In den Dateiverzeichnissen gestöbert und einen spannenden Artikel wieder gefunden. In der Zeitschrift KOMMUNIKATION & SEMINAR 2/2011, Seiten 8-17, pdf-Download schrieb Regine Rachow über „Altern als Mission“; für sie hier vor allem eine Chance für die Weiterbildungspraxis, wie sie an einem Beispiel in Braunschweig deutlich macht.
Für mich sind es die Seiten 12-14, wo sie Informationen über das Altern recherchiert hat. Und diese sollte man sich, zumindest ab 70, zumindest an jedem Geburtstag, immer wieder zu Gemüte führen:
„… Es ist nicht einmal sicher, dass die Lebensspanne eines Menschen auf 120 oder 130 Jahre begrenzt ist. Seit gut 160 Jahren beschreibt der Anstieg der Lebenserwartung nahezu perfekt eine Gerade. Sie wächst noch immer pro Dekade um gut zwei Jahre, wie James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung, Rostock, nachwies ([6] FAS, 17. August 2003). Und nichts deutet darauf hin, dass sich dies ändern werde.
Im Unterschied zu den verbreiteten pessimistischen Bildern einer alternden Gesellschaft wird der weltweit renommierte Demograf Vaupel jedoch nicht müde zu betonen, dass der Trend zur Langlebigkeit eine „große zivilisatorische Errungenschaft“ ([7] Ebda) sei. Unterstützt wird diese Sicht von der Gerontologie. Seit Jahrzehnten setzt sie den negativen Altersstereotypen ihre Befunde vom „aktiven“, ja „produktiven“ Alter entgegen, die sie zumindest für die „jungen Alten“ reklamiert, also für Menschen zwischen 70 und 79 Jahren. Die „alten Alte“ trifft man nach dieser Sicht ab dem 80. Lebensjahr an.
Einen genauen Blick auf das Phänomen warf die Berliner Altersstudie, initiiert vom Psychologen und Gerontologen Paul Baltes, bis zu seinem Tod 2006 Direktor des Max-Planck-Institutes (MPI) für Bildungsforschung. Unter seiner Leitung untersuchten zwischen 1990 und 1993 Forscher unterschiedlicher Disziplinen 516 Westberlinerinnen und Westberliner im Alter von 70 bis 103 Jahren in insgesamt 14 Sitzungen nach unterschiedlichen Aspekten: medizinisch, psychologisch, soziologisch und ökonomisch ([8] Lindenberger, Ulman; Smith, Jacqui; Mayer, Karl Ulrich; Baltes Paul B. (Hrsg.): Die Berliner Altersstudie, 3. erweiterte Auflage. Akademie Verlag, Berlin 2o1o). Die wissenschaftliche Arbeit am Datensatz währt noch immer fort, jede neue Auflage der Studie erscheint erheblich erweitert.
Die Stärke des Selbst
Inzwischen ist die Berliner Altersstudie, in Fachkreisen kurz BASE genannt, das Standardwerk zum Thema Altern. Sie räumt nachhaltig mit einem Vorurteil auf, wonach das Altern ein automatisch fortschreitender Verfallsprozess sei, bei dem ein Mensch ab 70 unweigerlich dem Stadium eines deprimierten, desinteressierten, schließlich dementen Wesens entgegen dämmere. Ein geriatrischer Fall gewissermaßen.
BASE zeichnet eine andere Wirklichkeit. Zwei Drittel der 70- bis 103-Jährigen fühlten sich in den Befragungen körperlich im großen Ganzen gesund: 29 Prozent gaben dazu ein sehr gut bis gut an, 38 Prozent ein befriedigend. Im Vergleich zu Gleichaltrigen fällt die Einschätzung noch deutlicher aus: 62 Prozent beurteilten sich gesundheitlich besser oder viel besser als die anderen.
Auch mental erwiesen sich die Alten als stabil. Nur eine Minderheit von 30 Prozent gab an, sich regelmäßig mit Gedanken ans Sterben und an den eigenen Tod zu befassen, ein Anteil, der auch im hohen Alter kaum zunimmt. Hingegen befassten sich 70 Prozent der BASE-Teilnehmer gedanklich mit dem Wohlergehen ihrer Angehörigen, und 60 Prozent gaben an, dass sie sich mit ihrer geistigen Leistungsfähigkeit auseinandersetzen. Überraschenderweise entwarfen neun von zehn BASE-Teilnehmern, exakt 94 Prozent, für sich „Zukunftsszenarien, die ein breites Spektrum an Bereichen und Lebenszielen absteckten“ ([9] Ebda, S. 628).
Natürlich gibt es altersbedingte Verluste, die BASE auch sorgfältig dokumentiert. Zum Beispiel den „außerordentlich hohen Zusammenhang zwischen geistiger Leistungsfähigkeit und sensorischer Funktionsfähigkeit (Hören, Sehen, Gleichgewicht/Gang)“, den ein Forschungsteam um den Entwicklungspsychologen und MPI-Direktor Ulman Lindenberger in Tests erkundete ([10] Ebda, S. 637). Optimistischer sieht es im Bereich des Selbst und der Persönlichkeit aus. Dort erhoben die Forscher „Persönlichkeitsmerkmale, Selbstbeschreibungen, Gefühle, Motivation und verhaltensbezogene Strategien der Selbstregulation und Lebensbewältigung“. Und sie beobachteten überraschenderweise „keine oder eher geringe Altersunterschiede“. Nach Meinung der Autoren weisen diese geringen Altersverluste „vor allem auf die psychologische Widerstandsfähigkeit bzw. Plastizität des Selbst und der Persönlichkeit im Alter hin“ ([11] Ebda)
Lindenberger vermochte 2010 außerdem zusammen mit Kollegen in der so genannten Cogito-Studie weltweit erstmals den empirischen Beleg dafür vorzulegen, dass sich durch Hirntraining auch allgemeine, nicht direkt trainierte kognitive Fähigkeiten verbessern lassen ([12] Schmiedek, Lövdén, Lindenberger (2o1o): COGITO study. Front. Ag. Neurosci. 2:27. doi: 10.3389/ fnagi. 2010. 00027). Überraschenderweise lagen die Steigerungsraten der geistigen Leistungsfähigkeit bei Jung (Probanden zwischen 20 bis 31 Jahren) und Alt (65 bis 80 Jahre) ähnlich hoch.
Gegen die biologische Uhr
Ab wann ist ein Mensch alt? Auf der Suche nach entscheidenden biologisch-medizinischen Anhaltspunkten war Ellen Langer, Psychologie-Professorin an der Harvard-Universität, einst ins Staunen geraten. Es gibt solche geriatrischen Marker nicht, und zwar bis heute nicht. „Mit rein wissenschaftlichen Mitteln lässt sich das chronologische Alter eines Menschen nicht feststellen.“ ([13] Langer, Ellen J.: „Die Uhr zurückdrehen? Gesund alt werden durch die heilsame Wirkung der Aufmerksamkeit“ Junfermann, Paderborn 2011, S. 11) Die Wissenschaftlerin hatte nach solchen Markern im Vorfeld eines ihrer psychologischen Experimente gesucht, dessen Ergebnisse die Fachwelt nachhaltig fasziniert und auch beeinflusst haben. Ihre Frage lautete damals: Wie wirkt es sich auf den körperlichen, physiologisch messbaren Zustand von Menschen aus, wenn man ihre psychologische Uhr zurückstellt? Das Experiment erhielt später den Namen Counterclockwise-Studie. Ellen Langer beschreibt es in ihrem Buch „Die Uhr zurückdrehen?“.
Das Design hatte die Forscherin 1979 zusammen mit ihren Studenten entwickelt. Es führte eine Gruppe von 16 Freiwilligen – Männer im Alter zwischen Ende 70 und Anfang 80 – für eine Woche in ein abgeschiedenes Tagungshaus im US-Bundesstaat New Hampshire. Die Forscher richteten den Ort im Stile der 1950er Jahre ein und drehten gewissermaßen die Uhren um 20 Jahre zurück. Ihre Probanden sollten im Vorfeld Fotos von sich aus jener Zeit schicken, zusammen mit einem kurzen Lebenslauf aus der Sicht von 1959, aber in der Gegenwart verfasst. Die Forscher erklärten den Männern, dass sie von Anbeginn alles, was geschehen würde, in der Gegenwart erleben sollten. Sie legten alte Zeitungen und Magazine aus, sahen mit ihren Probanden Filme jener Zeit, wie „Manche mögen’s heiß“ und „Ben Hur“. Sie diskutierten mit ihnen den Start von Explorer 1 oder die sagenhafte 31:16-Niederlage der New York Giants gegen die Baltimore Colts in der National Football League.
Schon vom zweiten Tage an habe sie die Veränderung gespürt, schreibt Langer. Die Männer, die sich in den Interviews zuvor zum Teil extrem abhängig von ihren Verwandten gezeigt hatten, wurden auf einmal aktiv. Sie servierten das Essen, räumten die Tische ab und wuschen das Geschirr. Fast alle kamen ohne Hilfe zurecht. Eine Woche später verbrachte eine Kontrollgruppe eine ebensolche Woche, mit dem Unterschied, dass sie sie nicht in der Gegenwart erlebte, sondern als Erinnerung, etwas Vergangenes.
Beim Vergleich nach dem Experiment wiesen beide Gruppen eine höhere Hör- und Merkfähigkeit auf, und die Greifkraft ihrer Hände hatte zugenommen. Bei den Teilnehmern der Experimentalgruppe allerdings waren die Gelenke nicht nur beweglicher als zuvor, sondern auch im Vergleich zur Kontrollgruppe, und sie konnten ihre arthritischen Finger besser ausstrecken. Sie schnitten ebenfalls in den Intelligenztests und in der Sehfähigkeit besser ab. Anhand aktueller Fotos, die nach dem Experiment von ihnen gemacht und dann zur Beurteilung unabhängigen Personen vorgelegt wurden, wurden sie schließlich – im Unterschied zur Kontrollgruppe – deutlich jünger eingeschätzt als auf Fotoaufnahmen, die man vor dem Experiment von ihnen gemacht hatte.
„Nicht in erster Linie unser Körper, sondern unsere, geistige Einstellung zu unseren physischen Grenzen schränkt uns ein“, lautete ein Fazit, das Ellen Langer schon damals zog ([14] Ebda, S. 15). Wenn es einer Gruppe von Männern möglich gewesen sei, ihre biologische Uhr so deutlich zurückzudrehen, dann solle dies wohl allen Menschen möglich sein. Ellen Langer nennt ihre Forschung denn auch die „Psychologie des Möglichen“. Mit Blick auf das Altern wie generell auf ein Leben in Gesundheit plädiert sie für die „Befreiung von einschränkenden Geisteshaltungen ([15] Ebda, S. 16).
Aufgabe unseres Lebens
Unterstützt wird diese Sicht durch Ergebnisse einer Langzeitstudie, die die Psychologin Becca Levy, Yale School of Public Health, und Kollegen mit 660 Menschen aus Ohio machten. Zwischen 1975 und 1995 befragten sie die Probanden sechsmal, wie sie über ihr eigenes Altern und das Alter allgemein denken. Die Teilnehmer mit einer zuversichtlichen, positiven Sicht lebten um durchschnittlich siebeneinhalb Jahre länger als jene, die dem Alter und dem Altern nichts Erfüllendes, Positives abzuringen vermochten ([16] Levy, Slade, Kunkel, Kasl: „Longevity Increased by Positive Self-Perceptions of Aging“. Journal of Personality on Social Psychology, 2002, Vol. 83, No. 2, S. 261-270).
Das alles klingt, als sei Altern nicht einfach ein Prozess, der geschieht, sondern im Grunde ein Auftrag – zuerst einmal ein Auftrag an jeden Einzelnen. Frank Schirrmacher, der Aufklärer, sagt es so: „Unsere Mission ist es, alt zu werden. Wir haben keine andere. Es ist die Aufgabe unseres Lebens.“ ([17] Schirrmacher, Frank, „Das Methusalem-Komplott“ Heyne Taschenbuch, München, 2010, S. 155)
Wann beginnt diese Mission für uns? Werden wir sie erkennen, wenn sie auf der Tagesordnung steht? Und werden wir sie annehmen? …“
Für mich steht sie auf der Tagesordnung. Kann ich, will ich sie jeden Tag neu erkennen und annehmen? Kann ich, will ich mich jeden Tag neu aus dem Griff meiner Gewohnheiten und gesellschaftlichen Erfahrungen heraus ziehen? Wie werde ich mich dabei unterstützen zur Plastizität des Selbst in Selbsterkenntnis und Eigensinn?