Vor einigen Tagen erhielt ich einen verzweifelten Anruf. Es beklagte sich ein Mensch, er sei schrecklich, sei ja nicht normal, sein ganzes Leben sei schrecklich. Auf Nachfrage „nicht normal?“ kam, sinngemäß, die alte Definition, die ich schon im Grimm’schen Wörterbuch finde: Nicht „dem laufe der natur oder dem natürlichen zustande gemäsz“. Es scheint ein ungeheures Bedürfnis zu bestehen, nicht aus der Reihe zu tanzen. Und dieser zweifache Blick, der auf die Reihe, wo ich hingehören will, und auf meinen Platz, den ich einnehme, läßt verzweifeln. Wenn die Verhältnisse sich verändern und nicht sofort die betroffene Person sich mit ihnen, dann findet diese Person die Schuld dafür bei sich. Solche und viel umfangreichere Selbstkritik habe ich schon oft gehört und es braucht bisweilen mehrerer Telefonsitzungen, bis der Kritiker sich wenigstens ansatzweise in seiner Einmaligkeit und Menschlichkeit erkennen und schätzen mag.
‚Normal sein‘ ist eine gesellschaftliche Dimension, eine Festlegung für die Gruppenzugehörigkeit. Es ist wohl Teil unserer Evolution als Menschentier, dass Gruppenzugehörigkeit eine besonders wesentliche Grundlage für das Überleben darstellt. Schon das Neugeborene zeigt ganz unglaubliche Leistungen, um sich anzupassen und zu gefallen zwecks Überleben. Und das geht so weiter bis zum Tode und über alle Lebensbereiche. Schön formuliert und ganz ohne Pschologie finde wir das beispielsweise bei den DIN-Normen.
Beim DIN Deutsches Institut für Normung e.V. kann man nachlesen: „… Normung ist ein strategisches Instrument im Wettbewerb (kursiv von Jans). Unternehmen, die sich an der Normungsarbeit beteiligen, erzielen Vorteile durch ihren Wissens- und Zeitvorsprung. Sie können dadurch Forschungsrisiken und Entwicklungskosten senken. Durch die Anwendung von Normen können Transaktionskosten, z. B. im Einkauf und bei Ausschreibungen, deutlich reduziert werden. … Eine DIN-Norm ist ein unter Leitung eines Arbeitsausschusses im Deutschen Institut für Normung erarbeiteter freiwilliger Standard, in dem materielle und immaterielle Gegenstände vereinheitlicht sind. DIN-Normen entstehen auf Anregung und durch die Initiative interessierter Kreise (in der Regel die deutsche Wirtschaft), wobei Übereinstimmung unter allen Beteiligten hergestellt wird. … Das Normenwerk verändert sich ständig. Pro Jahr erscheinen über 2000 DIN-Normen neu. Spätestens alle fünf Jahre wird bei jeder Norm turnusmäßig überprüft, ob sie noch gebraucht wird und ob sie dem aktuellen Stand der Technik entspricht. … Die Vorarbeiten zur Rationalisierung der Rüstungsproduktion im Januar 1917 führten zu der Erkenntnis, dass ganz Deutschland zu einer Produktionsgemeinschaft für einen Abnehmer, die Streitkräfte, werden musste, und dass hierfür grundlegende Normen, insbesondere zur Zusammenarbeit im Maschinenbauwesen, notwendig waren. Die zur folgenden Gründung des DIN führende Initiative ging deshalb vom „Königlichen Fabrikationsbüro für Artillerie (Fabo-A)“ in Berlin aus. … Normen sollten auf den gesicherten Ergebnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung basieren und auf die Förderung optimaler Vorteile für die Gesellschaft abzielen. …“
Da finden wir alles, woran die verzweifelte Freundin sich wund fühlt und was ihr für ihren Erfolg im alltäglichen Überlebenskampf wichtig erscheint bzw. fehlt. Leider vererkennt sie die „interessierten Kreise“ und versäumt die turnusmäßige Überprüfung, ob jede von deren Normen auch von ihr selbst noch gebraucht werden und ob die übrigen Normen dem aktuellen Stand der Lebenserfahrung ihrer Nutzerin noch entspricht.
Neurophysiologische Untersuchungen zeigen, dass mit dem Schwerpunkt der Beanspruchung sich das Gehirn organisch, in seinen Mengenverhältnissen verändert. Versteht man solche Erkenntnisse nicht nur als Kuriosität, belegen sie, wie jede Tätigkeit zur biologischen Anpassung des Denkorgans führt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die jeweilige Weltsicht: Während der geistige Kosmos eines Taxifahrers mehr aus räumlichen Verknüpfungen und Orientierungspunkten besteht, nimmt eine Musikerin die Welt eher als Fülle von Klängen und Rhythmen wahr; für traumatisierte Kriegsopfer wird sie zur Quelle ständig neuer Schrecken. Und dies gilt, wohlgemerkt, nicht im übertragenen, sondern im neurophysiologisch nachprüfbaren Sinne.
Der eigentliche Witz dieses Mechanismus und das ist es, worauf Rösler und Baltes mit ihrem „biokulturellen Ko-Konstruktivismus“ hinaus wollen, ist jedoch, dass die Wechselwirkung unendlich reziprok ist: Wer Musik besser wahrnimmt, weil er viel Musik gehört hat, macht auch bessere Musik. Wer Terror erfährt, neigt hirnphysiologisch zum Terror. Wer viel und regelmäßig seine virtuellen Viren löscht, könnte sich gegen diese Viren immunisieren, seine eigenen Gedankenfehler fortschreitend schneller und leichter auflosen.
Die verzweifelte Freundin, die sich beklagt, nicht „dem laufe der natur oder dem natürlichen zustande gemäsz“, nicht normal zu sein, könnte im ersten Schritt bemerken, dass sie ja lebt, dass sie ja in diesem Leben gut funktioniert, dass sie, dieser Geist, dieser Leib, dessen Organe und die Billionen Zellen nicht wild durcheinander purzeln, nicht sich allesamt in Chaos oder Krankheit gegenseitig zerstören, sondern dass doch eine hohe Harmonie herrscht – abgesehen von ihrer Selbstkritik, die ja nur bezogen ist auf einen winzigen Ausschnitt ihrer Haltungen zu diesem Leben. Ihre Ablehnung dieses, ihres winzigen Ausschnitts ihrer Haltungen könnte sie sich verzeihen.
Mir selbst verzeihen, heißt aber, mich selbst akzeptieren. Der Basissatz z.B. der Meridian-Klopftechniken lautet „ich liebe mich von Herzen und akzeptiere mich so wie ich bin, obwohl ich …“ und als einen Grund-Widerspruch zu vielen Verhaltensmustern, als Werkzeug in meiner Arbeit mit dem Re-evaluation Counseling fand ich den Satz „ich liebe mich so wie ich bin“. Den machte ich dann 1976 zu einem der FMK-Kerne des Vereins „Freundschaft mit Kindern“.
Das ist ein gewundener Weg. Am Wegrand wachsen bunte und duftende Blumen, sitzen aber auch Angst, Depression und Größenwahn, Narzissmus. „Ich liebe mich so wie ich bin“ heißt ja nicht „Augen zu und durch“, vielmehr, diese Selbstliebe möchte mich anregen, meine Tugenden und Laster, meine Stärken, Schwächen, Weisheit, Lächerlichkeit je als Urteile zu begreifen, Urteile, die zu anderer Zeit, in anderer Situation ganz umgekehrt dieselbe Tugend als Laster, die Stärke als Schwäche und Weises als lächerlich erscheinen lassen.
Da musste ich mich von einem alten Gefährten verabschieden — der Selbstkritik — Bruder Skorpion. Wenn ich mir all das vorstelle, was ein gutes Verhältnis zu mir selbst verhindert, dann sehe ich, gleichsam als Hintergrund aller meiner Probleme und alles andere überragend, einen Skorpion, der den Schwanz über den eigenen Rücken gekrümmt hat — bereit, sich selbst zu stechen. Das ist die schon früh als Kind am Modell der Erwachsenen und den Erwachsenen zuliebe gelernte Kritiksucht gegenüber mir selbst, mit der ich mich fertigmache, mit der ich mich unliebenswürdig finde. Internalisierter Adultismus: das Grundgefühl hinter vielen anderen Problemen, die ewigen Klagen gegen mich selbst, die mich das Licht nicht sehen lassen — und nicht die Wunder, die nur in diesem Licht zu sehen sind. Leicht saures Gefühl im Magen, wenn ich daran denke; so fühlt sich das Gift an, das ich mir selbst gebe, wenn ich es schlucke.
Andererseits, ich hatte wohl schon ziemlich früh keine so glaubensfeste Beziehung zu den Erwachsenen, den Autoritäten um mich herum, dass vor deren Beurteilungen ich wohl eher meinen Wahrnehmungen den Vorzug geben wollte. Das hat mein Zusammenleben mit Eltern, Lehrern und später Vorgesetzten oft nicht erleichtert. Als Kind, als Jugendlicher, ja, bis in meine 40er Jahre habe ich das verdrängt. Bis dahin habe ich mich immer für einen bemühten Schüler, geduldigen Mitarbeiter, braven Bürger gehalten, ja, die normale Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild. Denn wenn ich den Erzählungen von damaligen Mitschülern oder Kollegen lauschte, klang das ganz anders, mehr nach Anarchist, nach Kämpfer, um den herum immer was Besonderes los war. Das kam erst richtig nach außen und wurde fruchtbar mit FMK, Ende der 70er.
FREUNDSCHAFT MIT KINDERN beruht auf den drei Komponenten KINDERRECHTSBEWEGUNG, ANTIPÄDAGOGIK und SELBSTBEGEGNUNG [FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Heft 4 – 09/1982, II Gesellschaftlicher Bezug, 9. Unterscheidungen, Seite 47]. Eine isolierte Betrachtung der Komponenten führt zu einem falschen Verständnis. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist somit weder Nur-Kinderrechtsbewegung noch Nur- Antipädagogik noch Nur-Selbstbegegnung.
Vertiefe ich die Selbstbegegnung zur Selbstliebe, hilft die mir, in meine eigene Wahrheit bis zur Selbsterkenntnis einzudringen. Dann lösen sich meine Illusionen über mich auf. Besonders all das, was ich nie sehen wollte und nicht wahr haben will, wird deutlich und will endlich auch geliebt werden. So wird aus dem Gefühl des Unheilseins und des Mangels der Blick in meine Fülle und die Fülle meines Lebens, ein grundlegender Perspektivenwechsel.
– Das Gehirn ist in Bau und Funktion ungeheuer plastisch und so habe ich oft erlebt, das solch Perspektivenwechsel ganz schnell und manchmal sogar dauerhaft geschehen kann. Die oben erwähnte Freundin mochte sich entscheiden, ihr Leben und ihre Wirkung darin zu erkennen als durchaus „dem laufe der natur oder dem natürlichen zustande gemäsz“, nämlich ihrem Ureigenen, verbunden mit dem Leben ringsum. Und kein Platz bleibt für Zweifel, Zweifaches, nur Einheit.