erziehung, die die Menschen getrennt hat von ihrer eingeborenen Menschenhaftigkeit, nämlich dem Wissen um ihre Menschenwürde, ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung, von ihrer unausmeßlichen Intelligenz und Liebe, eben dem Bewußtsein um die Tatsache, mit dem biblischen Bild zu sprechen, "Glieder eines Leibes" zu sein, Menschheit.

Wir haben inzwischen auf den verschiedensten Bereichen und auf verschiedensten Wegen genug nachprüfbare Erfahrungen gesammelt. Menschen werden als liebevolle, soziale und intelligente Wesen geboren. Aus dieser Wesensart heraus ist es ihnen tatsächlich nicht möglich, die Irrationalität

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der Erwachsenenwelt zu verstehen. Als Säuglinge schon stehen sie vor der Wahl, zu sterben oder sich entsprechend verrückte Überlebenstechniken anzueignen. Während uns beigebracht wird, was da vor sich zu gehen habe, verkrüppeln wir unsere natürlichen Fähigkeiten und üben, sie zu vergessen.

Die Krieger haben es soweit gebracht, daß ihre hochspezialisierten Waffensysteme jeden Punkt unserer gemeinsamen Grundlage, der Erde, bedrohen. Angst verhindert klares Denken. Deshalb tun manche Menschen so, als sehen sie die Drohungen gar nicht: "Das geht mich nichts an, sondern nur die Politikern". Andere lassen sich versinken in Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht: "Da kann unsereins nichts machen, die da oben bestimmen einfach über uns". Oder, schon etwas weniger in diesen alten Kinder-Ohnmachtsgefühlen: "Wir können nur durch massenhafte Protestdemonstrationen uns wehren". Einige projizieren die Ohnmacht ganz nach draußen und wollen denen, über die sie die Erziehungsgewalt (!) haben, über die Kriegspanzer noch Friedenspanzer stülpen, im Klartext: Weitere Verkrüppelung zwecks "Entkrüppelung" zum vermeintlich Besten. Erziehung bewirkt stets Verzerrung!

Ein radikales Umdenken ist ihnen noch zu schwer. Erziehung verzerrt ja nicht nur den Körper zu Haltungsschäden, sondern auch den Blickwinkel und das Denken. Von Geburt an von Kriegern zum "Kampf ums Dasein" erzogen, ist es wohl außerordentlich schmerzhaft, unsere Fähigkeit, Frieden zu leben, zu erinnern. Doch wir haben eine große Hilfe und eine ständig sprudelnde Quelle, um neu zu erinnern: Jeder Mensch, der neu geboren wird. Alle bringen ja diese Fähigkeit mit zur Welt. Mit ihnen zusammen können wir uns neu erfahren, können wir wieder die Realisten werden, die das leben, was ein jeder von Geburt an kann: Frieder zu sein und nicht getarnte Krieger. "Erziehung zum Frieden" jedoch ist genau das Gegenteil dessen, was langfristig tragfähigen Frieden sichert.

Auch kurz- und mittelfristig ist für uns kein anderer Weg denkbar. Denn einen Kampf mit den Mitteln der momentanen Machthaber gegen die momentanen Machthaber können wir weder tatsächlich gewinnen noch würden wir unser Ziel, Frieden zu leben, damit erreichen. Bereits der Weg zum Frieden muß Frieden sein, kein Krieg. Machtvolle Demonstrationen sind aus dieser Sicht ein Zeichen.

Friedensbeziehung: Die Lebensart FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gibt dazu Information und Unterstützung. So wie wir in der Gemeinschaft mit Menschen, denen wir vertrauten, gelernt haben, diese zu unserer Stellvertretern zu machen - und uns so von uns selbst entfremdeten und zum Kriegsobjekt machten -, können wir in Gemeinschaft mit Menschen, die uns vertrauen, auch umlernen und uns wieder zu Friedenssubjekten entfalten. Die Autoritäten wurden autorisiert durch uns: WIR sind ihre Autoren.

Niemand wird zur Seite geschafft - auch nicht die, die mich erziehen wollen oder von denen ich mich unterdrücken ließ -, wenn ich begreife: Ich bin der Mittelpunkt des Universums. Dieses nämlich entspricht uraltem Menschheitswissen und ist mathematische Logik: im unendlichen Raum ist jeder Punkt der Mittelpunkt. Niemand wird für besser oder stärker erklärt, wenn ich begreife: Ich habe alle Kraft und Macht für mein Leben bei mir. Dies revolutioniert das Oben-Unten-Gefüge von Grund aus und läßt uns selbstverantwortlich und gleichberechtigt miteinander leben.

Aber sicher ist auch, daß die überkommenen Formen von Regierung, von Funktionieren, hinfällig werden, daß neue Übereinkommen von Recht und neue Organisationsformen sich entwickeln werden.

Es geht um die Politik unserer unmittelbaren Beziehungen. Frieden fängt bei jedem Einzelnen an.

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6. Wirkungen

(Kapitelvorlage: Ursula Schulte)


FREUNDSCHAFT MIT KINDERN Ist nicht nur eine Privatsache. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN beginnt zwar im privaten Bereich jedes einzelnen, genauer gesagt in den zwischenmenschlichen Beziehungen, z.B. in der Familie, doch hat FREUNDSCHAFT MIT KINDERN darüber hinaus gesellschaftlich relevante Auswirkungen.

Was geschieht mit den hindern, die nicht mehr erzogen, sondern von ihren Eltern und anderen Erwachsenen unterstützt werden? Was sind das für Kinder, die mit Erwachsenen in einer freundschaftlichen Beziehung aufwachsen? Kinder, die mit Erwachsenen auf der Ebene von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN zusammenleben, sind Menschen, die selbstbestimmt leben und so handeln, wie sie es mögen. Es sind Menschen, die selbst die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Sie sind leistungsfähig und kreativ. Diese Kinder sind Menschen, die mit ihren Problemen umgehen können, die fähig sind, sich die Unterstützung zu holen, die sie brauchen, und die selbst viel Kraft und Energie besitzen, um andere zu unterstützen,

Was bedeutet das? Was hat das für Konsequenzen?

  • Menschen, die in ihrer Kindheit nicht unterdrückt wurden, brauchen als Erwachsene auch nicht andere zu unterdrücken.


  • Menschen, die als junge Menschen mit ihren Eltern in einer intensiven freundschaftlichen Beziehung gelebt haben, können dies fortsetzen, denn sie sehen andere Menschen als Freunde - und nicht als Feinde, die ihnen etwas antun wollen.


  • Menschen, die als Kinder ihr Leben leben durften, brauchen sich nicht in die Konsum- und Drogenwelt zu stürzen.


  • Menschen, die als Kinder als vollwertige Menschen anerkannt wurden, mögen sich selbst und brauchen sich und anderen nicht durch irgendwelche Delikte ihre Fähigkeiten beweisen.


  • Menschen, die in ihrer Kindheit sich ihrer Eltern als ihre Unterstützer sicher waren, konnten schon damals dem Druck anderer Menschen und Institutionen ohne Identitätsverlust aushalten und brauchten erst recht keine Angst vor ihren Eltern zu haben.


  • Menschen, deren Lernfähigkeit erhalten blieb und unterstützt wurde, haben weiterhin Freude am Lernen. Sie werden viele verschiedene Fähigkeiten besitzen und in vielen Bereichen tätig sein können.


  • Menschen, die es gelernt haben, mit anderen in freundschaftlichen Beziehungen zusammenzuleben, wissen um die Wichtigkeit und Effektivität solcher Beziehungen und werden in ihrem weiteren Leben personale Beziehungen, Begegnungen, in den Vordergrund stellen.


  • Personale Beziehungen, Begegnungen und Kontakte wirken der Enthumanisierung der Gesellschaft entgegen. Die Menschen sind nicht länger isoliert und haben außerdem die Möglichkeit, intensiver zu leben.


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  • Menschen, die außerhalb des Schemas Oben-Unten groß wurden, erleben Konflikte als eine selbstverständliche Form dem Miteinanders. Sie können Interessengegensätze regeln, ohne daß Mißachtung aufkommt und ohne daß es dabei tödliche Folgen gibt.


  • Menschen, die in ungebrochenem Kontakt zu ihrer Selbstliebe groß werden, können die zur Selbstliebe gehörende Nächstenliebe in zeitgemäßes und effektives soziales Engagement umsetzen.


  • Menschen, die sich selbst ungestört als Zentrum allen Geschehens erleben können, werden sich mit großer Anteilnahme ihrer Umwelt annehmen und ihren Frieden bahnbrechend in die Welt tragen.


Diese neuen Menschen sind in der Lage, eigenverantwortlich zu handeln und zu ihren Mitmenschen friedliche und freundschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Als Bürger unserer Demokratie nehmen sie ihre Einflußmöglichkeiten wahr. Sie sagen ihre Meinung, vertreten ihre Ansichten und werden versuchen, an Entscheidungen teilzuhaben. Sie sind an den gesellschaftlichen Problemen interessiert und engagieren sich für ihre Lösung, da sie spüren, daß sie selbst es sind, die Macht zur Veränderung besitzen.

Diese neuen Menschen werden die Gesellschaft verändern. Sie werden sich gegen adultistische (d. h. erwachsenenzentrierte) Denkweise und das daraus resultierende Unterdrückungssystem einsetzen und damit für eine humanere Gesellschaft sorgen. Sie sind die Garanten für die Zukunft und den Frieden.

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist gesellschaftlich gesehen somit ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft und konkrete Arbeit für den langfristigen und dauerhaften Frieden. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist die Friedensarbeit für jedermann und der grundsätzliche Friedensansatz überhaupt.

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist ein wirksames Mittel gegen gesellschaftliche Mißstände. Mit FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gibt es
weniger Kindesmißhandlungen
weniger Lernverweigerungen
weniger Drogenkonsum und Alkoholismus
weniger Kriminalität
weniger Selbsttötungen
weniger Gewaltanwendung in zwischenmenschlichen Beziehungen
weniger Krieg, d.h. weniger gewaltsame Lösungen bei sozialen und zwischenstaatlichen Konflikten

Die gesellschaftlichen Wirkungen von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN sind konstruktiv und hilfreich. Sie greifen in dem Maß, wie die Menschen ihre eigene Würde, Schönheit und Kraft wiederfinden. Jeder einzelne ist in Wahrheit nicht ein fremdbestimmtes Objekt gesellschaftlicher Mächte, sondern hat alle Kraft und Macht bei sich. Dies ist untrennbar mit uns von Geburt an verbunden, wenn auch unser Wissen um unseren Stellenwert im sozialen Gefüge uns vergessen gemacht wurde und wir dies vergaßen, um zu überleben in unserer Kindheit. Der Erwachsenenglaube an unsere Schwäche den wir lange und gut gelernt haben ist die Überlegenheit anderer. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN zeigt den Weg, sich seiner realen gesellschaftlichen Macht wieder bewußt zu werden und setzt die wiedergefundene Selbstliebe in verantwortetes soziales Handeln um.

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7. Kinderrechtsbewegung - (mit Deutschem Kindermanifest)


7.1. Rechtliche Perspektive und politischer Realismus

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist auch Kinderrechtsbewegung (Children's Rights Movement). Wir sagen dies deswegen, weil jeder, der sich zu FREUNDSCHAFT MIT KINDERN aufmacht, Kinder als vollwertige, selbstverantwortliche und souveräne Menschen achtet. Und die Achtung vor der Vollwertigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Souveränität junger Menschen ist die Grundlage der Kinderrechtsbewegung, und zu ihr zählen alle, die sich zu dieser Bewegung bekennen.

Wir verwirklichen in unserem täglichen Miteinander mit Kindern das, wofür die Kinderrechtler auf politischer Ebene eintreten: Die gleichberechtigte Beziehung zwischen erwachsenen und jungen Menschen und die Anerkennung der Selbstbestimmung junger Menschen. Kinderrechtler kämpfen dafür, daß jungen Menschen
zugänglich gemacht wird, was Erwachsene an Rechten und Privilegien haben. Wer FREUNDSCHAFT MIT KINDERN realisiert, tritt nicht mehr nur für die Rechte junger Mitbürger ein - er erfüllt in seinem Rahmen bereits die Forderungen der Kinderrechtsbewegung. So gesehen ist FREUNDSCHAFT MIT KINDERN bereits umgesetzte Kinderrechtsbewegung und, dadurch wieder ein Aktivposten im Kampf für die Rechte der Kinder. Neben dem offensiven und politisch aktiven Eintreten für die Rechte junger Menschen heißt Kinderrechtsbewegung auch, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten das Verwirklichen dieser Rechte hier und heute zu ermöglichen.

Es ist unser Ziel, ein Verhalten allgemein zu ächten, das nicht die Achtung vor Menschenrechten enthält - einschließlich der Selbstbestimmung junger Menschen und den daraus folgenden Rechten. Hier, in diesem Bemühen, sind wir Kinderrechtsbewegung weltweit. Wir erkennen jedoch auch, daß es ein problematischer Weg ist, die Öffentlichkeit mit den Forderungen der Kinderrechtsbewegung nur zu konfrontieren. Wir wissen um den anderen Weg, die Rechte junger Menschen zu unterstützen indem wir uns unmittelbar den anderen Erwachsenen zuwenden und das in jedem Erwachsenen lebende unterdrückte Kind in das Zentrum unserer Arbeit stellen, statt es durch Gegenunterdrückung abzudrängen.

So - im Zugehen auf die Erwachsenen - schaffen wir die Grundlage, von der aus sich dann die Rechte Junger Menschen eines Tages als politisches Bekenntnis vieler verwirklichen lassen. Hierbei sind wir uns einer langfristigen Perspektive durchaus bewußt und halten uns vor Augen, daß Frauen bereits seit Generationen um ihre Rechte kämpfen. Frauenrechtsliteratur gibt es seit etwa 200 Jahren, und die Problematik der ersten Bücher ist deckungsgleich mit der Situation der eben erwachten Kinderrechtsbewegung (erste Kinderrechtsliteratur gibt es seit ca. 1970).

Dennoch gilt es, heute zu beginnen und in dem "Kinderrechtsbewegung" genanntem Engagement die politischen und rechtlichen Positionen junger Menschen beim Namen zu nennen und sie in das Bewußtsein unserer Zeit zu tragen. Historische Wahrheiten auszusprechen, die das Weltbild der Zeitgenossen umstürzen, ist nie leicht gewesen, doch stets sinnvoll und der Mühe

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wert. Die Selbstbestimmung aller Menschen - auch unabhängig vom Alter - ist eine solche Wahrheit, und ihr entsprechend bedeutet dies in unserer juristisch orientierten Welt auch formale Rechte, Grund- und Bürgerrechte genannt. Die Rechte der jungen Menschen aber OHNE die innere Bereitschaft - die Herzen - der erwachsenen Menschen durchsetzen zu wollen, ist Utopie. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN weiß darum ist und gerade in der politischen Frage deswegen zukunftsweisend realistisch.

Wir vergessen nicht, daß FREUNDSCHAFT MIT KINDERN seine Wurzel in einer tiefen radikal-politischen Dimension hat. Es geht darum, wie wir die Politik unserer unmittelbaren Beziehungen gestalten. Es geht um die Politik unseres täglichen Miteinanders. Wenn diese Politik von Achtung vor der Würde des anderen bestimmt ist, dann werden sich - in Bezug auf unser Miteinander mit Kindern - die Forderungen der Kinderrechtsbewegung als selbstverständliche Konsequenz dieser Politik ergeben.

Wir wissen, daß das entscheidende Problem nicht die formellen Rechte sind, sondern der Geist, der sie
trägt und der ihre Verwirklichung im Alltag garantiert. Und genau hier setzt FREUNDSCHAFT MIT KINDERN an: Jeder kann sich auf den Weg machen, die neue, menschenrechtsorientierte Einstellung zu sich und jungen Menschen zu erlernen. Das Bekenntnis zu den Positionen und Aussagen der Kinderrechtsbewegung ist die eine, selbstverständliche Seite. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN hat diese rechtliche Perspektive. Die Art der Arbeit für die Ziele der Kinderrechtsbewegung ist die andere, sehr verschieden durchführbare Seite. Hier gibt es die neue Lebensart FREUNDSCHAFT MIT KINDERN als politischen Realismus.


7.2. Antipädagogik

Die Antipädagogik, die von dem Wiesbadener Publizisten Ekkehard v.Braunmühl entwickelt und im Jahr 1975 mit dem Buch "Antipädagogik" vorgestellt wurde, ist der wichtigste deutsche Beitrag zur internationalen Kinderrechtsbewegung. Die Antipädagogik ist eine Theorie, die sich generell gegen alle pädagogischen Theorien wendet. ("Antipädagogik" wird auch oft die aus dieser Theorie kommende neuartige Praxis des Miteinanders von erwachsenen und jungen Menschen genannt. Wir lassen es jedoch bei der Definition von Antipädagogik als Theorie, um Mißverständnisse zu vermeiden; die neuartige Praxis, die auf antipädagogischen Positionen aufbaut, haben wir mit einer positiven Bezeichnung versehen: FREUNDSCHAFT MIT KINDERN).

Die Antipädagogik widerlegt die Pädagogik. Insbesondere zeigt sie, daß die Pädagogik die Erkenntnisse der modernen Komunikationswissenschaft nicht berücksichtigt. So zum Beispiel die Mehrschichtigkeit der Kommunikation: Außer dem mitgeteilten Wort schwingt immer das Emotionale mit, so auch alle Wertungen, mit denen ich mich einem Menschen nähere. Wenn ich nun als Pädagoge im Innersten der Überzeugung bin, ich müsse den jungen Menschen vor mir erst noch zu einem vollwertigen Menschen erziehen - so wird genau diese innere Einstellung ankommen, nonverbal, in Gesten, Stimmlage, Gesichtsausdruck, gefühlsmäßigen Schwingungen usw.

Des weiteren hat die Antipädagogik gezeigt, daß es einen "Gegenteileffekt" gibt, wenn eine pädagogische Ambition im Spiel ist (d.h. die innere Haltung "Ich weiß, was für dich gut ist"). Der Gegenteileffekt bezeichnet die Erscheinung, daß das, was Pädagogen von anderen Menschen wollen, das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht. Pädagogen wollen ihre Zöglinge von einer

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schlechteren Position zu einer besseren Position führen (oder: erziehen, er-ziehen) . Die Annahme einer schlechteren Position, die es für den Zögling zu verlassen gelte, nagelt den Zögling jedoch genau dort fest, ja sie bringt ihn überhaupt erst dorthin. Als self- fulfilling- prophecy tritt ein, was der Pädagoge beim Zögling stillschweigend voraussetzt: Daß dieser nämlich bei einer schlechteren Position sei. Diese innere Haltung des Pädagogen treibt den Zögling dazu, tatsächlich die schlechtere Position einzunehmen - allen "sichtbaren" Versuchen dem Pädagogen, den Zögling zu verbessern, zum Trotz. Anders ausgedrückt: Der Zögling reagiert auf die insgeheimen Zuschreibungen des Pädagogen ("Ich muß ihn zu einem besseren Menschen machen"), er wird 'schlecht', weil der Pädagoge Schlechtes von ihm denkt. Das Mißtrauen jedes pädagogisch eingestellten Menschen - das andere nicht die sein lassen kann, die sie selbst sein wollen - bestätigt sich dann für Pädagogen im Nachhinein. Und sie merken nicht, daß sie sich das "Bestätigen" selbst zuzuschreiben haben, daß sie Vergifter von Selbstwertgefühl und Ich-Stärke junger Menschen sind. Pädagogen sind so gesehen die Dealer einer gefährlichen Droge.

Im übrigen macht die Antipädagogik unmißverständlich klar, daß die Achtung der Menschenrechte unvereinbar ist mit jeder erzieherischen Absicht. Einen anderen Menschen nicht den sein lassen können, wie er sich selbst versteht, wie sein eigenes Selbstbild ist, wie seine Identität ist - das verträgt sich nicht mit der Achtung vor der Würde des anderen. (Zum weiteren Verständnis der Antipädagogik verweisen wir auf das Buch "Antipädagogik"; wir weisen darauf hin, daß sich die Antipädagogik gegen jede Spielart der Pädagogik richtet, auch gegen die "antiautoritäre Erziehung", die das Neill'sche Gedankengut pädagogisch umfunktioniert).


7.3. Gleichberechtigung des Kindes

Die Kinderrechtsbewegung stellt bereits eine ganze Reihe von konkreten politischen Forderungen. Ihre Nichterfüllung mißachtet junge Menschen als gleichberechtigte Mitbürger. Zur Grundsatzfrage der Gleichberechtigung junger Menschen schreibt der amerikanische Kinderrechtler John Holt, dessen Bücher in Millionenauflage erschienen sind "Instead of Education", "Freedom and Beyond", "Escape from Childhood" u.a.):

"Lange Zeit kam ich nie auf die Idee, diese Institution (Kindheit) infrage zu stellen. Erst in den letzten Jahren begann ich mich zu fragen, ob es für junge Menschen nicht andere oder bessere Lebensmöglichkeiten geben könnte. Inzwischen bin ich zu der Auffassung gelangt, daß die Tatsache, 'Kind' zu sein, d.h. völlig unterwürfig und abhängig zu sein, von älteren Menschen als eine Mischung aus kostspieligem Quälgeist, Sklave und behätscheltem Schößling betrachtet zu werden, den meisten jungen Menschen mehr schadet als nützt. Ich schlage vor, die Kindheit zu ersetzen, indem wir jedem jungen Menschen, gleich welchen Alters, alle Rechte, Privilegien, Pflichten und Verantwortlichkeiten erwachsener Bürger
zugänglich machen, damit er sich ihrer bedienen kann, wenn er möchte." *

* Aus: John Holt, Zum Teufel mit der Kindheit (Escape from Childhood), Wetzlar 1978. S. 13

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Grundgesetzänderungen verlangen in ihrem Buch "Die Gleichberechtigung des Kindes" Ekkehard v. Braunmühl (Autor der "Antipädagogik"), Helmut Ostermeyer (Familienrichter) und Heinrich Kupffer (Pädagogikprofessor). Artikel 3 des Grundgesetzes soll Kinder in den Gleichheitsgrundsatz einbeziehen und geändert lauten: "Männer, Frauen
und Kinder sind gleichberechtigt". Außerdem soll die Passage "seines Alters" eingefügt werden in den folgenden Absatz des Artikels 3: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, seines Alters, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden". Für den Grundgesetzartikel 6 schlagen die Autoren vor: "Die Eltern haben die Grundrechte des Kindes zu achten, sie dürfen es nicht züchtigen. Eltern sind als Erste verpflichtet, für ihre Kinder zu sorgen. Die Gesellschaft und ihre Einrichtungen haben sie dabei zu unterstützen." Dieser Absatz soll die alte erwachsenenzentrierte und vom Erziehungsdenken geprägte Passage ersetzen "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen abliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaften."). *
* Aus: v.Braunmühl/Kupffer/Ostermeyer, Die Gleichberechtigung des Kindes, Frankf. 1976, S. 175


7.4. Deutsches Kindermanifest (1980)

Am 3. Mai 1980 wurde erstmals in Deutschland eine zusammenfassende Liste der Rechte junger Menschen der Öffentlichkeit vorgestellt. Hubertus v.Schoenebeck stellte in einem 22 Artikel und eine Präambel umfassenden Papier die Forderungen der Kinderrechtsbewegung zusammen, wie sie aus der vielfältigen Kinderrechtsliterstur (seit 1970) bekannt waren, insbesondere aus den Büchern von Richard Farson ("Menschenrechte für Kinder") und John Holt (''Zum Teufel mit der Kindheit"). Auf dem Friedensmarkt 1980 proklamierte der FREUNDSCHAFT MIT KINDERN Förderkreis e.V. durch Hubertus v.Schoenebeck am historischen Friedenssaal in Münster vor dem Mahnmahl der Opfer der Kriege und Gewalt das DEUTSCHE KINDERMANIFEST. Es wurde der deutschen Öffentlichkeit durch Übersendung an 150 Multiplikatoren von Presse, Funk und Fernsehen übergeben.



D e u t s c h e s K i n d e r m a n i f e s t


Präambel

Die Menschenrechte sind unteilbar. Kinder, Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Jeder Mensch verfügt von Geburt an über die Fähigkeit der Selbstbestimmung. Das Selbstbestimmungsrecht des jungen Menschen anzuerkennen und junge Menschen in der Ausübung dieses Rechtes zu unterstützen ist historische Verantwortung und Verpflichtung erwachsener Menschen. Jeder junge Mensch muß ungeachtet seines Alters die Möglichkeit erhalten, von den Rechten, Privilegien und Verantwortlichkeiten erwachsener Menschen uneingeschränkt Gebrauch machen zu können.

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I Grundlegende Rechte


Artikel 1 Recht auf Gleichheit
Junge und erwachsene Menschen sind gleichberechtigt. Kinder werden in keiner Situation schlechter gestellt als Erwachsene. Kinder haben nicht weniger Rechte als Erwachsene. Kinder dürfen generell alles tun, was Erwachsene im Rahmen der Gesetze tun dürfen.

Artikel 2 Recht auf freie Entfaltung
Kinder haben das Recht, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten, soweit sie nicht die Rechte anderer beeinträchtigen.

Artikel 3 Recht auf rechtliche Verantwortung
Kinder haben das Recht, für ihr Leben und ihre Taten die rechtliche Verantwortung zu übernehmen.

Artikel 4 Recht auf rechtliches Gehör
Kinder haben vor dem Gesetz und vor Gericht dieselben Rechte wie Erwachsene. Kinder können selbst vor Gericht klagen, um ihre Rechte durchzusetzen.


II Soziale Rechte


Artikel 5 Recht auf Teilnahme am Rechtsleben
Kinder haben das Recht, am Rechtsleben uneingeschränkt teilzunehmen. Sie können Verträge schließen, über Eigentum verfügen, Geschäfte eröffnen, Vereine und Parteien gründen und in jeder anderen Form rechtsverbindlich tätig sein.

Artikel 6 Recht auf Teilnahme am öffentlichen Leben
Kinder haben das Recht, öffentliche Funktionen zu übernehmen und Staatsämter zu bekleiden

Artikel 7 Recht auf Teilnahme an Wahlen
Kinder haben das aktive und passive Wahlrecht.

Artikel 8 Recht auf freie Meinungsäußerung
Kinder haben das Recht, ihre Meinung in Wort und Medien frei zu äußern und zu
verbreiten.

Artikel 9 Recht auf Arbeit gegen Entgelt
Kinder haben das Recht, gegen Entgelt zu arbeiten.

Artikel 10 Recht auf Wahl der Lebenspartner
Kinder haben das Recht, sich von bisherigen Lebenspartnern zu trennen und neue Lebenspartner zu wählen. Kinder können eine eigene Familie gründen.

Artikel 11 Recht auf Unterstützung
Kinder haben das Recht, von Erwachsenen in der Lebensführung unterstützt zu werden. Dieses Recht ist die wohlverstandene Pflege- und Erziehungspflicht des Grundgesetzes.

Artikel 12 Recht auf Mindesteinkommen
Kinder haben das Recht auf das staatliche Mindesteinkommen, das Erwachsenen zusteht.


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III Individuelle Rechte


Artikel 13 Recht auf kinderfreundliche Geburt
Kinder haben das Recht auf eine kinderfreundliche Geburt, wie dies mindestens die Sanfte Geburt (Leboyer-Methode) gewährleistet.

Artikel 14 Recht auf körperliche Unversehrtheit
Kinder haben das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es gibt keine Züchtigung.

Artikel 15 Recht auf freie Nahrungsaufnahme
Kinder haben das Recht, jedes Nahrungs- und Genußmittel, das Erwachsenen zugänglich ist, ungehindert aufzunehmen oder zu verweigern.

Artikel 16 Recht auf eigenen Namen
Kinder haben das Recht, sich einen eigenen Vornamen zu geben.

Artikel 17 Recht auf Privatleben
Kinder haben das Recht auf ein Privatleben. Dies gilt auch innerhalb der Familie.

Artikel 18 Recht auf Sexualität
Kinder haben das Recht, ihr Sexualleben selbst zu bestimmen und Nachkommen zu zeugen.

Artikel 19 Recht auf selbstbestimmtes Lernen
Kinder haben das Recht, ihr Lernen selbst zu bestimmen. Sie entscheiden, ob und in welchem Umfang sie staatliche Lernangebote (Schulen) in Anspruch nehmen. Es gibt keine Schulpflicht. Der Staat ist zur Einrichtung von Angebotsschulen verpflichtet.

Artikel 20 Recht auf religiöse Freiheit
Kinder haben das Recht, eine Religionszugehörigkeit zu wählen und zu lösen.

Artikel 21 Recht auf Freizügigkeit
Kinder haben das Recht, ihren Aufenthaltsort zu bestimmen. Kinder unterliegen keiner Sperrstunde und können freizügig reisen.

Artikel 22 Recht auf Dateninformation
Kinder haben das Recht auf Information über alle Daten, die über sie geführt werden.



7.5. Zum Verständnis des Deutschen Kindermanifestes

Das Deutsche Kindermanifest scheint bei pädagogisch ambitionierten Menschen die ganz besonders großen Bedenken auszulösen. Auch wir hatten beim ersten Lesen der Rechte-Auflistungen bei John Holt und Richard Farson Fragen und Schwierigkeiten. Von der heutigen Gesellschaft aus betrachtet scheinen die Forderungen der Kinderrechtsbewegung teils utopisch, teils gar rückschrittlich.

Ein Beispiel: In Artikel 9 des Deutschen Kindermanifestes wird gefordert: "Kinder haben das Recht, gegen Entgelt zu arbeiten". War es denn nicht eine historische Errungenschaft, die Kinderarbeit abgeschafft zu haben? Doch wenn wir dann daran dachten, wieviel wir selbst als Kind gearbeitet hatten (was natürlich aus Erwachsenensicht nicht "Arbeit" genannt wurde, und wir statt dessen bloß für gelegentliche finanzielle Unterstützung durch die Großen dankbar zu sein

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hatten), relativierte sich diese Errungenschaft schon sehr. Uns fiel auf, wie scheinheilig diese Gesellschaft mit Rechten verfährt. Kinder waren in Fabriken nicht mehr nötig, weil genügend Arbeitskräfte vorhanden waren und weil es profitabler war, diese per Schule mehr zu qualifizieren. Also kam ein Jugendschutzgesetz. Die dann ausschließlich in den Blick gerückte Fürsorglichkeit der Erwachsenen - die eben sehr handfeste. wirtschaftliche Gründe hatte - macht die Unehrlichkeit aus. Abgesehen davon, daß sogenannte private Arbeit z.B. auf Bauernhöfen oder in Handwerksbetrieben davon unberührt blieb. Heute ist für alle Kinder tagtäglich äußerst fremdbestimmte und mit unendlichem Leid, Ängsten und Demoralisierungen verbundene Zwangsarbeit Realität: Die "Errungenschaft'' Schule, deren Zwangscharakter (Schulpflicht, Lernpflicht, Beurteilungszwang - s. das nächste Kapitel) entgegen Artikel 12 des Grundgesetzes Zwangsarbeit ist.

Langsam haben wir angefangen, uns zu überlegen, welche Ursache Schutzgesetze haben. Es ist immer deutlicher geworden, daß da jemand vor einem System geschützt wird, in das er aus wirtschaftlichen Gründen (noch) nicht integriert werden kann. Ausgangspunkt solcher Gesetze ist die bestehende Wirtschaftsordnung und ihre Funktionsfähigkeit. Daß dabei auch ab und zu etwas Menschlichkeit abfällt, ist ein Nebenprodukt, dem dann ohne Scham die Hauptbedeutung beigemessen wird.

Das Deutsche Kindermanifest hat einen anderen Ausgangspunkt. Es geht davon aus, daß Menschen Erwachsene werden können, die nicht durch Erziehung deformiert werden und die daher ein Leben lang in der Lage sind, ihre Möglichkeiten und auch Risiken rational zu betrachten und entsprechend zu handeln. Diese Menschen werden keinen Schutz suchen, sondern Ungerechtigkeiten abbauen wollen dies heißt, daß ein Staat, der auf der Angst zahlloser Generationen begründet ist (wie dies auch für unsere adultistische Ordnung gilt), sich vor ihnen schützen muß.

Wie weit DIESES Schutzbedürfnis (der adultistischen Erwachsenenwelt vor den selbstbestimmten Kindern) geht, verdeutlichte uns jüngst ein Jugendrechtsexperte des Bundesvorstandes des Deutschen Kinderschutzbunds auf dem Kinderschutztag 1982 stellvertretend für viele. Er verteufelte das Deutsche Kindermanifest wegen seines Artikels 3 ("Kinder haben das Recht, für ihr Leben und ihre Taten die rechtliche Verantwortung zu übernehmen"), denn er hielt es als Fachmann nämlich Jugendfür unverantwortlich, Kinder noch früher in Kontakt mit dem Strafrecht treten zu lassen. Hierbei übersah er zum einen, daß die Artikel des Deutschen Kindermanifestes die Kinder nicht verpflichten, dies oder jenes zu tun. Das heißt, ein Kind muß nicht die rechtliche Verantwortung für sein Leben und Tun übernehmen aber es kann dies, wenn es selbst so entscheidet. Und anzunehmen, Kinder würden dabei die Pflichten und Sanktionen, die unsere Gesellschaft für alle die parat hält, die Vollbürger sind, außer acht lassen oder unkorrekt bewerten, ist typische erwachsenenzentrierte Denkweise.

Zum anderen kam er natürlich nicht auf die Idee, die tatsächliche Gefahr - die nicht die Souveränität des Kindes ist, das sich rechtlich verantworten will - abzuschaffen: das Strafrecht insgesamt. Bei diesem Zweig der Rechtswissenschaft handelt es sich seiner Meinung nach um Bürgerrecht, d.h. so etwas ähnliches wie natürliches Recht. Tatsächlich handelt es sich aber doch wohl um staatliches Ordnungsrecht gegen besonders Anpassungsunwillige oder -fähige. Jedesmal


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wenn versucht wird, im Bereich der Straffälligenhilfe die Idee von der Abschaffung der Gefängnisse zu vertiefen, schlagen dem Wogen der Angst und Aggression entgegen. Die Angst der Menschen vor den Menschen ist so tief eingeprägt worden, daß gewohnte und nutzlose Mechanismen in irrationaler Weise beantwortet werden. Das geht so weit, daß eben lieber schon Kinder in Formen gepreßt werden, als daß mutig ein Ansatz zur Veränderung gewagt wird. Um so wichtiger ist es, hartnäckig zu bleiben und die Aussagen der Kinderrechtsbewegung immer wieder ins Spiel zu bringen.

Wir verkennen nicht, daß es bei vielen Erwachsenen Bedenken und Ängste gibt, wenn man ihnen vor Augen hält, daß die Kinder tatsächlich all diese Rechte haben und daß es im Grunde nicht zu verantworten ist, ihnen die Ausübung ihrer Menschen- und Bürgerrechte vorzuenthalten. Die Ängste kommen von Menschen, denen die Vorstellung von gleichberechtigten und selbstbestimmten jungen Menschen ungewohnt, fremd und abenteuerlich sind. Doch all diese Angst, die aus der eigenen Schutzreaktion auf die Angriffe der Erwachsenen in der Kindheit kommt und sich tief in den erwachsen gewordenen Kindern festgesetzt hat, schmälert ja nichts an den Fähigkeiten der nachwachsenden jungen Menschen, ihren Rechten und ihrer Fähigkeit zum sinnvollen Umgang damit.

Wenn wir Erwachsenen allgemein sicherer geworden sind mit der neuen Beziehung zu Kindern und uns selbst, wenn wir weniger Angst haben und uns auf das selbstbestimmte Kind - das wir sind und das die jetzt jungen Menschen sind - mehr und mehr einlassen, werden wir auch den jungen Mitbürgern die Ausübung ihrer Rechte nicht länger vorenthalten. Und es wird uns dann schwer
verstellbar sein, daß wir dies so lange Zeit taten. Es ist dies eine historische Entwicklung, an deren Beginn wir stehen, und die Kinderrechtsbewegung hat dieselben Anfangsschwierigkeiten zu überwinden wie vor ihr etwa Sklavenbefreiung, Frauenbewegung oder Antirassismus.

Das Deutsche Kindermanifest stellt die vielen oft isoliert erhobenen Forderungen der Rechte junger Menschen zusammen. Und sicher werden sich noch weitere Rechte finden lassen, wenn wir mit der Problematik der Kinderrechtsbewegung vertrauter sind. Beispielsweise haben Junge Menschen selbstverständlich auch das Recht, ihre eigenen Kinder selbst bei sich großwerden zu lassen. Der Artikel läßt sich ergänzen als
Artikel lla Recht auf aktive Unterstützung
Kinder haben das Recht, ihre Kinder bei sich groß werden zu lassen und sie auf ihrem eigenen Lebensweg zu unterstützen.

Müssen Rechte nicht immer auch mit Pflichten verbunden werden? Diesen oft gehörten Einwand halten wir in Bezug auf das Deutsche Kindermanifest für falsch. Denn das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Gleichberechtigung sind Rechte, die jedermann zukommen, zunächst einmal losgelöst von Pflichten: Sie sind
absolute Rechte. Unverzichtbare, grundlegende Rechte mit Pflichten zu verbinden ist die Übertragung eines woanders richtigen Prinzips - Ausgewogenheit von Rechten und Pflichten - auf einen unzutreffenden Bereich. Sicher kann man überlegen - und wird dies im Zuge der Realisierung der Rechte junger Menschen auch sorgfältig und im Geist der neuen Beziehung tun müssen -, welche Pflichten den Kindern erwachsen, wenn sie von ihren Rechten Gebrauch machen wollen. Aber diese Überlegungen haben bei der zunächst


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erforderlichen und längst überfälligen Aufstellung der Rechte junger Menschen nichts verloren. Das Deutsche Kindermanifest konkretisiert das absolute Recht auf Selbstbestimmung und das absolute Recht auf Gleichberechtigung. Dies wird in der Präambel deutlich gesagt. Und es hat nicht wie von vielen oft bezeichnenderweise erwartet - zur Aufgabe, für Kinder ein "ausgewogener Katalog von Rechten und Pflichten" zu sein.

Das "Jeder Mensch ist von Geburt an zur Selbstbestimmung fähig" kann unter verschiedenen Aspekten gesehen werden. Etwa medizinisch (Leboyer-Geburt), existenziell (Antipädagogik) oder auch politisch-rechtlich, wie dies das Anliegen der Kinderrechtsbewegung ist. Dies bedeutet dann: "Da ich selbstbestimmt bin, ergeben sich Rechte für mich, in die niemand einzugreifen hat und die mich als gleichberechtigter Bürger am Leben der Gemeinschaft teilnehmen lassen". Hieraus erwächst dem Gemeinwesen die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, daß auch tatsächlich jedermann - und selbstverständlich auch junge Menschen sein Recht ausüben kann. John Holt hierzu anhand des Beispiels Wahlrecht:

"Ich bestehe darauf, daß das Gesetz den Kindern und Jugendlichen die gleichen Freiheiten einräumt und garantiert, die es heute Erwachsenen einräumt, damit sie bestimmte Entscheidungen treffen, bestimmte Dinge tun und bestimmte Verantwortungen tragen
können. Dies bedeutet umgekehrt, daß das Gesetz gegen jeden vorgehen sollte, der die Kinder und Jugendlichen an der Ausübung ihrer Rechte hindern will. Wenn mir beispielsweise das Gesetz das Recht gibt, an Wahlen teilzunehmen, dann heißt das noch lange nicht, daß ich auch wählen muß; das Gesetz gibt mir keine Wahlstimme. Es sagt lediglich, daß es, wenn ich wählen gehen will, gegen jeden vorgehen wird, der mich daran hindern will." *
* Aus: John Holt, Zum Teufel mit der Kindheit (Escape from Childhood), Wetzlar 1978, S. 114 f.

Es ist sinnvoll, sich einmal klar zu machen, welche politisch-rechtlichen Konsequenzen sich aus der grundlegenden Aussage "Jeder Mensch ist selbstbestimmt von Geburt an" ergeben. Das Deutsche Kindermanifest erfüllt diese Aufgabe. Die
Verwirklichung der Forderung, Kinder an der Ausübung ihrer Rechte nicht mehr zu behindern, wird mit dem Deutschen Kindermanifest nicht angesprochen. Dies fällt in den Bereich politischer Arbeit und wird entsprechend der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Situation durchgeführt werden. Hier hat FREUNDSCHAFT MIT KINDERN seinen eigenen Ansatz (s. oben 1. "Rechtliche Perspektive und politischer Realismus"). Dies ist langfristige Arbeit. Dennoch läßt sich aber auch heute schon in vielen Bereichen die Behinderung der Inanspruchnahme von Rechten durch die Kinder aufgeben, vor allem bei den "Individuellen Rechten". Hier kann jeder in seiner Familie - gestützt auf den Grundgesetzartikel 6 - Kinderrechtsbewegung konkret werden lassen. Hierzu gibt der FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Förderkreis e.V. die Broschüre "Kinderrechtsbeund Deutsches Kindermanifest" heraus (s. Kapitel 15 "Förderkreis-Informationsmaterial).


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8. Schule


8.1. Die Situation

Wir treten nachdrücklich dafür ein, daß junge Menschen ihr Lernen selbst bestimmen können. Wir sind der Auffassung, daß der Zwang, etwas lernen zu sollen ("Nimm Dein Buch raus und lies"), in eklatantem Widerspruch zum fundamentalen Recht auf Gedankenfreiheit steht und wohl die barbarischste Untat ist, die wir heute jungen Menschen antun. Wir fordern, daß alles Geschehen in der Schule dem Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes FÜR JUNGE MENSCHEN ÜBERPRÜFBAR UND ERFAHRBAR untergeordnet wird: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Wir sagen: Wer das Recht junger Menschen auf selbstbestimmtes Lernen mißachtet, verstößt gegen Menschenrecht und Grundgesetz.

Wir erkennen, daß die Lernfähigkeit des Menschen, die eine selbstbestimmte Eigenschaft ist, in unserer heutigen Zwangsschule zerstört wird. Wenn wir für das Recht, sein Lernen selbst bestimmen zu können, eintreten, so wollen wir damit eine menschliche Fähigkeit retten, die wir unbedingt zum Überleben auf diesem Planeten benötigen.

An diesem Punkt sind wir so kompromißlos wie stets, wenn es um Menschenrechte geht. So sehr wir die Erleichterungen anerkennen, die verschiedene Reformmodelle bewirken konnten (z.B. Modell Glocksee, Laborschule Bielefeld, Montessorischulen, Waldorfschulen) - so sehr wissen wir auch, daß die Schule VON GRUND AUF neu zu gestalten ist. Denn das Selbstbestimmungsrecht ist nicht häppchenweise verabreichbar. Nur dann, wenn junge Menschen tatsächlich ihr Lernen selbst bestimmen können, ist eine Schule in Übereinstimmung mit den Menschenrechten. Modelle, die jungen Menschen nicht das Recht einräumen, darüber zu entscheiden, ob sie überhaupt in einer Schule etwas lernen wollen, was sie dort lernen wollen, von wem sie dort etwas lernen wollen, wie lange sie dort etwas lernen wollen, kurieren Symptome. Dies hat seinen Wert, aber es ist auf keinen Fall genug. Und es wird gefährlich, wenn über dem Symptomekurieren vergessen wird, nach der Wurzel der Krankheit zu suchen, sie zu diagnostizieren und zu bekämpfen.

John Holt zum Thema Schule:
Junge Menschen sollten das Recht haben, ihr Lernen selbst zu kontrollieren und zu lenken - d.h. zu bestimmen, was sie lernen wollen und wann, wo, wieviel, wie schnell und mit welcher Hilfe sie lernen wollen. Um es noch genauer zu sagen: ich will, das sie das Recht haben, bestimmen zu können, wann, wieviel und von wem sie unterrichtet werden, und darüber entscheiden zu können, ob sie in einer Schule lernen wollen, und wenn ja, in welcher Schule und für wie viele Stunden am Tag.

Kein Menschenrecht - vom Recht auf Leben selbst abgesehen - ist fundamentaler als dieses. Die Freiheit des Menschen zu lernen, ist Teil seiner Gedankenfreiheit und noch grundlegender als seine Redefreiheit. Wenn wir jemandem sein Recht nehmen, selbst zu bestimmen, worüber er neugierig sein wird, zerstören wir seine Gedankenfreiheit. Letzten Endes sagen wir ihm damit: du darfst nicht über das nachdenken, was
dich interessiert und betrifft, sondern nur über das, was uns interessiert und betrifft.


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Als Erwachsene gehen wir wie selbstverständlich davon aus, daß wir das Recht haben, zu bestimmen, was uns interessiert und was nicht, womit wir uns beschäftigen wollen und womit nicht. Wir betrachten dieses Recht als selbstverständlich und können uns nicht vorstellen, daß man es uns nehmen könnte. Tatsächlich aber steht dieses Recht, soweit ich weiß, in keiner einzigen Verfassung. Selbst die Väter unserer Verfassung (USA) haben es nicht erwähnt. Sie hielten es für ausreichend, den Bürgern die Redefreiheit zu garantieren und die Freiheit, ihre Ideen soweit wie sie wollten und kannten zu verbreiten. Es kam ihnen nicht in den Sinn, daß selbst die tyrannischste Regierung versuchen könnte, den Verstand der Menschen unter ihre Kontrolle zu bringen und zu bestimmen, was sie denken und wissen müssen. Dieser Gedanke tauchte erst später auf - in der wohlwollenden Maske der allgemeinen Schulpflicht.

Dieses unser aller Recht, unser Lernen selbst zu bestimmen, ist heute in großer Gefahr. Als wir in unsere Gesetze die höchst autoritäre Vorstellung aufnahmen, daß irgendwer bestimmen sollte und könnte, was alle jungen Menschen lernen sollten, und darüber hinaus alle Maßnahmen ergreifen dürfte, die er für notwendig hält (wozu inzwischen auch gehört, sie unter Drogen zu setzen), um sie zu zwingen, das Gewünschte zu lernen, begaben wir uns mit einem großen Schritt auf einen sehr abschüssigen und gefährlichen Weg.

Manche fragen: 'Aber wenn es keine Schulpflicht gäbe, würden dann nicht viele Eltern ihre Kinder zuhause behalten, um ihre Arbeitskraft in der einen oder anderen Weise auszubeuten? Solche Fragen sind häufig ebenso snobistisch wie heuchlerisch. Wer diese Frage stellt, geht davon aus und läßt (meistens ohne es direkt zu sagen) durchblicken, daß diese bösen Eltern ärmere und weniger gebildete Leute seien als er. Außerdem ist es so, daß er, obwohl er das Recht der Kinder zu verteidigen vorgibt, in die Schule gehen zu können, in Wirklichkeit das Recht des Staates verteidigt, sie in die Schule zwingen zu können, ob sie das wollen oder nicht. Mit einem Wort: was er will, ist, daß Kinder in der Schule sein sollten nicht, daß sie selbst wählen können, ob sie hingehen wollen oder nicht.*
* Aus: John Holt, Zum Teufel mit der Kindheit (Escape from Childhood), Wetzlar 1978, S. 188ff




8.2 Die Perspektive

Erwachsene können hilfreiche Partner für junge Menschen sein, wenn sie sich die Welt aufschließen. In achtungsvollen und gleichberechtigten Beziehungen können Kinder sich Erwachsenen mit ihren eigenen Fragen und Interessen anvertrauen. Kinder können von Erwachsenen die Unterstützung, abrufen, die sie jeweils benötigen und über die sie selbst Auskunft geben. Der Erwachsene ist dann ein Freund, der zur Seite steht. Er regt an, er stellt Ressourcen zur Verfügung. Er ist ein kinderfreundlicher und kinderloyaler Lernhelfer. Er bietet sich selbst als die größte Lernmöglichkeit an, die ihm zur Verfügung steht: Sich selbst als Person, offen, ehrlich, mit Gefühlen, mit Grenzen, mit Ängsten, mit Erfahrungen, mit Fachwissen, mit Fehlern - mit allen Facetten eines vollwertigen Menschen.

Wir benötigen Zentren, in denen solche freien, menschenwürdigen und lerneffektiven Begegnungen stattfinden können. Wir benötigen Erwachsene, die es nicht verlernt haben oder es wieder gelernt


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haben, zu jungen Menschen achtungsvolle Beziehungen aufnehmen und unterhalten zu können. Wir benötigen vertrauensvolle Beziehungen zwischen erwachsenen und jungen Menschen, in denen die nachwachsende Generation sich das Wissen selbst in eigener Entscheidung - abrufen und übernehmen kann. Wir benötigen eine öffentliche Institution, in der auf dieser Basis mit jungen Menschen zusammen gelebt und gelernt wird.

Wir haben eine Grundkonzeption für die neue, an den Menschenrechten ausgerichtete Schule entworfen. Sie ist der Selbstbestimmung des Kindes und der Unterstützungsfähigkeit des Erwachsenen verantwortlich. Wir nennen die neue Schule LERNZENTRUM.



G r u n d z ü g e d e s L e r n z e n t r u m s

1. Aufhebung des Lernzwangs
Es entfällt erstens der Zwang, überhaupt etwas lernen zu sollen, sowie zweitens der Zwang, etwas Bestimmtes lernen zu sollen. An die Stelle des Lernzwangs tritt das uneingeschränkte Recht auf Selbstbestimmung. Kinder entscheiden über die Lerninhalte und die Art ihres Lernens selbst.

2. Aufhebung der Schulpflicht
Die Schulpflicht wird durch das Recht, Lerninstitutionen besuchen zu können, ersetzt. Dieses Recht ist auch Eltern gegenüber durchsetzbar.

3. Aufhebung der Beurteilungsfunktion
im Lernzentrum werden keine Beurteilungen durchgeführt.

4. Einführung der Unterstützungsfunktion
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene erhält die Funktion dem kinderloyalen Unterstützers. Es steht als Vertrauter und Freund Kindern zur Seite und ist von Erwachsenenweisungen unabhängig. Er bietet sich den Kindern als Person und fachlicher Experte an, wobei die personale Beziehung Vorrang hat.

5. Einführung kommunikationswissenschaftlicher Ausbildung
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene erhält statt der pädagogischen eine kommunikationswissenschaftliche Ausbildung, in der die Menschenrechte von Kindern geachtet werden. Sie ist eine praktische Ausbildung mit Kindern.

6. Orientierung am "Haus der Offenen Tür"
Das Lernzentrum wird am Konzept "Haus der Offenen Tür" orientiert. Es ist ganztägig geöffnet, beschäftigt auch außerinstitutionelle Mitarbeiter und nimmt auch Funktionen eines Jugendzentrums wahr.


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8.3. Die Realisierung

Politische Arbeit

Was läßt sich tun, um die am Selbstbestimmungsrecht des jungen Menschen ausgerichtete Schule Wirklichkeit werden zu lassen? Wir stehen heute am Anfang. Die Kinderrechtsbewegung hat uns gezeigt, wo das Problem liegt - und wir haben begonnen, eine Perspektive zu entwickeln und zu konkretisieren. Wir wissen, daß die Durchsetzung einer Schule, die den Grundzügen des Lernzentrums entspricht, eine politische Angelegenheit ist, die sich über Jahre hinziehen wird. Gegenwärtig arbeiten wir daran, die Konzeption des Lernzentrums ins Gespräch zu bringen, den Gedanken des selbstbestimmten Lernens in das Meinungsspektrum der Bundesrepublik einzubringen. Wir führen also Öffentlichkeitsarbeit durch.

Ein weiterer Schritt wird sein, daß sich engagierte Erwachsene finden, die Lernzentren als Projektmodelle verwirklichen. Für diesen Fall haben wir bereits die Unterstützung des Vorsitzenden einer großen Lehrergewerkschaft zugesagt bekommen. Wir sagen: Wenn Sie zusammen mit anderen gleichgesinnten Erwachsenen die Realisierung eines "Projekts Lernzentrum" in Angriff nehmen wollen - dann tun Sie es! Wir unterstützen Sie dabei nach Kräften.

Ein Schritt, der sich dann realisieren läßt, wenn der Ruf nach der menschenrechtsorientierten Schule ein entsprechendes politisches Gewicht angenommen hat, ist, im Anschluß an die Sommerferien ein 4-wöchiges SOMMERSEMINAR an allen Schulen einzuführen. Statt des regulären Unterrichts wird dann vier Wochen lang erprobt, was das ist: selbstbestimmtes Lernen. Das Sommerseminar wird vor der Aufhebung der Schulpflicht möglich sein, es enthält weniger tiefgreifende Veränderungen - es ist ein Schritt auf dem Weg. Wir alle werden durch das Sammerseminar viel lernen. In einem nationalen Versuch wird mit dem Sammerseminar die Lernfähigkeit vor ihrer Zerstörung durch die Zwangsschule zu unser aller Anliegen gemacht. Es ist auch denkbar, daß nur einige oder ein Bundesland das "Projekt Sommerseminar" starten - es liegt an uns, politischen Einfluß zugewinnen. Das Sommerseminar ist das Lernzentrum auf Zeit.

Arbeit im Klassenzimmer

Neben der Arbeit an der Verwirklichung des Lernzentrums auf gesellschaftlicher Ebene gilt es nicht zu vergessen, daß auch in der gegenwärtigen Zwangsschule viel mehr Kinderfreundlichkeit realisiert werden könnte. Neben dem Bemühen um Veränderung der Zwangsstrukturen durch politische Arbeit kann auf der personalen Ebene jeder Erwachsene in der Schule heute schon damit beginnen, den kinderfeindlichen Auswirkungen der Zwangsstrukturen, denen er ja auch unterworfen ist, Widerstand entgegenzusetzen, sich mit Gleichgesinnten zu verbünden und Menschenrechte listig in die Unterrichtsminuten einzuschmuggeln oder offensiv für sie einzutreten. Jeder Lehrer kann heute ermutigt werden, in seinem Unterricht der kinderfreundliche Lehrer zu sein, der er ist. Dabei können die Eltern und die Öffentlichkeit von draußen unterstützen, indem sie offen und auch aggressiv für mehr Kinderfreundlichkeit in der Schule eintreten. Wir alle können jeden Lehrer ermutigen, mehr persönliches Risiko einzugehen, um die Inhumanität dieses ungeheuren Lernzwangsghettos unserer Tage Stück für Stück zurückzudrängen. Wir haben hierfür für die Arbeit vor Ort - eine Ideenliste erarbeitet: "Was Eltern und Lehrer heute schon tun können - 20 Vorschläge" (s. Kapitel 15 "Förderkreis-Informationsmaterial").


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Selbsthilfe hier und jetzt

Keine Mutter und kein Vater müssen tatenlos zusehen, wenn ihr Kind in der Schule leidet. Man kann offizielle Wege gehen - aber man kann auch zur Selbsthilfe greifen. Hierzu noch einmal John Holt:

"Ich kenne eine Reihe von Eltern, die mit ihren Kindern über mehrere Jahre hinweg ein Abkommen laufen hatten: 'Wenn du eines Tages den Gedanken an die Schule einfach nicht mehr ertragen kannst, wenn du dich dort nicht mehr wohlfühlst, wenn du dich vor irgend etwas, das kommen könnte, fürchtest, oder wenn du irgend etwas gefunden hast, das du unbedingt lieber tun willst - nun, dann brauchst du nicht mehr hinzugehen und kannst zuhause bleiben.' Überflüssig zu sagen, daß die Schulen mit den sie unterstützenden Experten dies mit aller Kraft bekämpfen: 'Geben Sie Ihrem Kind nicht nach. Bringen Sie es dazu, In die Schule zu gehen. Es muß schließlich lernen.' Manche Eltern nehmen ihre Kinder
einfach mit, wenn ihnen ihre Pläne eine interessante Reise gestatten. Sie fragen die Schule nicht um Erlaubnis, sie reisen einfach ab. Will das Kind nicht mit auf die Reise gehen und lieber zur Schule gehen, richten sie es dementsprechend ein. Manche Eltern nehmen ihr Kind einfach aus der Schule, wenn es Angst hat, unglücklich ist und unter der Schulsituation leidet - wie es vielen Kindern in der Schule ergeht."*
Aus: John Holt, Zum Teufel mit der Kindheit (Escape from Childhood), Wetzlar 1978, S. 191


8.4. Einige Antworten auf alte Angst

Wenn wir dafür eintreten, daß junge Menschen ihr Lernen selbst bestimmen, hören wir oft: "Aber die Kinder müssen doch lernen, wie sie in der heutigen Gesellschaft zurechtkommen. Sie müssen sich qualifizieren, um später einen ihnen entsprechenden Beruf ausüben zu können. Man kommt nicht daran vorbei, ihnen Lernstoffe vorzuschreiben und sie zum Lernen anzuhalten. In ihrem eigenen Interesse, denn sie haben noch nicht den Überblick, was sie später benötigen werden." Wir merken dann, daß solche Erwachsene voll alter Angst und voller Mißtrauen in die Fähigkeit des jungen Menschen sind, sich das eigene Leben realistisch und sinnvoll einrichten zu können. Es wird dann deutlich, daß uns von diesen Erwachsenen "Welten trennen": Die des Vertrauens und die des Mißtrauens. Diese Erwachsenen kommen immer wieder mit ihrer Angst - sei es beim selbstbestimmten Lernen oder all den anderen Rechten, die jungen Menschen zukommen.

Wir antworten dann etwa so: Niemand sagt, daß die Kinder im Stich gelassen werden. Wir stehen ihnen zur Seite und unterstützen sie. Wir sagen ihnen, wie die Welt - auch die Berufswelt heute aussieht, welche Macht- und Herrschaftsstrukturen in unserer Gesellschaft wirken. Wer für die Menschenrechte eintritt, verschließt deswegen nicht die Augen vor gesellschaftlichen und politökonomischen Realitäten. Nur: Die Konfrontation mit den Realitäten unserer Tage verleitet uns NIE MEHR zu dem aberwitzigen Schluß, wegen "der Verhältnisse" "zum Vorteil unserer Kinder" Menschenrecht zu beugen! Nein - wir lassen uns auf das Selbstbestimmungsrecht des jun-


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gen Menschen ein. Und dann, nach dieser Grundentscheidung in unserem Herzen, sehen wir, was zu tun ist. Wir haben uns so entschieden, weil wir selbst nicht mehr anders sein wollen.

Und in Sachen Schule heißt das zum Beispiel. Wir unterstützen unsere Kinder dort, wo sie aus eigenem Interesse viel lernen. Wenn dieses Lernen nicht den "Schulerfolg" abwirft - also in den anderen Gebieten schlechte Noten einbringt -, irritiert uns dies nicht. Wir haben erfahren: Die größte Qualifizierung findet stets dort statt, wo mit persönlichem Interesse gelernt wird. Schlechte Noten - für wen sind sie schlecht? Was erfaßt schon das Lernangebot der heutigen Zwangsschule? Dinge, die für junge Menschen wichtig sind - für die Zeit, die sie leben? Unsere Kinder leben hier und jetzt, wie wir auch. Und hier und jetzt lernen sie, wie wir auch. Das ganze kinderfeindliche Gehabe der Schule haben wir längst aus unserer Beziehung zu unseren Kindern hinausgeworfen, und wir klären unsere Kinder auf über den gefährlichen Unsinn, den die Zwangsschule mit ihnen und ihrem Lernen anstellt - wie auch schon zu unserer Zeit.

Sorgen wir uns um die berufliche Zukunft unserer Kinder, wenn sie so selbstbestimmt lernen, wenn sie nur das lernen, was sie von sich aus interessiert? Sorgen wir uns überhaupt um ihre Zukunft? Wir sind längst nicht frei von diesen tiefsitzenden Ängsten, und wir sagen unseren Kindern auch davon. Aber wir sind auch stark, sie wegen unserer Ängste nicht "zu deinem Wohl" zu vergewaltigen. Und natürlich sehen wir, daß eine so selbstbestimmt nachwachsende Generation DIE WAHL HAT, unsere Gesellschaftsform und unsere Kultur abzulehnen und eigene Wege zu gehen. Was ist dabei? Können wir stolz sein auf die Kultur der Kriege und der Ausbeutung, auf die geplünderte Welt? Wir haben uns entschieden: Die Zukunft unserer Kinder tasten wir nicht an, für uns gilt, daß ihnen ihre Zukunft gehört. Und für ihren Weg dorthin geben wir ihnen unsere Unterstützung, soweit wir können denn wir lieben unsere Kinder. Und auch: Ohne uns zu verleugnen - denn wir lieben uns selbst auch.

Wir verweisen jeden, der sich mit dieser Problematik intensiver befassen möchte, auf die einschlägige antipädagogische Literatur (s. Literaturliste). Besonders empfehlen wir das Buch von Helmut Ostermeyer "Die Revolution der Vernunft" und, was die Schule betrifft, "Lernen in Freiheit" von Carl R. Rogers. Hieraus zitieren wir als weitere Antwort auf alte Angst einige Passagen:

"Ein selbst entdeckter Lerninhalt - Wahrheit nämlich, die man sich durch Erfahrung persönlich zu eigen gemacht und die man assimiliert hat - kann einem anderen nicht direkt vermittelt werden. Sobald ein Mensch versucht, solch eine Erfahrung ... direkt zu vermitteln, wird Belehrung daraus, und die Ergebnisse sind irrelevant."

"Signifikantes Lernen findet statt, wenn der Lerninhalt vom Lernenden als für seine eigenen Zwecke relevant wahrgenommen wird. Ein Mensch lernt in belangvoller Weise nur jene Dinge, die für ihn mit der Erhaltung oder der Entfaltung seines Selbsts verbunden sind."

"Selbstinitiiertes Lernen, das die ganze Person des Lernenden - seine Gefühle wie seinen Intellekt - miteinbezieht, ist am eindringlichsten und in seinen Ergebnissen am dauerhaftesten." *

* Aus: Carl R.Rogers, Lernen in Freiheit (Freedom to Learn), München 1974, S. 154, 157, 162


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9. Unterscheidungen


FREUNDSCHAFT MIT KINDERN beruht auf den drei Komponenten
KINDERRECHTSANTIPÄDAGOGIK und SELBSTBEGEGNUNG. Eine isolierte Betrachtungsder Komponenten führt zu einem falschen Verständnis von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist eine neue, erziehungsfreie Art des Umgangs mit sich selbst, den Miterwachsenen und mit jungen Menschen. FREUNDMIT KINDERN geht davon aus, daß jeder Mensch von Geburt an fähig ist, die Verantwortung für das eigene Leben zu tragen. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN steht damit im Gegensatz zu allen pädagogischen Lehren. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gewinnt seine spezifische Art erst durch eine Kombination der drei KomponenKINDERRECHTSBEWEGUNG, ANTIPÄDAGOGIK, SELBSTBEGEGNUNG. FREUNDMIT KINDERN ist somit weder Nur-Kinderrechtsbewegung noch Nur- Antipädagogik noch Nur-Selbstbegegnung.

Gemeinsamkeit mit der Kinderrechtsbewegung

Wie die Kinderrechtsbewegung tritt FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ein für das politische Ziel der Gleichberechtigung junger Menschen.

Gemeinsamkeit mit der Antipädagogik

Mit der Antipädagogik weist FREUNDSCHAFT MIT KINDERN den erzieherischen Anspruch zurück - das "Ich weiß besser als du selbst, was für dich gut ist". Dieser Anspruch ist 1. unrealistisch aus psycho-existenziellen Gründen und 2. unwürdig für eine demokratische Gesellschaft. Er bedeutet existenzielle Herrschaft von Menschen über Menschen.

Gemeinsamkeit mit der Selbstbegegnung

Um aus dieser Art von Herrschaftsstrukturen herauszukommen, die fast jeder Mensch unseres Kulturkreises als die einzig mögliche, die "natürliche" Form der Beziehung zu sich selbst und zu anderen von klein auf erfuhr, müssen Menschen eine tiefe gefühlsmäßige Begegnung mit dem "Kind in sich" erleben.

Wir können von unserer heutigen, neuen und selbstbewußten Position aus gleichsam dem Kind in uns selbst ins Gesicht schauen. Wir können dem damals erlittenen Leid und Schmerz, der Angst und Wut erneut begegnen. Und genauso - und wichtiger - den positiven Seiten der eigenen Kindheit: der Erfahrung von Kraft, Selbstbestimmung, Ich-Kompetenz, Neugier, Vertrauen. In der Selbstbegegnung, die auf das Kind in uns gerichtet ist, wird nachgeholt, was ein Kinderleben lang nicht sein durfte: Sich selbst zu mögen, wie immer ein jeder ist. Die Befreiung von den adultistischen Zwängen (von engl. adult = erwachsen), von der Unterdrückung durch die erwachsenenzentrierte Denkweise, ist ohne diese psychodynamische Erfahrung nicht möglich.


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Unterschied zur Nur-Kinderrechtsbewegung

Es gibt Erwachsene, die von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN hören und dabei dann an den Stichworten über Kinderrechtsbewegung festhaken und dann NUR die jetzt lebenden Kinder befreien wollen. Sie wollen andere befreien, ohne sich um ihre eigenen adultistischen Erfahrungen zu kümmern, in die jeder heutige Erwachsene tief verstrickt ist. Eine tatsächliche - und das heißt die ausschlaggebende psychische - Befreiung aus adultistischen Herrschaftsstrukturen kann jedoch nur von den Unterdrückten selbst geleistet werden. Erwachsene und Kinder, die bereits ein Stück weit frei geworden sind von ihrem eigenen Adultismus, haben erkannt, daß hier das Gleiche gilt wie in anderen Unterdrückungsbeziehungen wie der beispielsweise zwischen Männern /Frauen und daß es ein Widerspruch ist, wenn Angehörige der unterdrückenden Klasse - hier: Erwachsene - jemanden aus der unterdrückten Klasse - hier: Kinder - befreien wollen. Wir Erwachsene können uns selbst befreien und die Selbstbefreiung der jungen Menschen loyal begleiten. Aber Freiheit in Szene setzen zu wollen ist neue Unfreiheit.

Was Erwachsenen zukommt, die einen Beitrag zum Abbau von Adultismus erbringen wollen, ist, sich um die eigene Erwachsenenwelt zu kümmern. Dort - im eigenen Zuständigkeitsbereich - können sie Veränderung bewirken. Hierbei können sie anstreben, daß auch die Miterwachsenen aus adultistischer Zwängen herauskommen, daß adultistische Verhaltungsmuster und adultistische Gesetze geändert werden. So, wie es dem neuen befreiten Selbstverständnis dieser neuen Erwachsenen entspricht.

Wer jedoch seinen eigenen Adultismus nicht angeht, "befreit" die Kinder mit derselben Position wie die, die er als Unterdrücker der Kinder bekämpft. Er "befreit" - "weil das gut für dich ist". Er selbst ist nicht frei geworden von der erzieherischen Grundeinstellung und spricht jungen Menschen im Grunde immer noch ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ab. Eine Freiheit, die von (immer noch) Adultisten kommt - und geben sie sich noch so fortschrittlich -, ist nichts als systemgerechte Unterdrückung und Entmündigung. Bei allem guten Willen und scheinbar so aufgeklärten Engagement. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies von leicht erkennbaren Adultisten kommt, die deutlich sagen, daß sie verantwortlich für Kinder handeln, oder ob dies von denen kommt, die mit ihrem Kampfruf "Befeit die Kinder" ihren wahren Standort, durchaus auch von ihnen selbst verkannt, verbergen.

Wer sich zu FREUNDSCHAFT MIT KINDERN bekennt, hat im Unterschied zu den Nur-Kinderrechtlern keinen Befreiungsanspruch. Und er kümmert sich im Unterschied zu ihnen zunächst um das Kind, das er selbst ist - groß geworden und gepreßt in adultistische Struktur. Nur-Kinderrechtler gehen vorbei an FREUNDSCHAFT MIT KINDERN.

Unterschied zur Nur-Antipädagogik

Die Antipädagogik steht in der Tradition der Aufklärung. Ihre Aufgabe ist es, über den erzieherischen Anspruch des "Ich weiß besser als du selbst, was für dich gut ist" aufzuklären. Es gibt nun Verfechter dieser Theorie, denen der aufklärerische Anspruch der Antipädagogik so wichtig geworden ist. daß sie die Würde der anderen Miterwachsenen - mit denen sie in harter Auseinandersetzung liegen - aus dem Blick verloren haben. Ihre Aufklärungsarbeit löst sich nicht von der


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Kindheitswut über erlittenes Unrecht und schlägt in Gegenunterdrückung um und wird zur intoleranten Indoktrination gegenüber denen, die ein anderes Weltbild haben. Diese Nur-Antipädagogen können dem unterdrückten Kind in sich selbst (noch?) nicht offen begegnen und stürzen sich stattdessen auf die pädagogisch Eingestellten Miterwachsenen. Während die Nur-Kinderrechtler sich dabei auf die Seite der Kinder zu schlagen versuchen, bombardieren sie in gleicher zwanghaft engagierter Weise die "feindlichen Erwachsenen".

Wer sich zu FREUNDSCHAFT MIT KINDERN bekennt, ist frei vom Aufklärungsanspruch der Nur-Antipädagogen. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist seinem Wesen nach stets ANGEBOT, nie aber Anspruch. Während der Unterdrückungsimpuls der Nur-Kindersich gegen die Kinder richtet, geht jener der Nur-Antipädagogen gegen die Miterwachsenen. Antipädagogische Aufklärung ohne Befreiung aus dem eigenen Adultismus bedeutet, das in jedem Miterwachsenen lebende Kind nicht ernst zu nehmen und es zu beherrschen versuchen. Nur-Antipädagogen gehen vorbei an FREUNDSCHAFT MIT KINDERN.

Unterschied zur Nur-Selbstbegegnung

Die psychodynamische Selbstbegegnung ist für die Befreiung aus adultistischen Zwängen unumgänglich. Hierzu gibt es sicher viele Möglichkeiten. Aber gewiß ist, daß eine solche Selbstbegegnung stattfinden muß, um wirklich und wirksam mit dem eigenen Zöglingsweltbild zu brechen. Selbstbegegnung muß hierbei den Impuls haben, auf die eigene Kindheit und ihre Wahrheiten zu blicken. Sie ist zielgerichtete Selbstbegegnung.

Es gibt nun Erwachsene, die Selbstbegegnung in verschiedenster Form verwirklichen, ohne daß sie zielgerichtet auf die Kindheitswahrheiten ist, und die sich dadurch auch viele schöne Gefühle machen. Erwachsene mit dieser Art der Selbstbegegnung ("Ego-Trip") können so höchstens zufällig Befreiung aus adultistischen Zwängen erleben. Nur-Selbstbegegner kümmern sich nicht um die Kinderfahrung-orientierte Seite der Selbstbegegnung, sondern sie engagieren sich für sich selbst mit der Ausschließlichkeit von Glücksuchern. Die Selbstliebe, die wir von Geburt an in uns tragen, die wir erinnern können und die frei von Egoismus ist, der sie zur Karikatur verzerrt, lebt diesen Menschen weiter zugedeckt und im Finsteren.

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist eine auf andere Menschen gerichtete Lebensart. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN beinhaltet ein deutliches soziales Engagement, das aus der Befreiung vom Adultismus kommt und mit der Selbstliebe untrennbar verbunden ist. Wer sich zu FREUNDSCHAFT MIT KINDERN bekennt, findet durch Selbstbegegnung fort vom Adultismus hin zu seiner eingeborenen Kraft, die er für die beiden anderen Seiten von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN benötigt.
Nur-Selbstbegeggehen vorbei an FREUNDSCHAFT MIT KINDERN.

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN

Nur wer für sich alle drei Komponenten -
KINDERRECHTSBEWEGUNG, ANTIRÄDASELBSTBEGEGNUNG - akzeptiert, zählt zu FREUNDSCHAFT MIT KINDERN oder kann zu Recht sagen, er stehe auf dem Boden von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN. Die Verbindung dieser drei Komponenten in ihrem Bezug zur eigenen Befreiung vom Adultismus macht die neue Lebensart FREUNDSCHAFT MIT KINDERN aus.






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