Selbsterkenntnis und Eigensinn


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I Grundlagen

13 Anhang > 13.1 FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Heft 4 - 09/1982


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I Grundlagen


1. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Grundsatzpapier (1979)
1.1.Die Selbstbestimmung
1.2.Die Erziehung
1.3.Die pädagogische Absicht
1.4.Die Befreiung
1.5.Die Kindheitserfahrungen
1.6.Die neue Beziehung
1.7.Unterstützung beim Aufbruch

  • Wiederentdecken einer Lebensart
  • Gast in einer fremden Kultur
  • Sehen und Warten
  • Sich selbst vertrauen
  • Interessenkonflikte
  • Notwehr
  • Nähe ohne Enge
  • Wie damit beginnen?

1.8.Die berufliche Beziehung
Anhang:
Carl R.Rogers: Über die Beziehungen von jungen und erwachsenen Menschen

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1.1. Die Selbstbestimmung

In den Monaten vor der Geburt erfährt sich der Mensch als Einzig, Vollkommen, Zufrieden. Das Wissen der millionen Generationen vor ihm trägt er als Bild seiner Weit in sich. Nach neun Monaten Leben ist er bereit und fähig, in diese Weit hinauszutreten.

Diese Erfahrung, dieses Wissen, diese Fähigkeit nennen wir dürr:

MENSCHENWÜRDE und SELBSTBESTIMMUNG

Ungeborene, Kinder, Erwachsene - alle Menschen - sind grundlegend so geschaffen: Sinnvoll in der Welt zu leben. Die Weisheit des Organismus gehört zu uns wie unsere Hände, das Atmen, unser Blut. Erwachsenen ist dies aus dem Blick gerückt, gerade unsere Zeit zeigt dies deutlich an, wir sind an einer Zeitenwende
. Erwachsenen ist der Zugang zu ihrer menschlichen Potenz verstellt.

Befreien wir diese unsere fantastische Eigenschaft! Aus sich heraus kann jeder Mensch über sich selbst bestimmen. Nie kann dies ein anderer für mich mit Recht tun. Das Gefühl für uns selbst für das, was dem Selbst den Weg zeigt - wurde unterdrückt. Beginnen wir, die Selbstbestimmung neu zu entdecken, mit den Augen des Kindes in uns - mit allen Kindern.


1.2. Die Erziehung

Alle herkömmlichen Vorstellungen über Kinder sind von unserer Konzeption durch den großen Unterschied getrennt, daß wir Kindern jeden Alters, also von Geburt an, die Selbstbestimmung zuerkennen.

Kindern ihre Selbstbestimmung abzusprechen bedeutete, daß sie zu UNMÜNDIGEN erklärt wurden. Das entsprach den gängigen Vorstellungen über Kinder so sehr, daß anders zu denken nicht (mehr) möglich war. Nach der willkürlichen Festsetzung "Kinder können nicht über sich selbst bestimmen" mußten folgerichtig dann andere über sie bestimmen, für die sie Verantwortung übernehmen, ihnen die Selbst-Verant abnehmen: Die Erwachsenen. Kinder mußten dann von Erwachsenen gelenkt, geführt, erzogen werden - zu dem hin, was Erwachsene in Vertretung des "eigentlichen Interesses des Kindes" festgelegt hatten. Kinder wurden als Erziehungs-Objekte den Erwachsenen untergeordnet.

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN bricht hier mit einer alten Tradition und knüpft an die andere Tradition, die der Freiheitsbewegungen (Sklavenbefreiung, Frauenbewegung, Entkolonialisierung). Jetzt schränken wir die Menschenrechte des jungen Menschen nicht ein. Kinder erleben uns nicht mehr als stellvertretend für sie verantwortlich oder als "erzieherisch". Kinder behalten die Entscheidungskompetenz in ihren eigenen Angelegenheiten, sie werden nicht hinerzogen zu von Erwachsenen festgelegten Zielen.

Das Bekenntnis zur Selbstbestimmung des Kindes und der daraus folgende Verzicht auf jede erzieherische Absicht bedeutet eine historische Umwälzung im Selbstverständnis des Erwachsenen und in seiner Beziehung zu Kindern.


1.3. Die pädagogische Absicht

Die Pädagogik ist von der Kommunikationswissenschaft - der Wissenschaft von den menschlichen Beziehungen - als Haufe irriger und schädlicher Lehrmeinungen erkannt worden. Die Kinderrechtsbewegung hat sie uns als unvereinbar mit den Menschenrechten gezeigt. Wenn wir unsere Beziehungen zu Kindern mit pädagogischen Absichten durchsetzen, wird Selbstbestimmung der Kinder als "nicht vorhanden" oder "noch nicht vorhanden" betrachtet und damit mißachtet.

Die pädagogische Absicht bedeutet, daß einer die anderen (der Erwachsene die Kinder) zu bestimmten Zielen, die er für richtig hält, hinerziehen möchte. Wer voll pädagogischer Absicht ist, kann dies vielfältig begründen und sich dann vor diesen selbst erdachten oder von anderen übernommenen Begründungen auch rechtfertigen und "verantworten". Solche pädagogische Begründungen sind zum Beispiel: "Weil Du das noch nicht entscheiden kannst", "Weil man das so macht", "Weil das besser für Dich ist", "Weil das der Entwicklungsstufe des Kindes entspricht", "Soweit es der Grad der Einsichtsfähigkeit des Kindes zuläßt", "Weil das zur Sozialisation notwendig ist". Wir alle sind in dieser pädagogischen Tradition großgeworden - und als Erwachsene waren wir gewohnt, diese Tradition den heutigen Kindern gegenüber fortzusetzen.

Wer sich der Pädagogik und ihrer Absicht verschreibt, erkennt Kinder nicht realistisch, sondern pädagogisch-irreal verzerrt. Als von vornherein feststehend macht er sich vor oder läßt sich vormachen, daß Kinder nicht über sich bestimmen können, und folglich entdeckt er, daß Kinder "erziehungsbedürftig" seien. Die Fähigkeit junger Menschen, selbstbestimmt ihren Weg zu finden, selbstbestimmt in Beziehung zur Welt zu treten, wird unterdrückt, weil Kindern die besondere Art der Handlungsfähigkeit von Erwachsenen fehlt. Kindern fehlen Muskelkräfte und viele Erwachsenen-Informationen. Daraus wird die willkürliche


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Festsetzung der Pädagogik "Kinder können nicht über sich selbst bestimmen" und wird zur anthropologischen Grundannahme einer "Erziehungsbedürftigkeit".

Wer mit der pädagogischen Tradition bricht, erkennt, was die Pädagogik zu erkennen tabuisiert: Daß Kinder NICHT erziehungsbedürftig sind, sondern daß sie über sich selbst von Anfang an bestimmen und daß wir sie DABEI vertrauensvoll UNTERSTÜTZEN können. Die Kinder sagen uns, in welche Richtung ihr Weg gehen soll - und wir bieten ihnen dafür unsere Erfahrung, unser Wissen, uns selbst als Unterstützung an. Pädagogen hingegen entscheiden nicht die eigenen Entwicklungsstufen des Unterstützens. Sie entscheiden für Kinder über die Richtung des Weges. Glauben, dies zu können, ist ein verhängnisvoller, lebensfeindlicher Irrtum. Dies zu tun, ist Gewalt.

Wir plädieren dafür, eine andere Grundhaltung Kindern gegenüber einzunehmen, das UNTERSTÜTZEN an die Stelle der pädagogischen Einstellung zu setzen. Es gilt nicht mehr: "Gib mir Deine Hand, damit ich Dich führe (dorthin, wo ich es als für Dich richtig ausgesucht habe)", sondern: "Solange ich kann und will, biete ich Dir auf Deinem Weg meinen Arm an, wenn Du Dich stützen möchtest". Wir übernehmen eine neue Verantwortung in einer neuen Lebensart.


1.4. Die Befreiung

Die Anerkennung der Selbstbestimmung des Kindes hat für Erwachsene die einschneidende Folge, daß sie sich selbst nicht mehr "verantwortlich für das Kind" zu fühlen brauchen, weil sie nicht verantwortlich für das Kind sind. Dies ist eine Umwälzung für Erwachsene. Niemand mehr kann Erwachsenen einen Vorwurf machen, sie hätten ihre Erziehungsverantwortung vernachlässigt oder nicht "richtig" wahrgenommen, denn diese Verantwortung gibt es nicht.

Erwachsene werden also befreit, befreit von einer unnötigen und für humane Beziehungen schädlichen Belastung. Erwachsene gewinnen die in der Kindheit verschüttete Erfahrung ihrer Souveränität und Freiheit zurück. Sie entdecken wieder, daß das eigene Selbst, das Ich, von niemandem verpflichtet werden kann: Das Ich verpflichten kann nur es selber, denn jeder ist sein eigener Souverän. Als solcher nimmt er Beziehungen auf, unterhält er sie und löst sie. Die Verantwortung anderen Menschen gegenüber ist ausgerichtet an der Verantwortung sich selbst gegenüber, und als Freie und Souveräne gehen wir aufeinander zu und miteinander um. Das ist FREUNDSCHAFT MIT KINDERN und gilt für die Beziehungen zwischen Erwachsenen, zwischen Kindern, zwischen Erwachsenen und Kindern.

Erwachsene sind also auch Kindern gegenüber nicht verpflichtet. Es wird Ihre eigene Entscheidung sein, wie sehr Sie sich Kindern anbieten und sie unterstützen wollen. Hier ist jeder Erwachsene frei, sich einzubringen oder nicht. Wir wissen, daß erst dieses Element der Freiwilligkeit den Erwachsenen zu einem wirklich hilfreichen Partner für Kinder macht. Denn die Freiwilligkeit ermöglicht, in die Beziehung zu Kindern uns so einzubringen, wie immer uns zumute ist, daß heißt: wie immer es unserer Realität entspricht, daß heißt: wie immer wir sind: Die Begegnung von realen Personen kann geschehen. *)
*) Dieser Abschnitt hat gelegentlich zu Mißverständnissen geführt, vor allem dann, wenn er nicht im Kontext der Gesamtkonzeption gelesen wurde. Wir ergänzen deswegen:

Selbstverständlich kümmern wir uns um unsere Kinder. Aber nicht, weil wir "verantwortlich für das Kind" sind, sondern weil wir aus uns heraus gern jedem beistehen, der uns um Hilfe bittet. Dies gilt jedem Menschen gegenüber, und auch unsere Kinder können sich da auf uns verlassen. Das freiwillige Helfen und Sorgen ist jedoch etwas ganz anderes als die belastende erzieherische "Für-Dich-Verantwortung". Es geschieht, weil wir uns AUS UNS SELBST dazu entscheiden, ohne uns hierzu verpflichtet zu fühlen - denn wir sind gern hilfreich. Der Anspruch des Kindes auf unsere Unterstützung erreicht uns ohne Verpflichtung: Mitmenschliche Selbstverständlichkeit ist nicht mit Kategorien "Pflicht" und "Verantwortung" zu erfassen - sie gehört ohne diese Konstrukte zum Menschen. Erst kinderfeindliches Denken benötigt diese Hilfsmittel. Wir jedoch stehen auf einer anderen Basis, und eine "Pflicht zur Hilfe" ist uns absurd. Wir lieben unsere Kinder, und das Sorgen für den anderen, das sich daraus ergibt, ist uns Selbstverwirklichung und Erfüllung.



1.5. Die Kindheitserfahrungen

In der eigenen Kindheit hat jeder Mensch täglich erfahren, daß ihm von Erwachsenen die Selbstbestimmung abgesprochen wurde. Das bedeutete für uns Kinder in unserem konkreten Erleben: Erwachsene zwangen uns zu Dingen, die uns nicht entsprachen, in denen wir uns nicht als wertvoll erfuhren, die uns die Weit nur verzerrt begreifen ließen.

Heute wissen wir um die Tatsache, daß die Erwachsenen unserer Kindheit allermeist bester Absicht und guten Willens waren. Wir wissen aber auch, daß "beste Absicht" und "guter Wille" nur allzuoft Unterwerfung und Mißachtung für uns bedeutete. Wir können unseren Eltern und Erziehern zu verzeihen versuchen ohne dabei das Gefühl für Recht und Unrecht zu verlieren, denn dies brauchen wir für uns selbst und die heutigen Kinder.

Und wir erlebten täglich, daß unsere Art zu leben schuld daran sei, wenn Erwachsene unzufrieden wurden. Wie oft hörten wir solch lähmende Sätze: "Jetzt machst Du mich sehr traurig", "Jetzt bin ich aber ganz enttäuscht", "Ich bin gar nicht zufrieden mit Dir". So ließen wir uns besiegen.


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Wir lernten, daß einer zum Glücklichsein Siege haben muß, und mit der Zeit gewöhnten wir uns daran. Und schließlich brauchten wir sie wie eine Droge.

Wir lernten, daß Erwachsene allein das Recht hatten, über sich selbst zu bestimmen und über uns zu bestimmen. Dies war ihre Erwachsenenpflicht und ihr Erwachsenenrecht. Wir rannten oft gegen Beschlüsse Erwachsener an, aber es schwang da die ohnmächtige Gewißheit mit, daß Erwachsene die Macht hatten, ihren Willen durchzusetzen.

"Du bist schuld'' Dieser furchtbare Angriff auf unsere Souveränität und Freiheit hat viel in uns zerstört. Als Kinder waren wir dem Schuld-Vorwurf ausgeliefert. Wir nahmen ihn an, um die Liebe unserer Eltern und Erzieher nicht zu verlieren. Das Souveränitätsgefühl, mit dem wir geboren wurden, wurde vom Schuldgefühl zersetzt. Wir vergaßen, daß NUR WIR SELBST uns schuldig und freisprechen können. Wir akzeptierten, daß andere Menschen über uns ihre Urteile fällten. Und wir fanden nicht die Kraft, in dieser wahnwitzigen Düsternis die Orientierung zu bewahren.

Zu unserem Glück lebten wir sehr oft auch ohne Erwachsene. Wir machten in unserer Kindheit täglich auch die Erfahrung, daß wir unser Selbstbestimmungsrecht ausüben konnten - wenn wir allein oder unter Gleichaltrigen waren. Hier galten andere Regeln und Wertungen als im Zusammensein mit Erwachsenen. Wir Kinder hatten ein sicheres Gefühl für das, was für uns das Richtige ist. Täglich entschieden wir selbst.

Mit klarem Kopf und ganz offen konnten wir die Mitteilungen aufnehmen, die uns jede Situation immer wieder neu gab. Flexibel und ungehindert von irrationalen Erwachsenenängsten erkannten wir rational das Erforderliche und spontan handelten wir danach. Wenn aber Erwachsene hinzukamen, war es aus damit. Diese gespaltene Realität ist Kindheitsrealität.

Wir Kinder, heute Erwachsene, knüpften an unsere positiven Erfahrungen an, wenn wir anerkennen, daß Kinder selbstbestimmt sind. Solange wir Kinder waren, lebten wir unser Ich: Unmittelbar konnten uns andere wahrnehmen. Mit dem Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt konnte unser Ich nicht mehr so sein. Die Masken und Panzer der Erwachsenen wurden unsere Realität. Unser Ich war verborgen unter dem Schuttberg der irrationalen Verhaltensmuster, die uns zu Erzogenen gemacht hatten. Heute befreien wir unser Ich. Es lebt wieder die reale Person. Wir zerbrechen die Panzer und die Masken fallen ab. Und als diese reale Person - die wir schon als Kinder leibhaftig waren -, gehen wir nun auf die heutigen Kinder zu und begegnen ihnen von Person zu Person.

Es ist schwer, dies tun zu können. Denn wir lernten seit unserer Kindheit, daß Erwachsene anders sind und heute sind wir ja selbst Erwachsene. Unsere Kindheitserfahrungen können sich in uns als Konflikt auswirken, wenn wir heute Kindern das zuerkennen wollen, was UNS damals von Erwachsenen nicht zugestanden wurde. Die alten Normen melden sich jetzt stark zu Wort, wenn wir mit ihnen brechen wollen, und stürzen uns in Angst und reden uns das Gefühl ein, verantwortungslos zu handeln. Vielleicht hilft es, wenn wir uns an die Wut und die Tränen von damals erinnern, als uns Kindern die Selbstbestimmung abgesprochen wurde: Dies ist eine Wahrheit - und heute stehen wir wieder zu ihr. Insofern müssen wir Erwachsene in uns selbst einen Befreiungskampf leisten, gegen das Erlernte und gegen die eingeprägten Normen.

Wir können uns mit den wertvollen Kindheitserfahrungen verbünden und uns auf den Weg machen. Dabei kann sich jeder vielfältig unterstützen, z.B. durch Psychodrama, Langlauf, Eutonie, Bioenergetik, Meditation, Reevaluation counseling, Spielen, Lesen, Eurhythmie, Tauchen, Töpfern, Malen, Encountergruppen, Tanzen, Expression corporelle, Schreiben, Gymnastik, Psychotanz, Brot backen, Gärtnern, Singen, Blumen finden, Atmen, Radeln, Vögeln zuhören, Wandern, Matschen, Babysitten, Lieben, Weinen und Lachen, Nichts tun, Schweigen, Leben.


1.6. Die neue Beziehung

Erwachsene erkennen die Selbstbestimmung von Kindern und sie befreien sich von den schädlichen Normen, die sie in der eigenen Kindheit gelernt hatten. Kinder erkennen, daß Erwachsene ihnen die Selbstbestimmung, die sie täglich allein oder mit Gleichaltrigen praktizieren, nicht mehr absprechen. Erwachsene und Kinder treffen sich gleichwertig und gleichberechtigt: Ihre Beziehung ist von neuer Art.

Die Beziehung ist so neu und auch so radikal verschieden von der eingeübten Beziehung, wie das immer der Fall ist, wenn ehemalige Herrscher und Beherrschte sich nunmehr gleichwertig gegenüberzustehen beginnen. Erinnert sei an die Neuartigkeit in der Beziehung Männer - Frauen, Weiße - Schwarze, ehemalige Kolonialmacht - ehemalige Kolonie.

Oben-Unten oder aber Gleichwertigkeit ist eine Frage der Macht in personalen Beziehungen. Die auf Macht über andere verzichtende Haltung eröffnet neue Wege. Der ehemals (im Namen der erzieherischen Verantwortung) Unterworfene erfährt sich nunmehr als gleichwertig geachtet. Der ehemals (aus erzieherischer Verantwortung) Herrschende erfährt sich nunmehr als der Machtmittel entledigt. Beide, Kinder und Erwachsene, werden zu Beginn in der gewohnten Freiheit verunsichert sein und nicht so recht wissen, wie


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sie die neue Beziehung leben können.

Das Problem der neuen Beziehung wird für die Kinder leicht zu lösen sein: Sie können das, was sie unter Gleichaltrigen erleben, nämlich als Gleichberechtigte und Gleichwertige geachtet zu werden, auf Erwachsene übertragen. Für Erwachsene ist es schwieriger, da ihnen ja das Verhaltensmuster Oben-Unten den Kindern gegenüber tief eingedrückt wurde. Sie können auf keine Erfahrungen über den gleichberechtigten und gleichwertigen Umgang von Erwachsenen mit Kindern zurückgreifen. Es gibt für Erwachsene keine praktische Orientierung, kaum Vorbilder, weder aus der eigenen Kindheit noch aus ihren Erwachsenenerfahrungen.

Es ist notwendig, Erwachsenen Hilfen bei der Umorientierung zu geben. Eine Hilfe ist, sich den Wert der neuen Beziehung ständig bewußt zu machen: Die neue Beziehung ist leistungsfähiger als das alte Oben-Unten. Die neue Beziehung ist verantwortungsvoller als die alte Erziehungsverantwortung. In der neuen Beziehung entsteht Vertrauen - das Grundelement für die Entfaltung der in Kindern und also auch in Erwachsenen angelegten wertvollen Fähigkeiten. In der neuen Beziehung können Erwachsene die Kinder und sich selbst ACHTEN. Sie wie die Kinder können UNTERSTÜTZEN, so, wie es der Unterstützte benötigt und darüber vertrauensvoll Auskunft gibt. Und sie können FREUNDSCHAFT miteinander schließen, wenn die Beziehung sich intensiviert und mit Liebe erfüllt.


1.7. Unterstützung beim Aufbruch

Wir möchten Ihnen unsere Unterstützung anbieten, wenn Sie die neue Beziehung leben wollen, die wir FREUNDSCHAFT MIT KINDERN nennen. Wir sagen Ihnen etwas davon, was wir bisher entdeckt haben, was uns selbst geholfen hat, mit der neuen Beziehung zurechtzukommen.

a) Wiederentdecken einer Lebensart

Kinder haben eine eigene Art, sich auf das Leben einzulassen. Diese Art ist anders als die von uns Erwachsenen. Denken Sie nur an die Einstellung der Kinder zur Zeit, zur Sauberkeit, zur Ordnung. Kinder leben mit diesen "Problembereichen" sehr gut - wir können viel wiederentdecken.

b) Gast in einer fremden Kultur

Wir müssen überhaupt erst einmal lernen, wie Kinder alles so sehen. Wir sind es bislang gewohnt, Kindern zu sagen, wo sie hin müssen: Nämlich in unsere Lebenswelt. Jetzt achten wir sie als gleichwertig, und deshalb machen wir uns auf, als Gast in ihrer Kultur sie verstehen zu lernen. Wie in vorigen Jahrhunderten die Forscher in unbekannte Länder aufbrachen, so suchen wir jetzt die Lebenswelt der Kinder.

c) Sehen und Warten

Kinder sind von uns gewohnt, daß wir sie kommentieren und ihnen die Richtung kommandieren. Sie werden ein Gefühl dafür entwickeln, daß wir jetzt "nichts mehr von ihnen wollen", daß wir ohne pädagogische Absicht sind. Es ist eine große Hilfe für Kinder damit sie uns vertrauen können und um über die erlittenen Einmischungserfahrungen hinwegzukommen, wenn wir uns Zurückhaltung auferlegen, soweit wir irgend können, ohne uns dabei zu verstellen. Wenn wir warten und zusehen können. Wenn wir geduldig sind. Denn jetzt können wir das nachholen, was wir versäumten: In den Kindern die Gewißheit wachsen zu lassen, daß wir sie in ihrer Selbstbestimmung ernst nehmen und achten.

d) Sich selbst vertrauen

Es ist unsere wichtigste Erfahrung, sich selbst zu vertrauen. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN konnten wir nur entwickeln, weil wir zu dieser Grundhaltung zurückgefunden haben. Jeder von uns ist da seinen eigenen Weg gegangen.

Das Sich-Vertrauen ist wie ein Zaubermittel, um die neue Beziehung leben zu lassen. Das Sich-Vertrauen ist die wichtigste Antwort auf die Frage: "Wie macht man FREUNDSCHAFT MIT KINDERN?"

Unsere Broschüre bietet Ihnen Hilfen, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN intellektuell zu verstehen. Trauen Sie sich nun selbst - der Weisheit IHRES Organismus. Mißtrauen Sie sich nicht, indem Sie beispielsweise sich ständig beobachten und auf den Erfolg warten: Dann kommt er um so schwerer. Geben Sie sich IHRER Fähigkeit zu leben hin!


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e) Interessenkonflikte

Wir haben erlebt, daß Kinder eine eigene Art haben, Interessenkonflikte zu regeln. Wir möchten Ihnen dies mitteilen, wenn Sie sich auf die Kultur der Kinder einlassen. Im Unterschied zu uns Erwachsenen regeln Kinder ihre Konflikte nach dem Schema einer faktischen Lösung. Das heißt, im Konfliktfall kommt es nur darauf an, sich "tatsächlich" durchzusetzen - nicht aber, dem anderen die eigene Position "schmackhaft" oder "einsichtig" zu machen. Kinder rühren nicht daran, daß die Position des anderen vielleicht nicht so wertvoll sei wie die eigene. Das ist nie ihr Problem. Sie wollen sich ganz real durchsetzen - die Würde des anderen und dessen Einstellungen spielen dabei keine Rolle. Dies heißt aber und daraus folgt: Die Würde des anderen wird nie in Frage gestellt. Und weiter: Wenn einer dann unterliegt, ist seine Würde nicht mißachtet.

Faktisch kann sich der Unterlegene nicht durchsetzen, er "verliert". Aber seine Würde ist unangetastet, hier "verliert" er nicht. Er verliert existenziell gesehen nicht. Wir Erwachsenen bringen im Konfliktfall sehr oft die existenzielle Ebene (unsere Würde) mit in den Konflikt ein - und dann ist das Verlieren auch ein existenzieller Verlust, wir erleben uns in unserer Würde mißachtet. Dann ist es konsequent, nach Kompromissen zu suchen. Dies ist für Kinder unnötig. Bei ihnen gibt es so gesehen nur klar Sieger und Besiegte, faktisch und ohne Kampf auf existenzieller Ebene, ohne Überlebende und Tote.

Wir raten: Lassen Sie den Kindern ihre Kompromißlosigkeit in ihren Konflikten. Ein Besiegter, dessen Würde nicht angetastet wird, kann auch wieder eine Beziehung zum Sieger aufnehmen - ein Sieger kann sich dann auch leicht versöhnen. Unsere Erwachsenen-Konfliktlösungen sind voll von existenziellen Problemen, belasten wir Kinder nicht damit. Sehen wir auch hier zu. Nur, soweit wir es ehrlich können - aber wir können uns ja bemühen.

f) Notwehr

Wenn wir Kindern die Selbstbestimmung nicht länger vorenthalten, so bedeutet das nicht, daß Kinder nun alles und Erwachsene nichts mehr dürfen. Es geht nicht um neue Herrscher und Beherrschte. Es geht um eine andere, eine neue Qualität der Beziehung. Wenn wir jetzt das Recht der Kinder anerkennen, ihrerseits offen ihre Bedürfnisse ins Spiel zu bringen, dann meint das nicht, Kinder hätten nur anzukündigen und könnten dann drauflosverwirklichen.

Wir Erwachsene machen uns nicht zu Objekten von Kindern. Wir bleiben Subjekte und erkennen nun auch die Kinder als Subjekte. Die Anerkennung der Gleichberechtigung des Kindes ist kein Zeichen unserer Schwäche, mit der wir uns den Kindern ausliefern. Sie ist Ausdruck unserer Stärke, die Selbstbestimmungs-Realität aller Menschen zu erkennen und zeigt an, daß wir Verantwortung den Menschenrechten gegenüber zu tragen in der Lage sind. Und Gleichberechtigung ist keine Einbahnstraße: Auch wir melden unsere Rechte und Interessen offen und ohne Hintergedanken an.

Wenn Sie das Gefühl haben, daß Ihnen alles zu viel wird - setzen Sie sich zur Wehr! Nachbarschaftsärger, Sachbeschädigungen, Aggressivität, Ausnutzen - niemand hat das Recht zu verlangen, daß Sie sich für die Kinder aufopfern. Verfallen Sie nicht Fehlern der überholten und schädlichen "antiautoritären Erziehung". FREUNDSCHAFT MIT KINDERN geht nicht ohne Autorität, die Autorität souveräner und freier Menschen, ihrer Rechte und ihrer Würde. Dies gilt für die Kinder und für Erwachsene. Wenn Sie Ihr Recht und Ihre Würde behaupten, ermöglichen Sie erst einen achtungsvollen Interessenausgleich. Wie jedermann haben auch Sie das Notwehrrecht des personalen Umgangs.

Wir sind für uns selbst verantwortlich. Gleichberechtigt und gleichwertig zählen wir im neuen Miteinander mit Kindern. Und niemand nimmt uns dabei das Recht auf Notwehr oder entläßt uns aus der Pflicht, für uns selbst zu sorgen in der neuen Beziehung. Die Kinder werden uns dabei unterstützen, wie wir dies für sie tun können. Wir bringen uns ein - mit unseren Erfahrungen, Ängsten, Bitten, Hoffnungen, Bedürfnissen und Gefühlen: Offen und befreit wir selbst.

g) Nähe ohne Enge

Lösen wir uns von den Kindern, gehen wir ganz allgemein auf mehr Distanz zu ihnen. Kinder können selbst leben. Wir sind zwar wichtig für sie, aber wir sind nicht als Einzelperson lebenswichtig für Kinder. Die Kinder würden sich auch dann, wenn wir nicht mehr da wären (z.B. durch einen Unfall) "durch das Leben schlagen" - und zwar sicher und effektiv. Sie wissen von sich aus, was für sie gut ist. Das dürfen wir NIE vergessen! Und benötigen Kinder Erwachsenenhilfe, können sie das klar kundtun, jedem Erwachsenen gegenüber. Und hier müssen wir alle Kinder neu verstehen lernen, die Neugeborenen, die Älteren, die Behinderten, die "Gestörten" ...

Wir möchten Ihnen mit dieser Überlegung sagen, daß Sie durchaus ersetzbar sind. Das mag sich hart anhören,


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aber es ist eine Wahrheit. Und sie hilft, von einem Verstrickungsgefühl den Kindern gegenüber freizukommen. Wir können uns in einer sympathischen Distanz zu Kindern bewegen, die weder uns noch sie in der Entfaltung des Selbst stört. Und aus dieser freundlichen Distanz heraus können wir uns ihnen anbieten und sie unterstützen.

Wir sind da. ICH BIN DA. Dieses Gefühl ist wichtig. Seien wir für die Kinder da, so wie wir auch für uns da sind. Doch seien wir nicht um sie herum. Seien wir MIT ihnen: Strahlen wir Nähe aus, aber nicht eine einfangende Enge. Wir haben nunmehr gelernt, daß wir nicht für die Kinder verantwortlich sind. Sie sind es vor aller Augen selbst - und wir können diese befreiende Distanz annehmen.

h) Wie damit beginnen?

Unser wichtigster Tip: Suchen Sie Gleichgesinnte. Das Hauptproblem liegt in unserer Ablösung von den alten Normen. Mit Freunden geht so etwas leichter. Machen wir uns immer wieder gegenseitig sicher, daß wir verantwortungsvoll handeln, wenn wir Kindern die Selbstbestimmung lassen. Machen wir uns gegenseitig klar, wie schädlich die erzieherische Einmischungshaltung ist. Entwickeln wir gelassen ein avantgardistisches Bewußtsein, denn die Erwachsenenumwelt wird uns mißtrauen und wieder in die alten Normen einzupressen versuchen. WIR SIND AUF DEM RICHTIGEN WEG.

Dann: Der entscheidende Schritt wird sich IN IHNEN SELBST vollziehen. Sie werden für sich erkennen, wo Sie stehen wollen. Aus dieser Einsicht wird sich dann das Gefühl entwickeln, nunmehr so zu SEIN. Das heißt: Unser Selbstverständnis als Erwachsener wird sich wandeln.

Das neue Selbstverständnis und die Gleichgesinnten werden uns die ersten Schritte hinein in das unbekannte Land der Beziehungen zwischen Gleichberechtigten und Gleichwertigen tun lassen. Wir haben den Kompaß in uns selbst und die Gefährten zur Seite. Der Anfang ist gemacht, wir können uns selbst und die Kinder nicht mehr verfehlen.


1.8. Die berufliche Beziehung

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist eine neue Beziehung. Jedem Erwachsenen sieht es frei, sie zu verwirklichen. Artikel 6 des Grundgesetzes gibt Erwachsenen die Möglichkeit, ihr Erziehungsrecht im Sinne von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN zu verstehen und zu praktizieren. Dies gilt klar für den privaten Bereich, also für die Familie. Wie aber ist das mit den beruflichen Beziehungen, die Erwachsene zu Kindern haben? Wie ist das in den pädagogischen Berufen, zum Beispiel in der Schule, im Heim, im Kindergarten? Oder sonst, wenn Erwachsene beruflich mit Kindern zu tun haben, wie beim Arzt, im Krankenhaus, beim Jugendamt, bei der Polizei, beim Gericht, in der Kirche, in der Psychiatrie?

Für alle öffentlichen Funktionsträger ist Artikel 1 des Grundgesetzes eindeutig: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt." Zur Würde des Menschen gehört Selbstbestimmung - also sind besonders die öffentlichen Funktionsträger verpflichtet, junge Menschen in der Selbstbestimmung, mithin der Wahrung ihrer Würde, zu unterstützen. Was für öffentliche Funktionsträger eine rechtliche Verpflichtung ist, ist auch für alle anderen eine Selbstverständlichkeit, die beruflich mit Kindern zu tun haben.

Wir wissen jedoch, das dies NICHT das Verhalten der Berufs-Erwachsenen bestimmt. Sie werden der traditionellen Auffassung verpflichtet, daß Kindern die Selbstbestimmung abgesprochen werden muß und daß - nach dieser Entmündigung - Kinder zu lenken und zu leiten sind. Hierbei werden diese Fachleute an heute noch anerkannten Normen der Pädagogik und Kinderpsychologie ausgerichtet. Die Tatsache, daß die Idee der Gleichwertigkeit des Kindes diesen Menschen undenkbar scheint, läßt sie lange an die Pädagogik und Kinderpsychologie glauben und diese Entmündigungsideologie weiterentwickeln und anwenden. Tun sie es nicht, laufen sie Gefahr, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, ja, sie müssen sogar mit Strafmaßnahmen rechnen. Ähnlich wie Ärzte, wenn sie gegen anerkannte Normen ihres Berufsstandes mit neuen Erkenntnissen verstoßen. Denken Sie nur daran, was Kopernikus' "De Revolutionibus Orbium Coelestium" für Widerstände hervorrief, bis sich die Realität, nämlich die Sonne wird umkreist von den Planeten und nicht die Erde, auch als anerkannte Lehre durchsetzen und Allgemeingut werden konnte. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist in einer gleichen Situation - bis sich die Realität, daß Kinder selbstbestimmt sind, überall in den Auffassungen Erwachsener von Kindern durchgesetzt haben wird.

Solange FREUNDSCHAFT MIT KINDERN nicht von der wissenschaftlichen Lehre allgemein anerkannt ist, gelten die alten Normen für Lehrer, Erzieher und andere Berufs-Erwachsene. Wenn sie sich dennoch zu
FREUNDSCHAFT MIT KINDERN bekennen, geraten sie in einem kaum auszuhaltenden Konflikt. Während des Dienstes müssen sie tun, was sie zu Hause strikt ablehnen: Jungen Menschen die Selbstbestimmung absprechen.


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Wir können heute keine Lösung für alle die geben, die beruflich mit Kindern zu tun haben. Doch lassen Sie uns alle gemeinsam die noch bestehende vorherrschende wissenschaftliche Lehre und die öffentliche Meinung so aufklären, daß FREUNDSCHAFT MIT KINDERN toleriert wird. Daß keiner mehr Angst haben muß, wenn er die Realität anerkennt und die Menschenrechte achtet!



Anhang

Der große Carl R. Rogers, Wegbereiter der Gruppenbewegung und Begründer der Humanistischen Psychologie, hat, heute fast 80-jährig, diese Zusammenhänge jüngst deutlich ausgesprochen. Mitglieder des FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Förderkreises sind bei ihm gewesen und haben von ihm Unterstützung erfahren Die von Carl R. Rogers mitgeteilten Zusammenhänge über die Politik im Miteinander von Personen sind eine wesentliche Grundlage von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN.

In seinem 1977 erschienenen Buch "Die Kraft des Guten" (Carl Rogers "On Personal Power") schreibt er im Kapitel "Die neue - und die alte Familie" über die Beziehungen von erwachsenen und jungen Menschen:

"Ein Individuum, das versucht, sein Leben auf personenbezogene Weise zu leben, betreibt damit eine Politik der Familienbeziehungen und der Ehe- und Partnerbeziehungen, die sich radikal vom traditionellen Modell unterscheidet. Das Kind wird als unverwechselbares, achtenswertes Individuum betrachtet, welches das Recht hat, sein Erleben auf seine persönliche Weise zu bewerten und dem umfassende, autonome Entscheidungsbefugnisse eingeräumt werden. Jeder Elternteil respektiert gleichermaßen sich selbst und verfügt über Rechte, die durch das Kind nicht außer Kraft gesetzt werden können."

"Es ist eine überaus schwer zu realisierende Art von Beziehung, die sicher den Aufwand nicht lohnen würde, wenn das Ergebnis nicht so befriedigend wäre."

"Dies mag wie eine völlig kindbezogene Familie klingen, aber dem ist nicht so. Auch die Eltern haben Gefühle und Einstellungen, die sie dem Kind auf eine Weise zu vermitteln suchen, welche von ihm verstanden werden kann. Die Resultate sind phantastisch. Da sich die Kinder ständig vieler ihrer eigenen Gefühle sowie jener ihrer Eltern bewußt sind und weil diese Gefühle ausgedrückt und akzeptiert wurden, entwickeln sie sich zu höchst sozialen Wesen.

Sie sind anderen Menschen gegenüber aufgeschlossen, drücken ihre Gefühle offen aus, lehnen es ab, herablassend behandelt zu werden, und erweisen sich in ihren Unternehmungen als kreativ und unabhängig. Sie haben ein Gespür für die Gefühle, die ihnen andere entgegenbringen, und obwohl sie nicht vor Konfrontationen zurückscheuen, versuchen sie nur gelegentlich, einander bewußt weh zu tun.

In ihrem Leben gibt es somit nur zweierlei Arten von Disziplin: Die Selbstdisziplin, die stets mit der verantwortungsbewußten Autonomie einhergeht, und die flexiblen Grenzen - und somit die Disziplin - die von den Gefühlen der Menschen in ihrer Umgebung gesetzt werden."

"Ich möchte nicht ein zu rosiges Bild entwerfen. Ich habe erlebt, daß manche dieser Eltern vorübergehend vergessen, daß auch SIE Rechte haben, mit dem Resultat, daß sie ihr Kind verwöhnten. Ich habe erlebt, daß Eltern und Kinder zeitweilig zu den alten Verhaltensweisen zurückkehrten, die Eltern kommandierend, das Kind opponierend. Eltern wie Kinder sind manchmal erschöpft und reagieren falsch. Es gibt immer Reibungen und Schwierigkeiten, die besprochen und durchgearbeitet werden müssen.

Aber alles in allem befinden sich Eltern und Kinder in diesen Familien in einem kontinuierlichen Beziehungs-PROZESS, sie machen eine Reihe von Veränderungen durch, deren Endresultat wir nicht kennen, das aber von einer endlosen Zahl täglicher Entscheidungen und Handlungen geprägt wird.

Die Politik der Herrschaftsausübung und des Gehorsams mit ihrer angenehmen statischen Sicherheit gehört der Vergangenheit an. An ihre Stelle tritt eine ganz anders geartete Politik: Die Politik des Beziehungsprozesses zwischen nicht austauschbaren Individuen."


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2. Die neuen Erwachsenen - Erstes Positionspapier 1978


2.1. Die Situation

Wir brauchen eine neue Grundlage für unseren Umgang mit Kindern. Wir haben zwar oft den Eindruck, mit Kindern gut auszukommen. Doch bei näherem Hinsehen zeigt unsere Erwachsenenbeziehung zu Kindern in allen Lebensbereichen dauernde Störungen. Da klappt es nicht mehr mit der Kommunikation. Der Kontakt reißt ab. Die Kinder verschließen sich. Wir verstehen unsere Kinder nicht mehr. Wir spüren, wie das Vertrauen - Fundament einer guten Beziehung - zurückgeht. Wir spüren, wie Mißtrauen, Angst, Aggressivität wachsen. Es kommt der Punkt, wo wir kein Verständnis mehr aufbringen können, wo wir uns provoziert fühlen. Dann schalten wir ab oder wir fahren die Kinder an oder wir drehen durch ...

Dies alles geschieht oft, sehr oft - zu oft. Man könnte sagen, daß unsere Beziehung zu Kindern einem verborgenen Dauerkrieg gleicht, der jederzeit und bei der geringsten Gelegenheit offen losbrechen kann. Und es trifft wohl für uns alle zu - für Erwachsene und für Kinder -, daß wir darunter leiden. Trotzdem schaffen wir es nicht, mit dieser Kriegerei aufzuhören. Der nächste Ausbruch kommt ...


2.2. Die Notwendigkeit

Es ist sicher, daß diese Zusammenhänge von vielen Erwachsenen gesehen werden. Und es ist auch sicher, daß gegenwärtig ein sehr ausgeprägter Wunsch und Trend besteht, ein für alle Mal mit diesem Erwachsenenkrieg gegen die Kinder Schluß zu machen. Jeder erfährt doch eindringlich, was es bedeutet, zum Kinde keinen Kontakt zu haben, erfährt auf der anderen Seite, welche Möglichkeit eine gute Beziehung eröffnet: Wir können uns anstecken lassen von der Lebensfreude, der Geradheit und Unbekümmertheit der Kinder und uns von ihrer Lebenskraft mitreißen lassen.

Dann erleben wir Freude und wie es Spaß macht, wenn Kinder mit uns umgehen. Wir können auftanken bei den Kindern für die Belastungen des Alltags. Wir entdecken neu, was es heißt, das Leben heute zu genießen und sich auf morgen zu freuen. Gute Beziehungen zu Kindern sind schön, wertvoll und hilfreich - und zwar nicht nur für die Kinder, was auf den ersten Blick klar ist, sondern auch für uns Erwachsene.

Für die Kinder bietet der Umgang mit friedlichen und freundlichen Erwachsenen die große Möglichkeit und die Wahrscheinlichkeit, die in den Kindern angelegte Lebenskraft sich strahlend entfalten zu lassen, ohne Angst, dafür aber mit der Hilfsbereitschaft eines Vertrauten. Hören wir auf mit dem Krieg gegen ein Kind, so kann es aus sich herauslassen, was an Fähigkeiten in ihm steckt. Und darauf sind wir angewiesen. Denn die hochkomplizierten Probleme unserer und anderer Gesellschaften in den nächsten Jahrzehnten können nur dann positiv gelöst werden, wenn sich das positive Potential der Menschen ungehindert völlig entfalten kann. Haben unsere Kinder dazu Gelegenheit, werden beide Seiten davon profitieren.

Unsere Kinder lösen uns eines Tages in allen Bereichen ab - das ist jedermann klar. Wir werden alt und sie werden ihre und unsere Lebensbedingungen schaffen und unsere Versorgung gewährleisten


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müssen. Wir Erwachsene haben Grund genug, alles daranzusetzen, endlich und für immer aufzuhören mit dem Dauerkrieg, den wir mit unseren Kindern führen. Nur so können wir gewinnen sofort und auch langfristig.


2.3. Die Konzeption

Es gibt nun eine Konzeption, die uns dauerhaft den Frieden mit den Kindern bringen kann. Diese neue Konzeption ist ohne Tricks und eigentlich uralt. Sie heißt FREUNDSCHAFT MIT KINDERN. Wir alle haben ein Gefühl dafür, was zu einer Freundschaft gehört, und dafür, was sie zerstört. Wir kennen das, weil jeder von uns anderen als Freund verbunden ist und war. Wenn wir dazu übergehen, zu unseren Kindern Beziehungen aufzunehmen wie zu unseren Freunden - dann haben wir gewonnen. Unter Freunden gibt es keinen Krieg als Dauerzustand. Es gibt sicher Interessengegensätze, unterschiedliche Ziele, also Konflikte. Sicher gibt es auch gelegentlich Krach, aber eben: Gelegentlich. Wenn ein Streit zum Dauerkrieg ausartet, ist es aus mit der Freundschaft.

Nein: die Beziehungen unter Freunden sind von Freundlichkeit gekennzeichnet. Und von der Achtung vor dem jeweiligen Sosein des Freundes. Und von der Nichteinmischung in seine eigenen Angelegenheiten. Und von der uneingeschränkten Hilfsbereitschaft, die sich nicht aufdrängt, in Einmischung umschlägt, mundtot macht, entmündigt. Einem Freund können wir seine eigene Verantwortlichkeit lassen und sein Recht, für sich selbst zu entscheiden, auch, wenn wir mit manchen Entscheidungen nicht einverstanden sein sollten.

Wir beanspruchen nicht, für einen Freund zu entscheiden. Es sei denn, er bittet uns ausdrücklich darum. Wir kämen nicht auf die Idee, einen Freund erziehen zu wollen. Es wäre auch unnötig, weil wir einem Freund die Kompetenz für sich selbst zubilligen. Wie könnten wir besser wissen als er, wonach ihm jetzt zumute ist, wessen er vor allem bedarf, was für ihn das Richtige ist. Wir stehen unserem Freund mit Rat und Tat zur Seite. Aber es ist mit jeder Freundschaft aus, wenn jemand Beraten und Helfen nur benutzt, um gegen den Willen des Freundes die eigenen Vorstellungen durchzusetzen.

Ein Freund respektiert den Willen des Freundes. Die Souveränität des Freundes erkennt er an. Freunde haben gleichberechtigte Beziehungen - oder gar keine. Ein Freund kann vertrauen, daß ihn der Freund nicht mißbraucht. Bei einem Freund fühlen wir uns wohl. In der Vertrautheit und Sicherheit der Freundschaft kann sich der Freund entfalten, Trost finden, Spaß haben, darf er sich ausruhen, traurig sein, glücklich sein.


2.4. Unser Appell

Wir rufen alle Erwachsenen auf, ernst zu machen mit der Konzeption FREUNDSCHAFT MIT KINDERN, sie tatsächlich zu verwirklichen, wann immer wir es mit Kindern oder ihren Belangen zu tun haben, privat oder beruflich, unmittelbar oder mittelbar, zu Hause, in der Schule, im Bus, im Geschäft, bei der Polizei, beim Hausbau, bei der Stadtplanung, in der Gesetzgebung, in der Wirtschaft, in der Politik - stets, überall, immer!

Es gibt heute bereits viele Menschen, die diese Konzeption für die einzige, langfristig realistische Alternative zu unserem gewohnten Umgang mit Kindern halten und praktizieren. Die es satt sind, mit immer neuen Tricks und Manövern, mit immer raffinierteren Techniken und Listen ihre Erziehungsziele durch Erziehungsmittel, verpackt in Erziehungsstile, anzusteuern und so das


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"Beste für's Kind" erfolgreich in den Kindern durchzusetzen, nämlich bis das Kind schließlich selbst will, was ich will. Solchen Umgang mit Kindern nennen diese Leute Betrug.

Sie gehen dagegen aus vom SELBSTBESTIMMUNGSRECHT des Kindes, von der GLEICHBERECHTIGUNG, von seiner unantastbaren Würde, kurzum: von der SOUVERÄNITÄT DES KINDES.

Machen Sie mit! Wenden Sie die Ideen der Kinderrechtsbewegung (Children's Rights Movement) und der Antipädagogik im Alltag an! Verschaffen Sie ihnen in der Öffentlichkeit Gehör und Geltung


2.5. Unsere Hilfen

Falls Sie noch unsicher sind, aber auch, wenn Sie sich schon entschlossen haben mitzumachen, möchten wir Ihnen einige Hilfen aufzeigen:

a) Erfahrung einer neuen Qualität

Vorab, es geht nicht darum, daß nun das Kind alles darf und der Erwachsene nichts mehr. Es geht nicht um neue Sieger und Besiegte. Es geht um eine andere, eine neue Qualität der Beziehung zwischen Großen und Kleinen, Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Alten und Jungen, Starken und Schwachen.

In einer freundschaftlichen Beziehung können beide Partner ihre Wünsche, Interessen, Bedürfnisse für sich erkennen und dem anderen mitteilen ohne den Anspruch, sie auch durchsetzen zu müssen. Gleichberechtigter Umgang bedeutet, daß man sich erst einmal gegenseitig informiert und, sind die Interessen gegensätzlich, die Ziele unterschiedlich, die Wünsche zur falschen Zeit, so wird der Konflikt daraus ein Weg zur gemeinsamen Lösung und Regelung, die beide Partner zugleich oder auch abwechselnd zufrieden macht.

Informieren heißt nicht, lediglich ankündigen, was gleich folgen wird, nämlich die Durchsetzung des gerade Angekündigten. Leider sind wir dies aber so gewöhnt: Wir sagen Kindern, was wir wünschen oder für den Wunsch einer höheren Macht halten (Nachbarn, Schule, Öffentliche Meinung u.a.) und erwarten, daß die Kinder folgen, oder setzen durch, daß sie folgen.

Wenn wir jetzt das Recht der Kinder anerkennen, ihrerseits offen ihre Bedürfnisse ins Spiel zu bringen - versteckt taten sie es ja immer schon -, dann meint das nicht, Kinder hätten nun nur anzukündigen und könnten dann drauflosverwirklichen. So wie es die Kinder von uns Erwachsenen bislang ja gelernt haben. Wir gestehen nicht das Recht zu, daß die Kinder werden wie wir waren. Wer das unter Gleichberechtigung verstünde, bekäme mit Recht Angst.

Nein: Die Qualität der Beziehung ist geändert. Nicht dürfen Kinder ab jetzt, was Erwachsene zu tun gewohnt waren. Sondern Erwachsene verlassen das alte Kästchen- Denken von Führer und Geführten, Siegern und Besiegten, Oben und Unten. Kinder und Erwachsene treten in ein Gleichgewichtsverhältnis ein. Wir Erwachsene und die Kinder stehen uns gleichwertig gegenüber. Wir informieren uns gegenseitig und in Konfliktfällen arbeiten wir miteinander auf eine Regelung hin.

Wir tun dasselbe wie früher, aber es ist vom Grunde her alles ganz anders: Für jeden Konflikt gibt es Regelungen, wie früher. In jeder Situation lernen wir, wie früher. Aber es hat nicht mehr nur einer das Sagen, der andere nur die Alternative Kampf oder Unterwerfung bei Mißachtung seiner Würde und Selbstbestimmung. Beide Partner haben jetzt auch als Kontrahenten gleichen Wert, ihre Würde bleibt geachtet, die Selbstbestimmung beider wird nicht angetastet.

Konflikte, Regelungen, Lernen - wie früher. Aber - neu, und ganz anders als früher - ohne Oben


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und Unten, Siegen und Unterwerfen, Mißachten und Mißachtetwerden, vielmehr nun mit gegenseitiger Achtung, gleichen Rechten, Würde und Souveränität auf beiden Seiten. Konflikte, Regelungen, Lernen auf einer neuen Basis: FREUNDSCHAFT MIT KINDERN.

Selbst die Wut dessen, der gezwungen wird, sein Interesse dem übergroßen Interesse des anderen unterzuordnen, bleibt geachtet. So zum Beispiel die Wut der Mutter, deren Kind gegen ihren Willen zum Schlittschuhlaufen auf das dünne Eis geht, weil es der Sorge der Mutter sein Interesse überordnet, Spaß und Abenteuer zu erleben. Oder die Wut des kranken Kindes, das gegen seinen Willen schmerzhaft behandelt wird, weil seine Eltern das Interesse durchsetzen, ihre Angst um ihr Kind loszuwerden. Diese Kinderwut muß sich nun nicht länger pervertieren zum Lob auf eine höhere Ordnung, höheres Wissen. Im Gegenteil. Das unsagbare, ungewußte Wissen um Ordnung kann sich ohne Angst zu Freiheit und Bindung entfalten.

Wenn wir die Souveränität von Kindern anerkennen, bedeutet das nicht, wir Erwachsene machen uns nun zu Objekten von Kindern. Jetzt dürfen wir unsere Rechte und unsere Würde und unser Interesse endlich ohne Hintergedanken und endlich offen anmelden. Und sie bleiben geachtet. Den Kindern erkennen wir von jetzt an nur eben Gleiches zu, und wir nehmen zu unseren Kindern von jetzt an freundschaftliche Beziehungen auf statt wie bisher diktatorische.

Insofern beginnt das demokratische Zeitalter nun auch für Kinder. Vor einem Jahrhundert kaum begann es für Frauen, gerade vor 70 Jahren durften sie aktive Mitglieder in politischen Vereinigungen werden. Unser Kampf für Kinder hat Vorbilder.

b) Erfahrung mit uns selbst

Und dann gibt es da noch das Problem, das der FREUNDSCHAFT MIT KINDERN wohl am stärksten im Wege stehen dürfte: Unsere Erfahrung, daß man mit Kindern irgendwie ja doch "klar kommt", wenn hie die Autorität (eines Großen), da die Unterordnung (eines Kleinen) ist. Diese Erfahrung mit der "erfolgreichen Strategie" unserer Eltern, Lehrer, Vorgesetzten, die haben wir ja schon ganz früh und bis heute immer wieder gemacht. Bereits als Kinder haben wir mitbekommen, das unsere Eltern Erfolg hatten, wenn sie sich "durchsetzten", denn wir taten doch allermeist letztlich, was sie wollten. Und nun, als Erwachsene, haben wir auch täglich "Erfolg" mit dem Durchsetzen.

Wir müssen also einen schärferen Blick für solche Erfolge bekommen und für ihre Folgen - sonst holt uns unsere lange Erfahrung ein. Wir müssen uns immer wieder selbst und gegenseitig erinnern, welche Vorteile FREUNDSCHAFT MIT KINDERN hat und daß wir einfach darauf angewiesen sind, den Krieg mit unseren Kindern zu beenden. Die "Erfolge", die wir unseren Eltern abgeguckt haben, sind die Erfolge einer kriegsführenden Partei. Vielleicht können wir unseren Eltern verzeihen, sie wußten es nicht besser und sie wollten das Beste.

Wenn wir heute für den Frieden mit unseren Kindern sind, denn sollten wir uns verbünden mit uns selbst, mit unseren anderen Kindheitserfahrungen, mit den Gefühlen, die wir als Kind hatten. Jeder Erwachsene, der uns damals seinen Willen aufnötigte (und perverse Dankbarkeit dafür erwartete), er tat uns weh, er zerbrach etwas in uns, er mißachtete uns, er trieb uns in immer neue Schlupfwinkel, er behinderte uns in unseren Grundrechten.

Nehmen wir unsere Wut von damals als Motor und den Schmerz von damals als Treibstoff und die blockierten Bereiche unserer Persönlichkeit als Landkarte auf dem Wege, unseren Kindern heute nicht Gleiches zuzufügen. Beenden wir den Krieg, der in uns selbst tobt zwischen den "erfolgreichen" Erziehern und dem Kind. Verzeihen wir unseren Eltern und entschuldigen wir uns stellvertretend


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für sie bei unseren Kindheitserinnerungen. Erlauben wir uns, altes Leid aufsteigen zu lassen. Jede Träne schmilzt etwas von dem Eis um unsere Herzen. Unser Schluchzen schüttelt uns die Schuppen von den Augen, damit wir sehen, was not tut. Unsere Kinder kennen das Leid und seine Tränen genau wie wir - schon von daher sind wir gleich. Stiften wir Frieden in uns selbst und tragen wir diesen Frieden in die Beziehung zu unseren eigenen Kindern und zu allen Kindern!

c) Verantwortung für uns selbst

Eine weitere Sache gilt es zu beachten: Wir haben gelernt, daß wir unsere Kinder erziehen müssen, natürlich zu ihrem Besten, und daß wir dafür die Verantwortung tragen. Wir haben gelernt, das Kinder unmündig sind, daß wir für sie als unsere Mündel unsere Antworten geben, Verantwortung übernehmen. Wenn wir jetzt etwas tun, was mit diesen Normen nicht mehr übereinstimmt, dann werden in uns schlimme Gefühle hochsteigen. Die alten Erzieher in uns werden uns den Hals mit Angst zuschnüren und uns Schuld und Strafe vorgaukeln: "Das wird aber schlimm enden". Wir werden unsicher sein und uns ausmalen, wie wir von bösen Folgen bedroht würden.

Jetzt sollten wir daran denken, daß wir tun, was seit Urzeiten der Stärkere dem anvertrauten Schwächeren tat: Helfen. Daß wir wie jeher eintreten für das Beste unserer Kinder. Daß wir heute nur anders darüber denken, umgelernt haben und neugelernt haben, wie wir das machen können. Damals meinten wir, Erwachsene sind die Instanz, die zuständig ist für die täglichen Entscheidungen über das Beste des Kindes. Heute sind wir überzeugt, zuständig ist das Kind selbst. Damals konnten wir uns als "natürliches Verhältnis" noch glauben machen (anders wäre es gefährlich gewesen): Mündiger Erwachsener - unmündiges Kind. Heute möchte wir die gleichberechtigte FREUNDSCHAFT MIT KINDERN leben. Damals waren wir für so gut wie alles in Bezug auf unsere Kinder verantwortlich. Heute sind wir für uns verantwortlich und für unser Interesse an den Kindern, aber für Angelegenheiten unserer Kinder nur soweit, wie es das Kind wünscht.

Es gibt besondere Situationen (z.B. Schlafen im Gipsbett), wo wir meinen, dies oder das könne ein Kind nun aber wirklich noch nicht überblicken, und wir müßten das Richtige durchsetzen - auch wenn es nicht die Zustimmung des Kindes findet. Niemand kann uns dabei die Entscheidung abnehmen, zu tun, wozu wir uns verpflichtet fühlen. Die beste Lösung setzen wir durch. Aber wir wissen dabei daß dies immer nur unsere eigene beste Lösung ist - für das Urteil des Kindes über unser Handeln und seine Bewertung der Situation maßen wir uns keine Besserwisserei an. Wir wissen immer nur, was das Beste für uns selbst ist (zum Beispiel gegen unsere Angst und Sorge etwas zu tun). Und wenn wir derartige Entscheidungen treffen, dann mit dem Gefühl "ich kann nicht anders" und mit der Bitte, die ausgeübte Gewalt und unsere Ängste und Schwäche zu verzeihen, nicht aber mit der Forderung, unsere Zwangsß auch noch gutzuheißen.

Damals hatten wir über unsere Kinder zu bestimmen und durften uns zur Belohnung in Übereinstimmung mit der Öffentlichen Meinung fühlen. Der Preis dafür war der Kriegszustand mit unseren Kindern. Heute bestimmen unsere Kinder über sich selbst, gestützt auf unsere Hilfsbereitschaft. Dafür haben wir jetzt zwar das Gefühl, im Gegensatz zur Öffentlichen Meinung zu leben, und das kann Ärger und Angst bringen. Aber wir wissen auch, was wir dafür bekommen: Friedliche Beziehungen und Freundschaft mit Kindern. Und es ist schön, das Gefühl, geliebt zu werden!


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d) Beispiele

Noch eines: Wir sind nicht verantwortungslos. Wir scheuen uns nicht, Autorität anzunehmen oder abzugeben. Unsere Kinder sind uns gleich gültig (nicht aber gleichgültig!). Wir sind der Souveränität und Würde des Kindes gegenüber verantwortungsbewußt. Nicht länger nehmen wir unser Verantwortungsgefühl zum Vorwand für Kriegführen und Einmischen, Fremdbestimmen, Mißachten. Und wir sind engagiert, unseren Kindern ehrliche und hilfsbereite Freunde zu sein.

Zum Beispiel

  • ernähren wir unsere Kinder, weil sie uns um Nahrung anrufen. Und nicht weil wir bestimmen, daß jetzt Essenszeit sei.
  • reißen wir unser Kind vor dem heranbrausenden Auto weg, wie wir dies selbstverständlich mit jedem anderen Menschen tun. Und nicht, weil wir dies als erzieherischen Akt ausgeben.
  • lassen wir unsere Kinder mit anderen zum Zelten fahren, weil sie über ihre Freunde und Freizeitgestaltung selbst bestimmen. Und nicht, weil wir es für besser halten, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen machen und wir dem "Erziehungsziel Selbständigkeit" dienen (unsere Kinder heute sind selbständig).
  • überlassen wir unseren Kindern das Zubettgehen, denn bei der Regelung und Befriedigung ihrer Bedürfnisse (hier das Schlafbedürfnis) haben wir nichts verloren (es sei denn, wir werden um Hilfe gebeten oder unsere eigenen Interessen werden berührt). Und nicht schreiben wir ihnen vor, was wir für angemessen und ihrem Bedürfnis entsprechend halten.
  • erinnern wir unsere Kinder an ihre schulischen Verpflichtungen, um uns oder ihnen mit dieser Hilfe mögliche, vermeidbare Schwierigkeiten zu ersparen. Nicht aber klemmen wir uns dahinter, damit sie tun, was andere von ihnen wollen.


Dies sind einige Beispiele. Wenn die FREUNDSCHAFT MIT KINDERN erst einmal zur Selbstverständlichkeit geworden ist, werden wir keine Beispiele mehr nötig haben ...


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3. Unterstützen statt erziehen - Aktuelles Papier 1982


Vier Jahre sind seit der ersten schriftlichen Darstellung von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN vergangen (s. das vorangegangene Kapitel). Wir merken heute, daß sich den Menschen, die sich die neue Eltern-Kind-Beziehung erschließen, in den Mittelpunkt ihrer Gedanken die Besinnung auf ihr Selbst stellt, wenn sie von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN hören.

Zu Beginn unserer Öffentlichkeitsarbeit gab es einen anderen Schwerpunkt bei den ersten Reaktionen: Es wurde gefragt nach der Verantwortlichkeit, die Erwachsene doch für Kinder hätten, nach Gefahrensituationen, in denen die neue Beziehung nichts taugen könne, nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, die FREUNDSCHAFT MIT KINDERN nicht zuließen. Es wurden hitzige und sehr kontroverse Diskussionen aufgebracht, die uns klar machen sollten, daß es eine Alternative zur Erziehung nicht geben könne.

Derartiges hören wir heute sicher auch noch - aber Stimmen dieser Bedenken sind weniger geworden, theoretischer. Sie kommen kaum mehr von den Menschen, die unsere Informationsveranstaltungen besuchen, die sich zum ersten Mal über unsere Konzeption berichten lassen wollen. Sie kamen gelegentlich von Professoren, die anscheinend in akademischer Einsamkeit den Kontakt zu ihrer Klientel verloren haben, von Erziehungsfanatikern (wie v. Braunmühl sie nennt). Und sicher können wir heute klarer und klärender diese Fragen beantworten und immer mehr Praktisches erwidern.

Heute nun wird bereits in Erstveranstaltungen über FREUNDSCHAFT MIT KINDERN die Aufmerksamkeit rasch konzentriert auf das: Wie bekomme ich die neue Beziehung hin? Es scheint so zu sein, als müsse nicht mehr lange bewiesen werden und Veränderungsangst bewältigt werden - "die neue Beziehung ist schon sehr gut" ist der Tenor der Reaktionen unserer Zuhörer. Nur, sie wissen nicht, wie sie bei sich selbst anfangen sollen, sich zu mögen, sich zu akzeptieren. Grundsätzlich ist den meisten schnell klar, daß dies die Voraussetzung für einen neuen Eltern-Kind-Umgang ist. Und diese Menschen wollen dies gern erreichen.

Unsere Antworten sind heute noch ein mühsames Hin und Her, ein Versuch, den Wind der Liebe die fühlen zu lassen, die mit ihrer verhärteten Haut selbst donnernden Sturm nicht mehr spüren Und so legen wir immer wieder unsere ganze Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und das Feuer unserer Selbstliebe vor ihnen dar, und hoffen, daß sie ein Funken unseres Feuers erreicht und ihr eigenes Feuer wieder entflammen läßt. Dies geschieht oft nur durch konkreten Blickkontakt. Gelegentlich etwas verzweifelt fragen wir uns, ob denn wirklich nur die personale Begegnung der Weg ist, dieses tief in jedem wohnende Wissen in uns selbst und unsere Kraft - die doch wirklich jeder in sich trägt, von Geburt an - den anderen wieder erinnerbar zu machen. Es beruhigt uns dann sehr, wenn wir Briefe, Anrufe und Berichte erhalten, daß auch Menschen unabhängig von uns oder angeregt durch unsere Schriften Ähnliches mit sich erfahren, daß sie über diesen oder jenen Anstoß derselben Richtung (denn inzwischen gibt es ja viele Gleichgesinnte und auch viel hilfreiche Literatur) ebenfalls damit begonnen haben, sich als den Mittelpunkt allen Geschehens zu erleben. Dennoch wissen wir um unsere Einzigartigkeit: Es gibt nicht viele Menschen auf dieser Welt, die Selbstliebe mit


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antipädagogischem Gedankengut leben und propagieren. Dies gibt uns ein Gefühl einmaliger Wichtigkeit. Und wir können dies auch inzwischen leicht annehmen, ohne beschämt zu sein oder uns den Vorwurf der Arroganz anstecken zu müssen: Es ist eben so.

Wir werden gefragt: "Wie macht man das nun, sich selbst zu mögen? Es ist mir klar, das ich meine Kinder nicht zu erziehen brauche. Es ist mir klar, daß ich sie unterstützen kann, auf ihrem selbstentschiedenen Weg. Es ist mir klar, daß ich mich dabei nicht ausnutzen lassen muß. Ja - dies mit der Philosophie ist mir klar. Nur sagt mir bitte, wie ich die Kraft in mir wachsen lassen kann."

Vielleicht müßten auch Sie vor uns sein, im Gespräch, im Feld der feinen unsichtbaren Schwingungen, die Sie erreichen und die Ihnen unsere und so zugleich Ihre Kraft und Selbstliebe offenbaren. Dann würde es Ihnen wie den anderen geschehen können, daß Ihre eigene Kraft und Selbstliebe sich zu regen beginnt, daß diese schwingt trotz des aufgeschichteten Eises von Erziehung und Schuldphilosophie der Patriarchen, und daß sie von nun an nicht mehr aufhört, zu wachsen und Eis zu schmelzen.

So - über das Papier - können wir Ihnen dieses nur sagen. Und vielleicht den einfachen Tip geben, Kontakt zu suchen mit Menschen, die den neuen Weg zu sich selbst bereits gehen - der ja auch der neue Weg zu den anderen, auch den Kindern ist. Wir haben regionale Kontaktpersonen und führen bundesweite emotional-intensive Wochenenden durch, auch Fachtagungen zur Erstinformation (s. unter Kapitel 14).

Für uns selbst gab es wohl Texte, die uns halfen, unsere Kraft wieder zu spüren, wenngleich auch wir nur durch Menschen, vor allem Kinder, die sich selbst liebten, wirklich die Kraft unserer Kindheit wiederfanden. Es waren Bücher wie "Entwicklung der Persönlichkeit" von Carl R.Rogers (Stuttgart 1973) für Hubertus v.Schoenebeck und wie "Die menschliche Seite des Menschen" von Harvey Jackins (Seattle 1964) für Jans-Ekkehard Bonte.

Zeichnet sich eine neue Aufgabe für uns ab? Sollten wir nicht die Thematik "Kind" = "Junge Menschen" abgeben, um alle Energie frei zu haben, die Selbstliebe den anderen wieder wachrufen zu helfen? Beispielsweise wird die ganze Veränderung unseres Schwerpunktes deutlich, wenn bei Erstinteressenten nach dem Namen "FREUNDSCHAFT MIT KINDERN" gefragt wird. Wieso nennt ihr das, was ihr propagiert, ausgerechnet "FREUNDSCHAFT MIT KINDERN"? - Wir antworten dann, daß es ja um drei Arten von Kindern geht: die groß gewordenen, die wir selbst sind und die die Kraft der eigenen Kindheit aus der Verdrängung emporholen wollen, sodann die groß gewordenen Kinder ringsum (die Miterwachsenen) und schließlich die jetzt jungen Menschen. Aber trotzdem bewegt uns die Frage auch, ob wir nicht lieber nur noch von der und für die neue Ich-Beziehung sprechen und arbeiten sollten, denn die Auswirkungen beispielsweise auf die Beziehung zu jungen Menschen ergibt sich dann von selbst.

Dies alles ist für uns heute nicht deutlich zu übersehen. Wir bemerken zwei Tendenzen. Zum einen hat unsere vierjährige Arbeit im Eltern-Kind-Bereich uns eine recht gute Plattform gebracht. Im Bereich der Erwachsenen-Kind-Beziehung (traditionellerweise "Erziehung" genannt) sind wir bekannt als wichtige Alternative, werden unsere Vorstellungen diskutiert und als Tip auch weitergegeben. Es würde das Aufgeben von vielen Kontaktmöglichkeiten und Verbindungen bedeuten, wenn wir uns aus diesem Feld zurückzögen. Daß uns dies auch in gewisser Weise unflexibel macht, wissen wir.


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Zum anderen wird die Dynamik der Selbstliebe immer stärker - aufgenommen und wiedergegeben von denen, die uns besuchen und uns dann rasch fragen nach dem "Wie macht man das, sich zu mögen".

Wir werden sehen, wo es uns hinführen wird. So treten die patriarchalisch geprägten Konturen von Religionen und unserer gesamten Kultur zurück und die dahinterliegenden Inhalte erscheinen in völlig neuem Licht.

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist eine Lebensart, keine Ideologie. Es mögen ja die recht haben, die lehren, daß alle höheren Säugetiere einschließlich des Menschen in einem sinn- und ordnungslosen Universum psychisch nicht überleben könnten. Vielleicht werden darum alle zu irgendwelchen '-isten''. Wir bieten kein neues Weltbild an, keine Wege zur Vollkommenheit, keine Utopie über gute und böse Menschen. Aber, wenn wir schon umgeben sind von den erfundenen Wirklichkeiten der "-isten'', ja, in solchen Rollen leben müssen, wollen wir wenigstens in der Beziehung zu uns selbst und zueinander Bewußtheit zulassen. Da gibt es keine äußere Autorität, die Anspruch auf Autorität erheben kann.

Ob der Schlüssel ein Schloß öffnet oder nicht, sagt nichts über das Schloß, nur etwas über das Passen dieses Schlüssels. "Tatsache" kommt von Tun - die Tatsachen sind unser Wirken zur Erschaffung von Wirklichkeiten. Sie sind die aus den realen Umweltreizen aktiv von uns herausgefilterten Eindrücke, die wir - jeder für sich selbst - zu einem Gewirk, einem Gewebe verknüpfen, sind gefundene, erfundene Wirklichkeiten.

WIR haben uns für Wirklichkeiten entschieden, in denen liebevolle, intelligente Menschen leben. Vielleicht sind darin sogar Intelligenz und Liebe nur unterschiedliche Betrachtungsweisen ein und desselben Zustands. Aus dieser unausmeßbaren unendlichen Liebe und Intelligenz würde sich die unglaubliche Anpassungsfähigkeit der Menschen verstehen lassen. Ja, und selbst wenn Menschenwürde und Selbstbestimmung nur sich selbsterfüllende Erwartungen wären - wir haben uns für eine SOLCHE Wirklichkeit entschieden.

Es ist deutlich, daß das Gedankengut, auf dem FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gründet, heute für uns selbst auch nach außen viel sicherer und viel selbstverständlicher bekundet werden kann als zu Beginn. Damals, 1978, hatten wir noch Gefühle wie Bekennermut und -angst. Heute sind da mehr Gelassenheitsgefühle, die aus der Sicherheit des Selbstverständlichen kommen. Wenn etwa einer auf das Deutsche Kindermanifest (s.unten 7. Kapitel) erschreckt reagiert, dann sehen wir uns an und wissen um die Problematik des Erschreckten: Er mag sich nicht genug, um auch diese Forderungen als selbstverständlichen Ausdruck des Gespanns Selbstliebe - Nächstenwahrnehmen zu können. Unser aktuelles Motto in der Öffentlichkeitsarbeit heißt "Unterstützen statt erziehen" - es spiegelt auch etwas von unserer eigenen Entwicklung. Das Element des Unterstützens erfahren wir selbst stärker als früher in unserer Arbeit: Unsere eigene Sicherheit mit dem neuen Weg und das Wachsen unserer Selbstliebe setzt die Energie frei, die andere dann als hilfreich für sich erfahren.






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