Selbsterkenntnis und Eigensinn


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7.4 Erinnerungen

7 Wo und was ist Ich?


Beim Bilden des Körpers habe ich, für diesen Erdengang nützlicherweise, vieles vom Früheren erstmal vergessen, zumindest für mein Alltagsbewußtsein unerreichbar gemacht, aber dafür neue, temporäre Datenspeicher eingerichtet, die Sekunde für Sekunde alles aufzeichnen: Den Input von meinen Sinnes- und Körperorganen, den Output von meinem Fühlen und den Gefühlen, von meinem Denken und den Gedanken, von den Entscheidungen dazu sowie den ganzen Rest. Der Inhalt dieser Datenspeicher liegt in Gänze offen vor mir in der Stunde meines Todes, wenn ich die Summe über dies Leben ziehe. Viele Menschen haben das aus Nahtod-Erfahrungen berichtet. Ich selbst habe ähnliches bei einem Unfall als Jugendlicher erlebt.

Diese Speicher stehen mir lebenslang zur Verfügung, wenn auch meist nur unter Schwierigkeiten, weil ich im Streß nicht sauber die Parallelität von Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Entscheiden beim Speichern mitführen konnte. Will ich etwas ins Bewußtsein heben, muß ich also besondere Techniken anwenden oder umständlich gleichzeitig in allen Speichern suchen. Dabei begegne ich auch altem Schmerz und der alten Angst und Wut.

Denn ich will lernen. Ich komme hierher nicht als Tourist, in einen Safaripark, mit Rücktrittsgarantie und Auslandsreiseversicherung. Nein, volles Risiko; die Löwen hier sind nicht virtuell. Die Möglichkeit, daß von mir nur noch ein Kehrblech voller Löwenkot nach Hause geschickt werden könnte, ist immer vorhanden.

Mag die Geistige Welt meine vollständige Einheit erkennen, ich habe das meiste vergessen. Ich ahne mich als Ganzheit in größerer Ganzheit, als Organismus - Leib und zugleich unauflöslich, unabtrennbar, unbegrenztes Wellenpaket, unsichtbare Landschaft. Ich ahne meinen physischen Körper und zugleich diesen durchdrungen, umgeben von verschiedenen feineren, die jeder ein Weiteres von mir verkörpern.

Manchmal setze ich leibhaftig etwas davon bewußt ein. Manchmal erfahre ich dann an den Wirkungen ihr und mein Vorhandensein. Auch meine Gedanken und Gefühle erzeuge ich zu handelnden Formen; zu kräftigen oder blassen, je nach meiner Stärke oder Schwäche in dem Moment des Handelns. An den Wirkungen erfahre ich deren und mein Vorhandensein. Manche nennen das Schicksal.

Wer sich im Opfer-Weltbild eingerichtet hat, dem scheint dies ein Leiden zu sein, das immer als aktuell gilt: dem Leiden an der scheinbaren Willkür existentieller Zwänge, die immer erst ein selektiver Blick zu einem Schicksal adelt. Die Tragik besteht hier gewissermaßen darin, daß das Schicksals-Opfer auf diesem filternden Blick besteht, aus dem lähmenden Gefühl, wonach eine Entscheidung für etwas auch immer eine Entscheidung gegen vieles bedeutet.

Wer sich in einem Weltbild als Handelnder eingerichtet hat, der erlebt Neues. Denn so wie jeder lebendige Gedanke von mir in die Welt geschickt wurde, so kommt er lebendig zu mir zurück. Wie beim Bumerang werfen können Winzigkeiten große Folgen bewirken. All das ist veränderlich, fließend. Denn alle Energie ist in ewiger Bewegung. Vielfalt, sich im Gegenüber erkennend. Grundsätzliche Richtung: Hin zur AllEinheit.

So hingeschrieben, klingt das einfach. Die andere, platt-praktische Seite darf man nicht dabei übersehen, die Wirkung unserer unbewußten Erinnerungen. So haben wir Deutschen zwei Weltkriege überlebt. Was steckt uns, persönlich wie auch kollektiv, davon unbewußt in den Knochen? Die Zeit heilt alle Wunden, heißt ein deutsches Sprichwort. Wie viel Zeit braucht es denn, um Wunden der Seele zu heilen? 60 Jahre sind manchmal nicht genug. Das Leben vieler Kinder des 2. Weltkrieges ist noch heute geprägt von ihren Kriegserlebnissen - oft ohne, daß sie davon wissen.
Die Folgen von Extrembelastungen - seien es Krieg, Gewalt im Zivilleben oder Naturkatastrophen - sind seit Menschengedenken bekannt. Eindrucksvolle Schilderungen kennt man schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Begriff der "Schreckneurose", wie man es damals nannte, ist über 100 Jahre alt. 1889 führte Oppenheim den Begriff "Trauma" in die Neuropsychiatrie ein.


Doch warum kommt man erst jetzt auf dieses Thema zurück, Betroffene hat es schließlich seit jeher gegeben? Das geht vor allem auf die US-amerikanische Forschung bzw. die entsprechenden Kriege in Korea und insbesondere Vietnam zurück. Später erinnerte man sich auch zunehmend an zivile Opfer durch Extrembelastungen, denen die diagnostischen und therapeutischen Erkenntnisse der Militär-Psychiater und -Psychologen natürlich ebenfalls zugute kommen. Posttraumatisches Belastungssyndrom PTBS, Posttraumatische Stresssyndrom PTS sind in Deutschland erst seit den 80er Jahren anerkannte Krankheiten. Unter diesen Begriffen wird eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine außergewöhnliche Bedrohung gesehen, die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Oft treten die Reaktionen erst Monate bis Jahre nach dem Ereignis auf. Ereignisse, die eine posttraumatische Belastungsstörung hervorrufen können, sind z. B. Krieg, schwere Unfälle, Opfer eines Verbrechens, sexueller Mißbrauch, Folter, Naturkatastrophen, Chemieunfälle, Brände etc. [1] Man schätzt heute aufgrund neuer Untersuchungen, dass etwa 40 bis 60 Prozent aller Menschen irgendwann in ihrem Leben einmal das Opfer eines traumatischen Erlebnisses werden.

Kriegstrauma ist kein Einzelfall. "Es ist eine Epidemie", sagt Dr. Helga Spranger, Ärztin und Psychotherapeutin, eine Traumatisierungsepidemie: "Zur Zeit des 2. Weltkrieges lebten 62 Millionen Menschen in Deutschland, davon sind mindestens ein Drittel, eher zwei Drittel traumatisiert." Was die Kinder im Krieg gesehen haben, die Greueltaten, was sie gespürt haben, die Todesangst womöglich, aber auch, was sie gehört, gerochen und geschmeckt haben, versinkt tief in ihrer Seele
[2]. Heulen der Sirenen, Schreie von verwundeten Menschen, der Geruch verbrannter Körper, der Geschmack verdorbener Speisen. "Ein Überleben ist nur möglich, wenn alles fest im Unterbewußtsein abgeschlossen ist", erklärt Helga Spranger. "Doch die Erlebnisse hinterlassen Spuren und können komplexe seelische oder psychosomatische Krankheitsbilder auslösen."

Heute sind die ehemaligen Kriegskinder zwischen Ende 50 und Mitte 70, Menschen an oder jenseits der Pensionsgrenze. Sie hielten die Erinnerungen an den Krieg bisher fest in sich verschlossen. Fleißig und pflichtbewußt haben sie ihr Leben im Nachkriegsdeutschland gemeistert. "Man staunt, was diese kranken Menschen bis heute geleistet haben", stellt Helga Spranger fest und erklärt: "Der Ehrgeiz hatte Heilwirkung, durch ihn wurden die Traumen scheinbar überwunden." Oft erst nach vielen Jahrzehnten kommen sie wieder hoch. Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit, Schreckhaftigkeit, Unruhezustände, Partnerschaftskonflikte, Depressionen - alles mögliche Symptome einer Kriegstraumatisierung. "Manche Krankheitsbilder treten erst auf, wenn die Menschen älter werden, ihre eigene Gebrechlichkeit spüren", hat Helga Spranger beobachtet. Mitunter reicht ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, um die Geister des Krieges zu wecken. "Der Krieg im Kosovo und die Terroranschläge vom 11. September haben Erinnerungen wachgerufen", sagt Helga Spranger. So genannte Retraumatisierungen könnten auch durch persönliche Erlebnisse ausgelöst werden. Etwa der Verlust des Arbeitsplatzes, vorzeitge Berentung und Krankheiten bringen Geschehnisse wieder ins Bewußtsein.

Nicht nur durch persönliche Erlebnisse, auch durch ihre Arbeit als Psychotherapeutin wurde ihr zunehmend die Bedeutung der Schädigungen in der Kindheit für das späte Erwachsenenalter bewußt. Immer wieder hatte Helga Spranger mit Verhaltensweisen von Patienten zu tun, die nicht zu den bekannten Diagnosen paßten. Unter anderem ihrer Initiative ist es zu verdanken, daß Ende der 90er Jahre durch eine Tagung das öffentliche Schweigen über die Folgen der Kriegsbeschädigungen gebrochen wurde. Anschließend bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Ärzten und Therapeuten und daraus der Verein "Kriegskind.de", dessen Mitbegründerin und Vorsitzende Helga Spranger
[3] ist.

Der Verein widmet sich der Diagnose, Behandlung und Erforschung der Spätfolgen von Kriegstraumata bei Kindern des 2. Weltkrieges und späterer kriegerischer Auseinandersetzungen. Er ist Anlaufstelle für Betroffene und will fachspezifische Kenntnisse vermitteln. Denn Ärzte und Psychotherapeuten sind nach Ansicht von Spranger mit der Diagnose der Spätfolgen von Kriegstraumata überfordert. Aber es geht dem Verein auch um die sozialen Folgen. Nicht nur die erste Generation Kriegskinder, geboren in den Jahren 1930 bis 1947, seien betroffen, sondern auch zweite und dritte Generationen. Spranger: "Das kann man sich vorstellen wie bei einem Strickmuster: Wenn man einmal eine Masche fallen läßt, verändert sich das Muster, und es verändert sich zunehmend, je länger man strickt."

Typisch für die Kriegskinder sei eine besondere, eine intensive Beziehung zur Mutter. Die Väter waren im Krieg, später in Kriegsgefangenschaften, die Frauen und Kinder auf sich gestellt, traumatisiert und unterernährt. "In diesen schwierigen Zeiten waren Mutter und Kind sehr aufeinander angewiesen, die Heranwachsenden übernahmen früh Verantwortung, es war kein Raum für Kindheit. Sie wurden von ihren Müttern benutzt, beansprucht, und es ist, als ob sie schließlich zum Schatten ihrer Mutter geworden sind." Später hätten diese Kinder Probleme in Partnerschaften oder gingen keine ein. In jedem Fall sei diese feste Bindung laut Spranger für beide Beteiligten sehr schwierig.

Heute beginnt die dritte Generation diese stets verschwiegenen Erinnerungen und ihre ganz praktischen Folgen bis heute zu untersuchen. Es erscheinen immer mehr Bücher, die diese Thematik aufarbeiten und an praktischen Beispielen darzulegen. [4]

Erinnerung ist ein mit jedem neu Erzählen neu erfundenes Konstrukt. Was ist meine erste Erinnerung? Der Weihnachtsbaumbrand bei Tante Josefa? Die Bombennächte im Keller des Berliner Mietshauses? Halt! Bin ich ganz sicher, daß das tatsächlich meine Erinnerung ist - keine Famil
iensaga, kein Fernsehfilm, kein Gelesenes? Der Gedanke, dass wir uns über Erinnerung unserer selbst bewusst sind, aber die kreative Rekonstruktion dieser Erinnerung, zum Beispiel in Filmen, nichts anderes als eine Illusion ist, treibt um, ebenso wie die Sehnsucht nach Erlösung aus diesem Dilemma.

Was wir überzeugt als Erinnerung ausgeben, ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens. Wie dem auch sei, wenn wir über die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug! Besser zu sagen: Die Macht der Interpretation liegt jederzeit bei jedem selbst. Diese Freiheit zu nutzen verleiht die Macht, das eigene Sein, den eigenen Weg selbst zu gestalten, ohne sich innerlich an die äußere Geschichte zu binden. (4.5 Wahrnehmen). Deshalb, gut zu merken, es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben!






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