Selbsterkenntnis und Eigensinn


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4.11 Urteilen

4 Wissen und Wahrheit?


Wie ist das mit all meinen Bewertungen, Attributen und Urteilen? Meine Gefühle, die ja meist mit den Gedanken in einer Situation aufsteigen, bewerten nach gut oder böse, wohlig oder unwohl. Sind sie mehr als körperliche Erinnerungen an ähnliche Situationen, sind sie auch nur Urteile, ja, Vorurteile? Sind sie Glaubenssätze des Bauchhirns? Ge-Fühle sind etwas Abgeleitetes, nicht das originale Fühlen. Könnte es sein, daß "vernünftige" Urteile und "unvernünftige" Gefühle nur unterschiedliche Erzählweisen über Situationen sind, Familientraditionen, nationale, kulturelle Traditionen, wie über Vergangenheit und Zukunft zu erzählen sei?

Ich rede nicht von Fühlen, dieser Erfahrung von Ganzheit, die ein Säugling ausstrahlt, wenn er an seinem großen Zeh nuckelt. Ich rede auch nicht von so etwas wie der "Hochzeit der Hände", wie Andreas Moritz, der große Silberschmied diese Ganzheitserfahrung nannte, wenn aus der Blechronde sich die Form des Bechers unter dem Hammer aufzieht zur idealen Form in dem gedankenfreien Zusammenspiel, der Einheit von Haltehand, Hammerhand, Ohr, Auge und Hirn.

Ich will auch nicht jener philosophischen Abhilfe das Wort geben, die man seit je in jenem 'göttlichen Funken' namens 'Vernunft' gesucht hat, durch den sich der Mensch vom Tier unterscheide, und der es ihm ermögliche, sich über die närrischen Schwächen und eitlen Anmaßungen seiner Leidenschaften zu erheben. Das Problem scheint ausgerechnet dort zu liegen, wo wir immer nach der Lösung gesucht haben, im so dünkelhaften wie kraftlosen Begriff der Vernunft. Die Lösung, ja, Auflösung des Problems könnte sich gerade da verbergen - in unseren so wenig erforschten und so gering geschätzten Leidenschaften
[1]. Alle Tiere haben genau die Fähigkeiten, die sie zu ihrer Erhaltung brauchen. Der Mensch allein besitzt überflüssige. Ist es nicht merkwürdig, daß dieser Überfluß zum Werkzeug seines Elends wird?

Wir sagen "den kann ich nicht riechen", wenn wir über jemand negativ urteilen. Interessanterweise finden wir in der deutschen Sprache viele Redewendungen, die sich - zumindest vordergründig - auf das Riechen beziehen: "Mir stinkt´s", "das ist anrüchig", "verdufte endlich!", "es stinkt zum Himmel", "ich kann ihn/sie nicht riechen", "ich habe die Nase gestrichen voll", "Geld stinkt nicht", "ich kann mich auf meine Nase verlassen", " jemand hat ein feines Näschen", " muß ich dir das aus der Nase ziehen?", "die Nase über etwas rümpfen", "ich rieche den Braten", "die Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken", "sie müssen sich erst beschnuppern", "ich bin stinkig", "mit der Nase vorn sein", "seine Nase paßt mir nicht", "sich eine goldene Nase verdienen", "immer der Nase nach", "jemandem etwas auf die Nase binden", "jemandem auf der Nase herumtanzen", "das rieche ich drei Meilen gegen den Wind", "das konnte ich doch nicht riechen!", "das ist mir schnuppe", "sie schnüffelt in meinen Angelegenheiten", "er hat seine Duftmarke hinterlassen", "Eigenlob stinkt". Hier geht es oft um unangenehme Erlebnisse oder aber um ein feines Gespür, Vor-Ahnungen und In-stinkt (!).

Nun fanden Wissenschaftler, zwar bei Studien mit der Nase, daß da und auch bei Eindrücken anderer Sinne der Mandelkern im Stammhirn die Intensität der Gefühle bestimmt und das Stirnhirn die positive oder negative Bewertung vornimmt. Dennoch scheint die Nase eine besondere Stellung innerhalb der Gefühlswelt zu besitzen. Aus dem Riechhirn sind im Verlaufe der Evolution immerhin weite Teile unseres Großhirns entstanden.

Die Neurophysiologen haben gezeigt, daß wir noch heute in unseren Schädeln ein - funktionierendes und intaktes - reptilisches Gehirn mit uns herumtragen. Das reptilische Gehirn ist kein abstrakter Begriff, es ist anatomisch real. Wenn uns der kalte Schweiß ausbricht, wenn blinde Wut uns erfaßt oder wenn wir uns ganz einfach überheblich und nüchtern fühlen, können wir sicher sein, daß in diesem Moment das reptilische Gehirn unser Bewußtsein bestimmt.

Als das Zeitalter der Reptilien zu Ende ging, tauchten die ersten Blumen auf - und die Säugetiere. Diese unsere Vorfahren entwickelten ein weiteres Gehirn. Das neu entwickelte Mittelhirn oder Mesencephalon, das sich über das alte Diencephalon oder Zwischenhirn gebreitet hatte, ließe sich im engeren Sinne als Säugetierhirn bezeichnen. Für das Säugetier-Bewußtsein sind Wärme, Großherzigkeit, Loyalität, Liebe, Freude, Schmerz, Humor, Stolz, Konkurrenz, intellektuelle Neugierde und ein Sinn für Kunst und Musik charakteristisch.

In den Spätzeiten des Säugetiers entwickelten wir ein drittes Gehirn. Dies ist das Großhirn oder Telencephalon, dessen wichtigsten Teil die Großhirnrinde bildet, eine dichte, etwa drei Millimeter starke Schicht von Nervenfasern, die sich ganz einfach wie eine Mantel über das bereits bestehende Säugetier-Hirn breitete.

Robert Bly geht davon aus, das Ganze hinge irgendwie mit dem Licht zusammen. Wenn das reptilische Gehirn dem Kalten und das Säugetier-Gehirn dem Warmen entspricht, so entspricht die Großhirnrinde dem Licht. Denn das dritte Gehirn hat viele Ähnlichkeiten mit den Blumen, und die Blumen ziehen ihre Energie aus dem Licht. Wenn wir denken, wenn wir kreative Ideen hervorbringen, kommt es buchstäblich zu einem Aufblühen. Die Großhirnrinde ist lichtempfindlich und kann ihrerseits durch höhere Formen mentaler Aktivität, zum Beispiel durch Meditation oder liturgischen Gesang, erleuchtet werden. Die Alten meinten es nicht metaphorisch, wenn sie von "Erleuchtung" sprachen.

Meine Tradition ist janusköpfig. Ein Gesicht schaut in die Vergangenheit, auf meine Wurzeln. Es zeigt mir zahllose Urteile, Vorurteile, was die Dinge zu bedeuten hätten, wie ich zu handeln hätte, ohne mich entscheiden zu müssen. Das andere Gesicht zeigt mir die Zukunft, das, was aus mir und meinen Wurzeln hervorwächst, die Geschöpfe und ihre Schöpfer. Beide Sichten zeigen erstmal Wahlmöglichkeiten, zeigen die erfahrenen und die erfahrbaren Chancen und Risiken, erfahrenen von mir, meinen Vorfahren und meinen Mitgesellen in dieser Gesellschaft.

Problematisch wird das erst, wenn die zusammenziehende Angst mich hindert, in die jetzige Situation hinein mich lustvoll, beherzt auszudehnen, das Neue wahrzunehmen, mich auf dieses Spiel meiner ständig fließenden Wahrheit einzulassen, mich neu zu entscheiden, jetzt ganz anders zu sehen und zu handeln als vorher. Denn ich bin ja, meine Tradition, ein Verstandesmensch. Es ist der Job des Verstandes, immer recht zu haben und dies zu beweisen.

Und so macht er sich aus den gegebenen Anlässen Gedanken und Gefühle und beweist ihre Berechtigung. Zu jeder ihn interessierenden Situation findet er eine Interpretation und dann Argumente, daß diese Interpretation richtig sei. Oben nannte ich das "den Virus mästen". Meine Interpretationen und Argumente finden aber oft nicht nur Freunde. Solche Ablehnung kommt aus der Umwelt und genauso irgendwo aus mir selber. Das verwirrt, macht Angst, Schmerz, Wut - wo ich doch so recht habe.



  • [1] Robert C. Solomon: "Gefühle und der Sinn des Lebens"; Zweitausendeins, 3. Aufl., 2001


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