Selbsterkenntnis und Eigensinn


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8.6 Beispiel Kinderrechts-Bewegung

8 Wer antwortet?


Eine solche andere Wahrnehmung für die jungen Menschen, "Kinder", vor allem wenn sie verbunden wird mit Empathie für die eigene Kindheit, führt zuerst zu einem psychodynamischen Prozeß mit neuem Denken zu den alten Empfindungen und das dann kann zu Veränderungen in der konkreten Welt führen. Wie wurde mit mir, als diesem von Geburt an vollwertigen Menschen, und mit meinen Menschenrechten umgegangen? Wie erlebe ich heute in der Hinsicht mich im Umgang mit jungen Menschen? Was kann ich jetzt bei mir verändern und was bedarf des größeren Rahmens, wo ich mich mit meinem Veränderungswunsch eingebunden sehe in strukturelle, gesellschaftliche oder rechtliche Bedingungen?

Meine Entwicklung zu Freundschaft-mit-Kindern erfolgte über meine Erlebnisse durch Re-evaluation Counseling (RC)
[1]. Co-counselling wurde 1957 durch den US-Amerikaner Harvey Jackins gegründet. 1976 ging ich in die RC-Gemeinschaft in Münster. Co-Counseln [2] ist Arbeiten an der persönlichen Entwicklung. Co-Counseln ist - kurz gesagt - eine Technik des konzentrierten Zuhörens. Zwei Partner arbeiten gleichberechtigt in wechselnden Rollen als Klient und als Counseler (Unterstützer) nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Als Klient ist man dabei selbst verantwortlich für den eigenen Prozeß. Der Glaube daran, dass ich mehr bin als ich heute in mancher Situation sein kann, lassen mich an mir arbeiten. Ausgangspunkt des Co-Counselns ist ein positives Menschenbild: Jeder Mensch hat das Potential, liebevoll, kreativ und vernünftig zu sein und in seinem Sinne zu handeln. Er strebt und sehnt sich danach, diese Möglichkeiten immer weiter zu entwickeln und zu nutzen.

Da das RC auch ein sehr politisches Selbstverständnis hat, an feminstischen und marxistischen Theorien anknüpft, treibt es entsprechend die Gründung von Gruppen zur Selbstbefreiung voran
[3]. So kam ich in erlebenden Kontakt mit den verschiedensten Gruppen, die ihre je ganz eigenen Erfahrung von Unterdrückung neu bewerten und neue Handlungsmöglichkeiten und Strategien ausprobieren [4]. Insbesondere konnte ich da meine Rollen als Unterdrückter wie auch als Unterdrücker (z.B. als Kind, Erwachsener, Sohn, Vater, Mann, Weißer) neu bewerten; ich spiele Rollen, doch ich bin ein Mensch - der Mittelpunkt meines Lebens bin ich.

Nachdem einmal unveräußerliche Menschenrechte formuliert waren, begannen mit solchem Prozeß vermutlich alle Zweige der Menschenrechtsbewegung. Es ist schon beeindruckend, daß in allen diesen Bewegungen eine Auseinandersetzung um fast identische Begriffe geführt werden mußte: die "Neger", die "Frauen", die "Kinder" bedürfen der starken Führhand des allein vollwertigen (weißen) Mannes; sie sind zu sehr anders als dieser Mann; sie müssen zu ihrem Besten unter seiner Führung
gehalten werden - und sei es mit Gewalt. Die Kinderrechtsbewegung ist wohl der jüngste Zweig. Deshalb ist das Bewußtsein dafür noch nicht allgemein verbreitet. Die Frauenrechtsbewegung hat eine viel längere Tradition und darum will ich an Beispielen daraus diese Psychodynamik erläutern.

Wir, Hubertus v. Schoenebeck und ich, als wir das erste Freundschaft-mit-Kindern-Papier (FMK) in der Bundesversammlung des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) vorlegten und 1978 den Freundschaft-mit-Kindern-Förderkreis gründeten, hatten zumindest viel gelernt von den Feministinnen in unserem Umfeld. Wir formulierten utopisches Denken, doch beide hatten wir das praktisch bereits zwei Jahre gelebt, er in seiner Schulklasse, ich mit meinen vier Kindern und allen den Kindern im RC. Und als wir nach einer Rundfunksendung über FMK einen Waschkorb voller Hörerbriefe erhielten, überkam uns auch ein Stück Euphorie.

Die lange Tradition der Frauenrechtsbewegung wurde wieder deutlich in einem Gespräch, dass die taz
[5] führte mit der Politologin Claudia von Gélieu über Frauen.

Am 15.05.1908, vor hundert Jahren, fiel das Politikverbot für Frauen nach sechzig Jahren des Kampfes. Nur Deutschland hatte dieses Politikverbot, ein Symptom für die besondere Härte der Diskriminierung hier. Das Reichsvereinsgesetz löste die Ländergesetze ab. Und in diesem war das Verbot nicht mehr enthalten. Es hatte sich als wirkungslos erwiesen.

Frauen hatten im Vormärz kräftig mitgemischt. In Berlin waren Frauen schon ein Jahr vor den Männern auf der Straße. 1847 haben sie die Scheiben des Schlosses eingeworfen und den Rücktritt des Königs gefordert. Die Herrschenden hatten Angst davor, dass sich Frauen und untere Schichten zusammenschließen.

Louise Otto (1819 - 1895, gilt als Protagonistin der "bürgerlichen Frauenbewegung") gründete 1849 eine Frauenzeitung. Für Louise Otto war es selbstverständlich, dass Frauen die gleichen Rechte wie die Männer be-kommen müssten. Die eigene Frauenzeitung war nötig, um den Forderungen der Frauen die Publizität zu verschaffen, die sie sonst nirgends hatten. Bis heute wirft man Feministinnen vor, sie würden die Männer ausgrenzen. Dabei war die autonome Organisation historisch immer eine Reaktion der Frauen darauf, dass sie in der allgemeinen Politik nicht gewollt waren. Diese Debatte "mit oder ohne Männer", die gibt es sei 1848.

Das traditionelle Frauenbild, das ist Propaganda. 90 Prozent der Frauen mussten schon immer ihren Lebensunterhalt verdienen. Allerdings hatten die bürgerlichen Frauen nach dem Politikverbot ihre Aktivitäten als "geistige Mütterlichkeit" getarnt.

Zu den "Antifeministen" und ihren Scheinargumenten schrieb 1902 Hedwig Dohm (1831 - 1919, galt als "radikale Feministin". Forderte früh das Wahlrecht für Frauen und die Abschaffung des Paragrafen 218. Sie führte als Erste die Geschlechterunterschiede auf kulturelle Prägung zurück anstatt auf die Biologie.): "Weil sie sich heimlich ihrer Schwäche bewusst sind, betonen sie bei jeder Gelegenheit ihre Oberhoheit. Wenn die Frau nicht dümmer wäre als sie, wer dann?". Es ist paradox: Man warf den Frauen vor, sich nicht genügend politisch zu betätigen, hinderte sie aber gleichzeitig an eigenständiger Agitation unter den Frauen. Auch muss man sehen: viele Parteien haben Frauen bis zur Einführung des Wahlrechts 1918 gar nicht aufgenommen. Alle Fortschritte für Frauen sind immer über Druck von unten erreicht worden: Das Wahlrecht kam in der Revolution, die Gleichberechtigung im Grundgesetz über eine große öffentliche Kampagne der Frauen, die Quoten in den Parteien kamen durch die Frauenbewegung. Eine Quote ist ein Armutszeugnis für die Gesellschaft, die es nicht schafft, auf anderem Wege Chancengleichheit herzustellen. Wenn der Druck von außen nachlässt, gibt es nicht nur keine weiteren Fortschritte, sondern auch immer wieder Rückschritte.

Es gibt immer eine Frauenbewegung. Allerdings verändert sie ihre Bewegungsformen, und manchmal ist sie stärker als zu anderen Zeiten. Letztendlich geht es ja darum, diese Interessengegensätze aufzuheben und eine menschliche Politik zu entwerfen.

Verena Stefan schrieb 1975 "Häutungen" - ein literarisches Experiment über die zerstörende Macht der Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie gilt heute als Mutter der Frauenliteratur. Sie wurde zum Muttertag 2008 in der taz interviewt
[6]. Die Parallelen zu dem, was wir in jener Zeit durch unser Einlassen auf Kinderrechte erlebten, finde ich immer noch aktuell und berührend. Ich brauche in Verena Stefans Äußerungen nur Frauen/Männer zu ersetzen durch Kinder/Erwachsene und heterosexuell/lesbisch durch Mütter/Bezugspersonen.

In "Häutungen" schrieb sie auch über die Liebe zu Männern. Da heißt es: "Liebe ist eine tausendfache verwechslung von begehrtsein und vergewaltigt werden". Damals hat dieser Satz ins Mark der heterosexuellen Welt getroffen. Was sie damals schrieb, gilt heute wohl noch. Der Gruppenzwang ist enorm, und die Struktur ist offensichtlich. Es geht um die Befriedigung der Jungen, die Mädchen bedienen sie. Die erste Erfahrung, die Mädchen machen, ist oft von einer solchen Machtbeziehung geprägt.

Die Definition, wie die heterosexuelle Welt konstruiert ist, ist gleich geblieben. Die soziologische Pyramide besteht fort: Die Spitze ist weiß, heterosexuell und männlich. Alles andere ist weniger wert. Wenn man zur Frau erklärt wird, wird man zu einem Wesen gemacht, das in die Kategorie "anders" gehört. Deshalb wollte Verena Stefan sich nicht zur "Frau" reduzieren lassen. "Ich wollte ein Mensch sein."

Die taz fragte, Sie sind keine Differenzfeministin, die die Weiblichkeit an sich aufwerten möchte?

Richtig. Damals gab es diese Theorie übrigens noch gar nicht. Alix Dobkin sang 1973 den Ohrwurm "The woman in your life is you". Ich aber wollte nicht in die Kategorie Frau gehören. Ich habe am Schluß von "Häutungen" geschrieben: "Der MENSCH meines lebens bin ich." Das heißt: In der Welt sein. Hinausmarschieren und werden, was man werden will. Nicht eingeschränkt sein. Reisen können, nachts auf der Straße sein können. Wenn man sich zuerst als Frau definiert, dann muß man gegen das Klischee und gegen die Rolle arbeiten. Das wollte ich nicht, ich wollte ein Mensch sein. Die Theoretikerin Monique Wittig sagte: "Ich bin keine Frau". Punkt.

"Ich möchte mit keines mannes verkümmerung gleichberechtigt sein", schrieb Verena Stefan in "Häutungen". Der Gedanke "Wenn alles schiefgeht, kann eine Frau heiraten" ist pures Gift, mentales Gift. Dieser Gedanke schwächt: Man bekommt Anerkennung dafür, dass man sich in einen goldenen Käfig setzt.

Ein Buch wie "Häutungen" gibt es heute nicht mehr. Statt dessen dominieren Ratgeber zur Alltagsbewältigung: "Die weibliche Art, sich durchzusetzen", oder so. Heute hat man dreißig Jahre mit dem Buch gelebt. Diese Ratgeber sind eine Folge jener radikaleren Bücher.

Hatte dieses Denken Heilserwartung? Verena Stefan sagt, hatten wir nicht. Wir hatten ein utopisches Denken, das stimmt. Wir wollten die Welt verändern. In allem. Und nicht nur wir: Das war eine weltweite Bewegung. Das können Sie sich gar nicht mehr vorstellen. Heute gibt es das ganze ökonomische und feministische Wissen. Damals gab es nichts. Plötzlich ging eine Tür auf, und da war ein völlig neues Zimmer mit völlig neuem Wissen. Ein neuer Blick auf die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Geschichte. Wir fanden wieder, was der herrschende Blick alles aussortiert und in den Keller verbannt hat.

Daß eine Frau aufstand und sagte: "Ich bin übrigens anderer Meinung. Ich denke mir das so und so", das war eine Revolution. Und plötzlich gab es ganz viele von diesen Frauen mit so vielen Gedanken. Es war reine Euphorie. Sie sprechen von "Entfremdung": Es war das Gegenteil: Wir haben uns zum ersten Mal "wirklich" gefühlt.

Doch die Machtfrage ist ein strukturelles Problem, auf dem unsere Welt aufgebaut ist, mit der wir aufwachsen wie mit der Luft, die wir atmen. Machtfragen entstehen in allen Beziehungen, auch in lesbischen.

"Liebe zwischen Frauen heilt", haben Sie dennoch in dem nachfolgenden Buch "Mit Füßen und Flügeln" postuliert. Da war sie noch, die Heilserwartung, oder?

Es geht nicht um eine Heilserwartung. Es geht darum, dass wir in einer Art Parallelwelt lebten. Da muß man sich immer wieder versichern, dass man noch da ist, dass man existiert. Und deshalb ist die Bestätigung von anderen Frauen so wichtig: Ja, es gibt dich, und das, was du denkst, ist nachvollziehbar. So würde ich heute diesen Satz übersetzen, "Liebe zwischen Frauen heilt". Es hat mit Verifizieren zu tun: Du spinnst nicht. Du bist nicht verrückt. Was du wahrnimmst, existiert tatsächlich. Mit meinem neuen Buch mache ich übrigens gerade höchst merkwürdige Erfahrungen. Ich treffe auf Literaturkritiker, die sich dunkel an "Häutungen" erinnern und nun denken: "Oho, die ist Feministin, da muß ich mir eine Frauenfrage einfallen lassen." Verstehen Sie, in diesem Verhalten kommt alles, was wir angesprochen haben, wieder zum Vorschein: Eine Feministin ist die Andere, eine Fremde, nicht ein Mensch, mit dem man über alles diskutieren könnte. Die Frauenfrage gehört immer noch nicht selbstverständlich zur Allgemeinheit.

Das hat Sie auch in den Ruch des Differenzfeminismus gebracht.

Von mir aus. Was hat man mir nicht alles vorgeworfen. Ich war auf der Suche nach einer anderen Ikonografie. Es geht um Bildwelten.

Silvia Bovenschen schrieb damals, diese Suche nach Matriarchaten sei ein hoffnungsloses Unterfangen: "Ihre Reiche sind erloschen, ihre Macht reicht nicht herüber."

Da bin ich anderer Meinung. Diese Bilder sind in unserem Unbewußten virulent. Wenn Göttinnenbilder zum Vorschein kommen, hat das einen Einfluß auf uns, es verändert die symbolische Ordnung: Es waren nicht immer nur die drei männlichen Hanseln da, wie etwa im Christentum. Das ist Bestandteil unserer geistigen Rumpelkammer: Es gab Bilder von weiblichen Figuren, die mächtig waren, im Vollbesitz ihrer Macht. Genauso wie es wichtig ist zu sehen: Es gibt Frauen als Staatsoberhäupter. Das ist enorm wichtig, weil es die unbewußte Ikonografie verändert. Vor-Bilder im wahrsten Sinn des Wortes.

Meine Mutter versuchte, mich zu zähmen, was nicht funktioniert hat. Das hatte damit zu tun, dass mein Vater ein deutscher Einwanderer in der Schweiz war. Ich sollte überkompensieren und ein nettes Schweizer Mädchen sein. Ich war aber ein wildes Gör. Sie hat mir ein klassisches Doublebind vermittelt: Du kannst alles werden, du kannst alles machen. Aber so, wie du bist, kann ich dich nicht akzeptieren.

Dieses Resümee einer Feministin war einer der wichtigen Blickwinkel, über den wir Ende der 70er Jahre die Antipägadogik erlebten, diese pädagogische Krankheit des "ich weiß was zu Deinem Besten ist - und werde das auch durchsetzen".

Wie begann die Kinderrechtsbewegung? Die Vereinten Nationen verabschiedeten 1989 die UN-Kinderrechtskonvention, die heute von den meisten Staaten der Erde ratifiziert worden ist. Neben den ohnehin auch für Kinder geltenden Menschenrechten schreibt die Konvention weitere Rechte fest, die vor allem für Kinder gelten sollen: das Recht auf Bildung oder die Entfaltung der Persönlichkeit werden ebenso gefordert wie der Schutz vor Ausbeutung und Gewalt.

Doch die Kinderrechtskonvention ist keine Erfindung der Vereinten Nationen. Sie geht auf die Forderungen der Gründerin von Save the Children, Eglantyne Jebb
[7] zurück. Nach Ausbruch der Hungersnot in Russland 1921 erkannte Eglantyne, dass Hilfe für Kinder langfristig angelegt sein muß. Wenn die Aufmerksamkeit der Menschen nur bei Katastrophen gewonnen werden kann, wie kann man Kinder dann dauerhaft unterstützen? Diese Überlegung führte zur ersten Erklärung der Rechte der Kinder, die Eglantnye 1923 im Save the Children-Magazin "The World's Children" veröffentlichte. Ihrem vehementen Einsatz für die Kinderrechte ist es zu verdanken, dass diese Grundsätze 1924 vom Völkerbund als "Genfer Erklärung" verabschiedet wurden, die Grundlage für die "Erklärung der Rechte der Kinder" der Vereinten Nationen sind. Am 20. November 1989 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention an und schuf endlich eine völkerrechtliche Grundlage für Kinderrechte.

Wie sah das in Deutschland aus?
[8] In den siebziger Jahren entstand in den USA und dann auch in Deutschland eine Bewegung, die sich radikal gegen jede Form von Erziehung wendet: die Antipädagogik. Sie war nicht einfach nur die Negation der Pädagogik, sondern entwickelte eine eigene - außerhalb des pädagogischen Systems stehende - Theorie vom Umgang mit Kindern. Es wird von einem völlig anderem Menschenbild als in der Pädagogik ausgegangen, welches von der Fähigkeit der Kinder ausgeht, von Geburt an selbst zu bestimmen, was das Beste für sie sei. Damit einhergehend werden Forderungen wie etwa rechtliche Gleichstellung von Kindern und Erwachsenen laut, die aus pädagogischer Sicht unvorstellbar wären. Aufgrund dieses grundlegend verschiedenen Selbstverständnisses gibt es bzw. eher gab es teilweise massive und aggressive Anfeindungen und wüste Beschimpfungen gegenüber der Pädagogik und ihrer Vertreter wie auch umgekehrt.

Die verschiedenen Strömungen der Antipädagogik eint jedoch lediglich der Konsens, gegen jeden pädagogischen Einfluß auf Kinder zu sein.

Aus der us-amerikanischen Kinderrechtsbewegung (Childrens Rights Movement) kamen wesentliche Impulse, die die Entwicklung der deutschen Antipädagogik vorantrieben. Die wichtigsten Akteure der in den siebziger Jahren aufgekommenen Kinderrechtsbewegung waren der Psychologe Richard Farson, der Publizist John Holt, sowie die französische Schriftstellerin Christiane Rochefort.

"Die Kinderrechtsbewegung entstand [...] aus der Tradition der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung" (Schoenebeck 1992, S.84), und ging davon aus, "daß die Kinder in gleicher Weise wie andere Bevölkerungsgruppen - Schwarze, Frauen, oder auch die Völker Afrikas, Lateinamerikas und Asiens - dadurch unterdrückt werden, daß ihnen das Recht auf Selbstbestimmung politisch vorenthalten wird." (ebenda). Die Grundannahme ist demzufolge, "daß allen Menschen, gleich welchen Geschlechts, welcher Rasse
und welchen Alters, derselbe Zugang zu den allgemeinen Menschenrechten ermöglicht werden muß." (Klemm 1992, S.12).

Die zentrale Forderung nach Selbstbestimmung der Kinder, zu der sie von Geburt an befähigt sind, bildet das Fundament einer Vielzahl von Forderungen der Kinderrechtler, die John Holt wie folgt zusammenfaßt:

  • Das Recht auf gleiche Behandlung vor dem Gesetz - d.h. das Recht in jeder Situation nicht schlechter behandelt zu werden als Erwachsene.
  • Das Recht, zu wählen und vollen Anteil am politischen Leben nehmen zu können.
  • Das Recht für sein Leben und seine Taten die rechtliche Verantwortung zu tragen.
  • Das Recht, für Geld zu arbeiten.
  • Das Recht auf Privateigentum.
  • Das Recht auf finanzielle Unabhängigkeit und Verantwortung [...]
  • Das Recht sein Lernen selbst zu lenken und zu verwalten.
  • Das Recht zu reisen, außerhalb seines Elternhauses zu leben, sein eigenes Zuhause zu wählen oder zu begründen.
  • Das Recht, zu bekommen, was immer der Staat seinen erwachsenen Bürgern an Minimaleinkommen zusichert.
  • Das Recht, auf den Grundlagen gegenseitiger Übereinstimmung familienartige Beziehungen außerhalb seiner unmittelbaren Familie zu begründen und anzuknüpfen - d.h. das Recht, andere Personen als seine Eltern zum Vormund zu erwählen und sich in ihre Abhängigkeit zu begeben.
  • Das Recht, generell alles zu tun, was jeder Erwachsene im Rahmen der Gesetze tun darf. (Holt, zit. in Klemm 1992, S.154).


Insoweit diese Rechte dann vom Einzelnen genutzt werden, muß dieser selbst entscheiden. Es geht eben nicht darum, dass Kinder beispielsweise arbeiten gehen oder an Wahlen teilnehmen
müssen, sie können es jedoch tun, insofern dies ihr eigener Wille ist.

Der zentrale Beitrag der Kinderrechtsbewegung für die Antipädagogik war die politische und anthropologische Annahme, dass Kinder von Geburt an über sich selbst bestimmen können und die sich daraus ergebende Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Kindern und Erwachsenen

Im Jahr 1982 schreiben Hubertus von Schoenebeck und ich in einem Offenen Brief an Kritiker des Deutschen Kindermanifests u.a.
[9]: "Von der heutigen Gesellschaft aus betrachtet scheinen den Kritikern die Forderungen der Kinderrechtsbewegung teils utopisch, teils gar rückschrittlich.

Ein Beispiel: In Artikel 9 des Deutschen Kindermanifestes
[10] wird gefordert: "Kinder haben das Recht, gegen Entgelt zu arbeiten". War es denn nicht eine historische Errungenschaft, die Kinderarbeit abgeschafft zu haben? Doch wenn wir dann daran dachten, wie viel wir selbst als Kind gearbeitet hatten (was natürlich aus Erwachsenensicht nicht Arbeit genannt wurde, und wir statt dessen bloß für gelegentliche finanzielle Unterstützung durch die Großen dankbar zu sein hatten), relativierte sich diese Errungenschaft schon sehr.

Uns fiel auf, wie scheinheilig diese Gesellschaft mit Rechten verfährt. Kinder waren in Fabriken nicht mehr nötig, weil genügend Arbeitskräfte vorhanden waren, und weil es profitabler war, diese per Schule mehr zu qualifizieren. Also kam ein Jugendschutzgesetz. Die dann ausschließlich in den Blick gerückte Fürsorglichkeit der Erwachsenen - die eben sehr handfeste wirtschaftliche Gründe hatte - macht die Unehrlichkeit aus. Abgesehen davon, dass so genannte private Arbeit z.B. auf Bauernhöfen oder in Handwerksbetrieben davon unberührt blieb.

Heute ist für alle Kinder tagtäglich äußerst fremdbestimmte und mit unendlichem Leid, Ängsten und Demoralisierungen verbundene Zwangsarbeit Realität: Die "Errungenschaft" Schule, deren Zwangscharakter (Schulpflicht, Lernpflicht, Beurteilungszwang) kaum schöngeredet werden kann, ist entgegen Artikel 12 des Grundgesetzes Zwangsarbeit ("Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden").

Die Debatte über Homeschooling in Deutschland liefert deutliche Beispiele. Für eine Familie evangelikalen Christen war ihr Hausunterricht, das Homeschooling so wichtig, dass sie in die USA ausgewandert sind. Ja, sie haben gar, gemäß der Entscheidung eines Immigrations-Richters, politisches Asyl dort gefunden, weil sie in Deutschland wegen ihrer Schulverweigerung verfolgt wurden! Unsere Schulkrise resultiert nicht aus einem bedauerlichen Webfehler, es ist das falsche Konstruktionsprinzip der staatlichen Schule. Diese Schule ist veraltet und in den Denkstrukturen des Obrigkeitsstaates gefangen. Warum sollte der Staat irgendetwas besser machen? Er hat die Schulen im 19. Jahrhundert verstaatlicht und bürokratisiert - aber er hat sie nie demokratisiert und grundlegend modernisiert. Demokratisierung schenkt einem der Staat nicht, die muss man sich erkämpfen - indem die Gesellschaft ihre Schulen sich wieder zurückholt. Wie das geht? Paradoxerweise durch eine Privatisierung oder, schöner, Vergesellschaftung. Indem Kommunen und Reforminitiativen eigene gute Schulen gründen. Und indem die Eltern dem Staat ihre Kinder wegnehmen, solange er sie für seinen Sortierauftrag missbraucht. Eltern sollten mit Fördervereinen die Staatsschule unterwandern, sie in Schulgremien zivilisieren.

Dramatisch ist die Situation behinderter Kinder. Nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Deutschen Bundestag sind die Bundesländer verpflichtet, schrittweise ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln. Davon ist die Konferenz der Kultusminister (KMK) weit entfernt. Die UN-Konvention legt fest, dass behinderte Kinder nur in Ausnahmefällen vom Besuch der allgemeinbildenden Schule abgehalten werden dürfen. Bislang ist das aber die Regel in Deutschland, das ein in Europa einzigartiges getrenntes Sonderschulwesen betreibt, in dem über 400.000 Schüler von Regelschulen ausgeschlossen sind. Ein Rechts-Gutachten dazu stellt fest, "Die staatliche Befugnis, das Kind gegen dessen bzw. gegen den Willen seiner Sorgeberechtigten der Sonderschule zuzuweisen, ist abzuschaffen." Das bezieht sich auf die Praxis in vielen Bundesländern, Kinder auch gegen den Willen der Eltern begutachten zu lassen - und anschließend diese Kinder in Sonderschulen einweisen zu lassen. Untersuchungen des Erziehungswissenschaftlers Hans Wocken haben aber gezeigt, dass in Sonderschulen oft "pädagogische Friedhofsruhe herrscht". Statistisch ist es höchst unwahrscheinlich, aus Sonderschulen wieder auszubrechen.



Das Deutsche Kindermanifest hat einen anderen Ausgangspunkt. Es geht davon aus, dass Menschen Erwachsene werden können, die nicht durch Erziehung deformiert werden und die daher ein Leben lang in der Lage sind, ihre Möglichkeiten und auch Risiken rational zu betrachten und entsprechend zu handeln. Diese Menschen werden keinen Schutz suchen, sondern Ungerechtigkeiten abbauen wollen - das heißt, dass ein Staat, der auf der Angst zahlloser Generationen begründet ist (wie dies auch für unsere adultistische Ordnung gilt), sich vor ihnen schützen will.

Wie weit dieses Schutzbedürfnis (der adultistischen Erwachsenenwelt vor den selbstbestimmten Kindern) geht, verdeutlichte uns ein Jugendrechtsexperte stellvertretend für viele. Er verteufelte das Deutsche Kindermanifest wegen seines Artikels 3 ("Kinder haben das Recht, für ihr Leben und für ihre Taten die rechtliche Verantwortung zu übernehmen"), denn er hielt es als Fachmann - nämlich Jugend(straf)richter - für unverantwortlich, Kinder noch früher in Kontakt mit dem Strafrecht treten zu lassen. Hierbei übersah er zum einen, dass die Artikel des Deutschen Kindermanifestes die Kinder nicht verpflichten, dies oder jenes zu tun. Das heißt, ein Kind
muß nicht die rechtliche Verantwortung für sein Leben und Tun übernehmen - aber es kann dies, wenn es selbst so entscheidet. Und anzunehmen, Kinder würden dabei die Pflichten und Sanktionen, die unsere Gesellschaft für alle die parat hält, die Vollbürger sind, außer acht lassen oder unkorrekt bewerten, ist typische erwachsenenzentrierte Denkweise.

Solche "typische erwachsenenzentrierte Denkweise" erkennen die Anarcha-Feministinnen
[11] als die typisch männliche.

"... Es ist die Sache der Unterdrücker, die Dynamik ihrer Unterdrückungsmethoden zu kapieren und nicht Sache der Unterdrückten, ihnen das beizubringen.

In allen heutigen Gesellschaften wird vom Mann als Orientierung ausgegangen. Die Frau gilt als Anhängsel, hat in der Regel nicht mal in ihren geschlechtsspezifisch zugewiesenen Räumen eine Autorität. Selbst über ihren Körper soll verfügt werden.

In dieser Gesellschaft sind Kids Stammhalter, Dressur-, Prestige- und Aggressionsobjekte. Ein/e kleine/r Klassenkämpfer/in?

Projizieren nicht wir Verwaxenen Wünsche und Hoffnungen, aber auch Ziele in das Kind? Wollen wir nicht alles besser machen als Papa und Mama? Einsamkeit? Eine Aufgabe?

Das Kind wird schon sofort nach der Geburt in einen, wenn auch autonomen Käfig gesperrt. "Wir behaupten daher, daß die Kategorisierung (z.B. Alte, Kranke, Behinderte, Ausländer, Kinder) zur Aussonderung von bestimmten Lebensbereichen führt, die das "Kind" z.B. in Normen zwingt, die nicht die eigenen sind!"

Aus "wahren Anarchist/inn/en" werden kriegerische Verwaxene. Der Kampf gegen die Kinder ist grausam, wir Verwaxene sitzen immer am längeren Hebel. Ein Grafitti dazu: "Die eltern sollst Du ehren und achten, aber wenn sie dich quälen, sollst Du sie schlachten!"

Die geschlechtsspezifische Erziehung beginnt bei der Geburt. Mütter, die "bestenfalls wegen der anerzogenen Fähigkeiten besonders qualifiziert ist (sind) für die Kindererziehung" (U. Scheu "Wir werden nicht als Mädchen geboren", Ffm 1983, S. 72), üben ihr (unbewußtes) patriarchales Handwerk ab der Geburt aus.

Mütter nehmen ihre drei Wochen alten Jungen im Durchschnitt 27 Minuten länger aus dem Bett und in den Arm. Sinnesreize werden in den ersten Monaten durch die Haut aufgenommen. Hier werden also Tastsinn und Bewegungsempfindungen der Mädchen schon geringer "gefördert". Diese geringere Stimulanz wirkt sich auf die Lebhaftigkeit aus. Mädchen sind eher passiv. Auch wird den Jungen beim Stillen ein eigener Rhythmus zugestanden. Mädchen werden zur Schnelligkeit angehalten. Im Alter von zwei Monaten dauert die Stillzeit bei
Jungen 20 (!) Minuten länger. Der Beginn der Sauberkeitserziehung beginnt bei Mädchen im 5. Monat, bei Jungen drei Monate später. Dies reicht als Einblick. Hieran wird deutlich, wie tief patriarchale Erziehung sitzt. Es ist ein wichtiger Bruchteil der Sozialisation.

"... nichts nötiger brauchen als eine Mutter und nur eine, die alles das wieder gut machen kann, die Schutz und Sicherheit gibt, durch die alle schlechte Erfahrungen kompensiert werden können." (Swing Nr. 14). Hieran wird unserer Meinung nach schon vieles deutlich. Was früher rausgeprügelt wurde, wird heute weggeliebt. Die Wirkung ist genauso qualvoll, hierarchisch und entmutigend. Kids sind doof, verstehen nichts und können Erlebnisse nicht verarbeiten. Mütter müssen ihre Kids erziehen, ist dann eine liebevolle, verständliche und hoffnungsvolle Konsequenz.

Wir fragen uns häufig, warum die Bevölkerung so "führer/in/hörig" ist, warum so wenig Selbstverantwortung, Selbstbewußtsein, aber auch soviel Konsumdenken und soviel Bequemlichkeit (enger Horizont) da sind. Einer, wenn nicht sogar der wichtigste Punkt, ist die Erziehung. Als Kids wird uns gelehrt, Autoritäten zu gehorchen, da sie immer Recht haben. Selbst wenn's anders sein soll, gilt dies. Die Gefühle, die Gegenbeweise zählen erst einmal nicht. So nach dem Motto "ich weiß besser, was gut und richtig ist". Hieraus entsteht logischerweise eine Verwirrung des "kleinen" eigenen Inneren. Mit der Zeit wird aus dem Selbstbewußtsein, aus dem tiefen Ich ein Schlachtfeld. Orientierungslosigkeit und Vereinsamung (verstärkt durch Kleinfamilie und Wohnisolation) führen zum Blick auf "Führer/innen", auf Leute, die den Durchblick haben, die anbieten, meine äußerlichen Widersprüche (Wohnung, Arbeit, Kohle) zu lösen, und wo wir hoffen, damit auch das Innere zu klären. Die Verantwortung für mich tragen die Autoritäten, denn die wissen ja besser Bescheid. Dies lernen wir von Kind auf. Nicht meine Entscheidung als Kind ist wichtig, sondern was der/die Verwaxene will; nicht was ich tue, ist wichtig, sondern wie es die Großen bewerten; nicht das, was ich mache, ist wichtig, sondern ob der/die Herrscher/in dies gut findet. Belohnung und Bestrafung. Die Grenzen des Erlaubten können auch unendlich sein (antiautoritär), aber dann lerne ich, daß die Großen sich nicht ernst nehmen, sich quälen lassen von mir als Gör etc.

H. Giesecke erkannte 1969, noch als Erzieher: Erziehung beinhaltet immer ein Gewaltverhältnis von Menschen über Menschen...". "Ich weiß besser, was für dich gut ist" Leitspruch des Imperialismus, des Patriarchats, des (Staats-) Kapitalismus und jeden Staates - Leitspruch der Erziehung.

Es ist konsequent, daß Erzogene in der Regel später selbst erziehen. Dies in Kürze. Es ist hoffentlich deutlich geworden, was Erziehung ist - Mord am Lebendigen!

Ähnliches gilt für die Pädagogik. Früher Kinder- und Knabenführung, heute die wissenschaftliche Absicherung von Kontrolle und Dressur. Sie umfaßt Erziehung und Bildung, Philosophie davon und ihre Geschichte. (Das letzte ist immer gut, sehen wir doch, wie weit wir heute sind!) Pädagogik ist der Versuch, Vorgänge zwischen Männern und Frauen zu versachlichen, Kriterien und Antworten zu finden. Sie ist Profilierungsfeld der Erwaxenen auf den Körpern ihrer Kids (Versuchskarnickel!). Ihre Grundlage ist eine zu formende Noch-Unperson - das Neugeborene!

Die Alternative zu den großen Pädagogik-Strömungen dienen der weiteren Herrschaftsabsicherung und sind Ausdruck der bürgerlichen Gesellinschaftsströmungen. Sie möchten sich ja auch ausleben, und nach 20/30 Jahren Unterdrückung möchte ja auch ein/e Grüne/r ein bißl mächtig sein.

Aber auch ein Großteil der Antipädagogikvertreter/innen sind inkonsequent. Ihr reduzierter Blick auf Nicht-Erziehung von Kids ist eine verlogene und meist defensive Inselmentaltität.

Eine konsequent anti-pädagogische und gesamtgesellinschaftliche offensive Herangehensweise mit einer libertären Perspektive (Schule und Entschulung, Unis, Lebensisolation, Kinderselbstbestimmung, "Rechte" etc.) ist eine individuelle Veränderungsmöglichkeit, aber auch ein Kampf der Unterdrückten gegen die Herrschaft. Die Praktizierung/Umsetzung ist heute möglich! Die Auflösung der Hierarchien Kinder, Alten, Behinderte etc. ist ein wesentlicher Punkt.

Und was finden wir in den Institutionen? Vom Kindergarten über Schule, Ausbildung bis Uni, Büros und Betrieben wird unterdrückt. Aus mutigen kleinen Rebell/inn/en werden angepaßte Erzieher/innen oder sie fallen unter den konsumgesellinschaftlichen Tisch. Wenigen gelingt es, ihr Selbstbewußtsein und ihre Gefühlswelt zu bewahren (unsere Autonomie ist meistens nur eine Verneinung unserer Eltern, der Erziehung und Schule und die bekämpfen wir oft in Form von Bullen auf der Straße). Innerinstitutionelle Konkurrenz, Bewertungen, Zwänge bauen ein Heer von Masken auf. Wir sollen oft zu Objekten einer sadistischen Einpressung in die so gehaßte Ellenbogengesellschaft werden.

"Wir brauchen keinen Streß, keine Gehirnwäsche, keine Lebens- und keine (Welt-)Muster, sondern lernen die Sachen, die wir wissen wollen von unseren Freunden, mit denen wir freiwillig zusammenleben" (Indianerkommune Nürnberg, Flugi 10/87).

Der Pädagogikbereich und deren Institutionen (dazu gehört auch die Lehre oder Erziehung zu sozialer Kontroll-Blockwart/wärtin-Mentalität) haben sich kaum verändert. Daß z.B. die Sozis jetzt getrenntgeschlechtliche Schulklassen wegen der Chancengleichheit befürworten, ist Klitterung. Es geht weiterhin um die maximale Ausbeutung menschlicher Ressourcen.

Institutionelle Veränderungen (die ihnen eigene Struktur und Bürokratie und die von vermittelten Inhalten) sind fast unmöglich und nur mit einer Masse Leute zu bewirken. Hier ist es einfacher, gleich den Überbau zu kippen, um gemeinsam die diskutierten und ausprobierten eigenen Sachen aufzubauen. Denn Institutionen schaffen durch staatliche Vorschriften und Wert- und Normenvorstellungen auf Dauer Zwänge und Erwartungen, was in der Regel zur Distanzierung, Ängsten, Konservierung, Sicherheitsdenken, Machtansprüche etc. führt.

Klemm faßt den Stand 1992 zusammen
[12].

Es gibt in der pädagogischen Diskussion seit den 70er Jahren in der BRD wohl keine Ideen und Konzepte, die die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung, sprich: Pädagogik, mehr herausgefordert, provoziert und in Frage gestellt haben, wie die Antipädagogik und Kinderrechtsbewegung.

Entgegen den späten 70er und frühen 80er Jahren, ist es derzeit jedoch eher ruhig in der Auseinandersetzung "Antipädagogik contra Pädagogik" geworden. Es scheint, als ob die "Sturm und Drang-Jahre" dieser Diskussion vorüber sind und der pädagogische Alltag mit mehr "Mut zu Erziehung" wieder die Diskussion prägt:

  • Die (akademische) Erziehungswissenschaft hat Anfang der 80er Jahre ihre Pflicht- und Panikauseinandersetzung geführt und kann sich nun wieder der traditionellen und in gewohnten Bahnen bewegenden (akademischen) Erziehungsdiskussion zuwenden;
  • Der ehemalige zentrale Mentor der Antipädagogik, Ekkehard von Braunmühl - teilweise aber auch Alice Miller, was die Bedeutung der Psychoanalyse für die Antipädagogik betrifft - hat sich seit Mitte der 80er Jahre aus der Diskussion zurückgezogen bzw. vertritt neue Thesen;
  • die Zeiten von spektakulären Einzelaktionen wie die öffentliche Zeugnisverbrennung (1980), die medienwirksame Proklamation des "Deutschen Kindermanifests" (1980) oder des "Kinder-Doppelbeschlusses" (1984) scheinen vorbei zu ein;
  • die antipädagogische "Bestseller-Publizistik" von Autoren wie Ekkehard von Braunmühl oder Alice Millers gehört der Vergangenheit an. Bestseller-Auflagen erreichen dagegen derzeit Bücher wie die von der Kinderpsychologin Jirina Prekop mit ihrem Elternratgeber "Der kleine Tyrann" (14 Auflagen der Hardcoverausgabe mit einer Auflagenhöhe von weit über 100.000 Exemplaren im Zeitraum von 1988 bis 1991; seitdem als Taschenbuchausgabe mit ebenfalls mehreren Auflagen seit 1991).


Und trotzdem hat die Antipädagogik einen "Stachel im Fleisch" der Pädagogik hinterlassen, der heute spürbar ist und auch an Bedeutung gewinnt:

  • Es gibt heute immer mehr Einrichtungen der Erwachsenenbildung (z. B. Volkshochschulen), die sich in Vorträgen und Seminaren der erziehungsfreien Lebensführung widmen und damit einem immer größer werdenden Interesse an erziehungskritischen Fragestellungen nachkommen;
  • an Universitäten ist ein zunehmendes Interesse seitens der Studenten am Konzept der Antipädagogik auszumachen und zeigt sich beispielsweise in Einladungen von Antipädagogen zu Gastvorträgen und in entsprechenden Examensarbeiten;
  • die heute in Gestalt des Münsteraner Förderkreises "Freundschaft mit Kindern" mit Hubertus von Schoenebeck institutionalisierte Antipädagogikbewegung weitet ihr Seminar- und Beratungsprogramm ständig aus, führt bereits im Ausland Öffentlichkeitsarbeit für eine erziehungsfreie Lebensführung durch (z. B. in Polen, Holland, Schweiz) und gründete die ersten erziehungsfreien Lebensgemeinschaften, in denen Antipädagogik als umfassendes "Lebensprinzip" umgesetzt wird;
  • trotz aller gegenläufiger Tendenz sind Teile der akademischen ErziehungswissenschaftlerInnen seit der Antipädagogikdebatte sensibel für eine neue, radikale und grundlegende Erziehungs- und Pädagogikkritik geworden und führen bis heute eine mehr oder weniger intensive öffentliche Diskussion darüber (z. B. Heinrich Kupffer, Hermann Giesecke, Wolfgang Hinte, Freerk Huisken).


Diese zwei Aspekte prägen heute, nach ca. 20 Jahren Kinderrechtsbewegung (in den USA) und Antipädagogikdebatte (in der BRD seit 1975), den Stand der Auseinandersetzung. Das heißt: Weder "vom Ende der Erziehung" noch vom "Ende der Antipädagogik" kann heute gesprochen werden. Eine Tendenz wird jedoch immer deutlicher: In dem Maße, wie die gesellschaftliche und politische Entwicklung die heutige Wissenschaft vor neue Aufgaben, Erklärungen und Lösungen stellt und diese einklagt, in dem Maße täte die Pädagogik gut daran, "heilige Kühe" zu schlachten, wenn sie weiterhin daran interessiert ist, öffentliche Legitimation zu erlangen. Pädagogik und Erziehungswissenschaft sind ein hoch subventioniertes Konstrukt, von dem behauptet wird, das es einen wichtigen gesellschaftlichen Nutzen erfüllt. Jedoch: Ist die Welt seit der "Erfindung der modernen Pädagogik" vor etwa 400 Jahren besser, gerechter und lebenswerter geworden? Das Problem der heutigen Pädagogik ist vor allem eine Legitimationskrise im Zeitalter der "Postmoderne". Es muß heute mehr denn je die Frage gestellt werden, ob Pädagogik in der Lage ist, die an sie gestellten Aufgaben mit dem traditionellen Instrumentarium und den klassischen Werten lösen zu können.

Pädagogik hat eine Verpflichtung übernommen und trägt das Banner des Edlen, Guten und Wahren stets und gerne vor sich her, um sich zu rechtfertigen. Die Pädagogik und die PädagogInnen legitimieren sich mit gesellschaftlicher Verantwortung und entsprechend muß diese Verantwortung auch ständig überprüft werden. Die Pädagogik kann sich momentan jedoch immer weniger hinter einer Ideologie (Scheintheorie) oder einen Beamteneid zurückziehen - sie wird von der Öffentlichkeit zunehmend in die Pflicht genommen und gerät unter Legitimationsdruck.

In diesem Sinne könnte die Antipädagogik mehr sein als "nur" eine Herausforderung an die Pädagogik: Sie wird zum notwendigen Bestandteil pädagogischen Denkens und Handelns, um Bildung und Erziehung vor den gröbsten Fehlern zu bewahren. Die Pädagogik selbst - dies lehrt die Geschichte - kann dies aus eigener Kraft nur selten erfüllen. Das heißt: Antipädagogik als kritische Instanz und Praxis wird maßgeblich zum Überleben der Pädagogik im Zeitalter der "Postmoderne" beitragen können, gewollt oder nicht, bewußt oder unbewußt. So stellt sich nach "20 Jahren Antipädagogik" in erster Linie die Frage, wie der erziehungsfreie Impuls gesellschaftlich umgesetzt werden kann, welche Praxis aus der Theorie folgt. Der Streit um die Theorie und Semantik, der vor allem publizistisch ausgetragen wurde, ist heute sinnlos geworden. Die Praxis muß überzeugen - und hier tun sich sowohl PädagogInnen als auch AntipädagogInnen nach wie vor schwer. ..."

Auch im juristischen Denken, der Gesetzgebung und Justiz hat Kinderrechtsbewegung ihre Spuren gesetzt
[13].

Die gesellschaftliche Etablierung des Kindes und seiner Anerkennung als Subjekt führte auch im Familienrecht zu entsprechenden Veränderungen. War das Wort "Kindeswille" bis in die 60er Jahre kaum bekannt und ein Kind bis zur Reform der Freiwilligen Gerichtsbarkeit im Jahr 1980 mehr oder weniger Objekt oder Verfügungsmasse des familiengerichtlichen Verfahrens, ähnlich dem Hausrat oder Zugewinn (Eherechtsreform von 1977), so wurde es nun zum Subjekt erklärt, dem es nicht unbedeutend zukäme, die Weichen für sein weiteres Leben zu stellen.

"... Angesichts dieser ... Situation kam der im Jahre 1989 in Kraft getretene § 50b FGG (Freiwillige Gerichtsbarkeit) gerade gelegen. Denn danach soll der Wille des Kindes berücksichtigt werden, welchen Elternteil das Kind gegenüber dem anderen bevorzuge. Jetzt mußte der "bessere" Elternteil nicht mehr diagnostiziert werden, weil ja das Kind mit seiner Willensäußerung dadurch entschied. Seither wurden Kinder von berufenen und weniger berufenen Experten oft insistierend aufgefordert, doch nun endlich zu sagen, zu welchem Elternteil die denn gehen wollen. Und, um so mehr der Fragende insistiert, um so mehr gibt das Kind eine Antwort, meist eine, die der Fragende hören will, was Kinder meisterhaft spüren, um die lästige Fragerei loszuwerden, noch dazu nichts ahnend, damit eine das ganze Leben überschattende Entscheidung über ihre familiären Beziehungen getroffen zu haben. Während drinnen der Fragende mit sich selbst zufrieden ist, endlich Klarheit geschaffen zu haben, wird draußen dem Kind siedend heiß klar, sich mit seiner Aussage für den einen Elternteil zugleich gegen den anderen Elternteil ausgesprochen zu haben." (Wolfgang Klenner: "Essay über die Emanzipation des Kindes im Familienrechtsverfahren"; In: "Kindschaftsrecht und Jugendhilfe"; 2006, Heft 1, S. 9).

Dem sogenannten Kindeswillen wird im Zusammenhang mit familiengerichtlichen Verfahren und nirgends sonst, landauf landab von Tausenden von Sozialpädagogen, Diplom-Psychologen und Familienrichtern in mitunter irrational anmutender Weise eine mitunter schon religiös anmutende Ehrerbietung gezeigt, grad so wie gläubige Lamaisten seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, der sich stets erneuernden Inkarnation eines Bodhisattwa (selbst wenn dieser nur drei Jahre alt ist) ihre uneingeschränkte Ehrerbietung erweisen.

Eine der historischen Wurzeln der Idealisierung des Kindes liegt sicher schon im Christentum mit der Anbetung des Jesuskindes, des jungfräulich geborenen Sohnes Marias und des per Fernzeugung etwas außerhalb der Mutter-Kind-Dyade stehenden Josefs begründet. Diese christlich mythologische Linie scheint sich bis in die heutigen Tage auch beim Bundesgerichtshof und am Bundesverfassungsgericht zu halten. Das mag uns Einblicke über die Weltanschauung der betreffenden Bundesrichter geben, zeitgemäß ist es indes nicht.

Während in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch kaum ein Mensch von einem "Kindeswillen" sprach, gehörte es - sicherlich beeinflußt von den allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen - ab den sechziger Jahren immer mehr zum guten Ton, dem "Kindeswillen" eine stärkere und zunehmend sakrosankt werdende Bedeutung im familiengerichtlichen Verfahren einzuräumen.

Was als Emanzipation des Kindes zu begrüßen war, endete schließlich, von Erwachsenen instrumentalisiert, als vermeintlicher "Triumph des Kindeswillen" in dem größten Elternausgrenzungsprogramm der Nachkriegszeit Deutschlands.

Der "Kindeswille" - aber nur dann, wenn er denn in das eigene Konzept paßte - wurde zum Vetorecht des betreuenden Elternteiles gegen vom anderen Elternteil beantragte Regelungen zum Umgangsrecht oder zum Aufenthalt des Kindes. Das alles sollte angeblich dem Kindeswohl dienen, die entsprechenden psychologisch gefärbten Argumentationen von Lempp und Kollegen traute sich offenbar kaum einer zu widersprechen. Das Gros der Fachkräfte zog es vor, im neuen Mainstream mitzuschwimmen, ein Verhalten, was aus totalitären Systemen bestens bekannt ist.

Die Kinderrechtsbewegung hat, völlig zu Recht, das Kind als eigenes Rechtssubjekt benannt und aus dem Status eines "noch nicht vollständigen Menschen" befreit. Die Rechte der Kinder haben richtigerweise in der UN-Konvention über die Rechte der Kinder ihren Niederschlag gefunden, wenn auch die Bundesregierung derzeit noch verschiedene Vorbehaltsklauseln dagegen hinterlegt hat.

Doch, "Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage", wie Goethe sagt. In der Hochphase der antiautoritären Erziehung (z.B. bei Alexander Sutherland Neill) und noch ausgeprägter der Antipädagogik (z.B. bei Ekkehard von Braunmühl) erlangte der Wille des Kindes Kultstatus und dessen Befolgung wurde als generell positiv und förderlich für die Entwicklung des Kindes postuliert. Bei allem historischen Verdienst der antiautoritären Erziehung und im stärker eingeschränkten Maße bei der Antipädagogik, steht hinter dem Versuch, dem Kind eine alleinige Verantwortung zuzuschreiben, die Weigerung von Erwachsenen, Verantwortung für ihr eigenes Kind oder für ein ihnen anvertrautes Kind zu übernehmen.

Neben einer historisch zu verstehenden Entwicklung kommt ein Phänomen bei Helfern hinzu. Man könnte dies unter dem Begriff Helfersyndrom subsumieren. Der Helfer projiziert eigene Gefühle auf das Kind. Ist der Helfer noch sehr stark in eigene persönliche Konflikte verstrickt, dies ist leider bei Helfern in der Trennungs- und Scheidungsszene oft der Fall, so werden eigene Positionen, Verletzungen, Traumatisierungen auf das Kind projiziert, welches den Konflikt des Helfers stellvertretend erlösen soll. Stimmt der geäußerte Wille des Kindes mit dem inneren Bild des Helfers überein, so wird dem Kindeswillen eine absolute Wahrheit zugeordnet. Ist dies nicht der Fall, so wird der Kindeswille bagatellisiert.

Mit der Überbetonung des "Kindeswillen" in wichtigen ein Kind betreffenden Fragen delegieren Erwachsene, Eltern wie Fachkräfte, ihre eigene Verantwortung an das Kind. Sie stehen damit zum Kind in einer Art Geschwisterposition, in der sie sich selbst zum jüngeren und damit weniger entscheidungsfähigeren Geschwisterkind halluzinieren. Oder noch schlimmer, das Kind wird von den tatsächlich Erwachsenen in die Rolle eines Erwachsenen gedrängt, dem die Pflicht obliege, den tatsächlichen Eltern zu sagen, wo es von nun an lang gehen soll. ..."

Und noch aus einer ganz anderen Richtung bekommt das Pendeln der Beziehungsmöglichkeiten zwischen den jungen und den erwachsenen Menschen Schwung
[14]. Mother-Watching oder Helicopter-parenting - so lauten zwei neue Begriffe aus der Pädagogik. Eltern überwachen immer stärker ihre Kinder, kreisen wie Hubschrauber über ihren Köpfen, ständig verbunden durch die "längste Nabelschur der Welt", das Handy - oftmals mit Überwachungssendern. Bald wird es im Körper implantierte Chips dafür geben.

Vor 30 Jahren war die Anzahl der Gewaltdelikte gegen Kinder doppelt so hoch wie heute, doch Kinder durften damals durchaus draußen spielen, heimlich in Abbruchhäusern, bauten Buden im Wald, streunten durch den Stadtpark oder fuhren Rad, 10 oder 15 Kilometer zum Badesee. Heute darf nur eins von acht Kindern in England selbstständig in die Schule gehen.

Wissenschaftler sprechen von "Elternhysterie" und "Elternparanoia", also der übersteigerten Angst bis hin zu hysterischen Anwandlungen.

Die meisten Eltern wollen ihre Kinder zu selbstständigen Persönlichkeiten erziehen. Gut so! Komisch nur: Bloß nicht heute! Da stürzt eine Mutter hysterisch zu ihrem Dreijährigen, der eine sichtbar feste Leiter erklimmen will und reißt ihn weg. Was lernt das Kind durch solch eine Mutter: Ich bin zu blöd, ich darf nichts ausprobieren, ich darf aus meinen eigenen Fehlern nicht lernen, nicht meine Kräfte und Grenzen erproben und darf nicht stolz auf mein eigenes Tun sein.

Wollen wir dies der nächsten Generation als Grundgefühl einimpfen: Furcht, Ängste, Bedrohungsphantasien? Mutig dagegen werden Kinder nur durch erprobten Mut, überwundene Ängste und Risiken, durchlittene Furcht. Und ihren Stolz auf sich selbst!



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