normal sein

Vor einigen Tagen erhielt ich einen verzweifelten Anruf. Es beklagte sich ein Mensch, er sei schrecklich, sei ja nicht normal, sein ganzes Leben sei schrecklich. Auf Nachfrage „nicht normal?“ kam, sinngemäß, die alte Definition, die ich schon im Grimm’schen Wörterbuch finde: Nicht „dem laufe der natur oder dem natürlichen zustande gemäsz“. Es scheint ein ungeheures Bedürfnis zu bestehen, nicht aus der Reihe zu tanzen. Und dieser zweifache Blick, der auf die Reihe, wo ich hingehören will, und auf meinen Platz, den ich einnehme, läßt verzweifeln. Wenn die Verhältnisse sich verändern und nicht sofort die betroffene Person sich mit ihnen, dann findet diese Person die Schuld dafür bei sich. Solche und viel umfangreichere Selbstkritik habe ich schon oft gehört und es braucht bisweilen mehrerer Telefonsitzungen, bis der Kritiker sich wenigstens ansatzweise in seiner Einmaligkeit und Menschlichkeit erkennen und schätzen mag.

‚Normal sein‘ ist eine gesellschaftliche Dimension, eine Festlegung für die Gruppenzugehörigkeit. Es ist wohl Teil unserer Evolution als Menschentier, dass Gruppenzugehörigkeit eine besonders wesentliche Grundlage für das Überleben darstellt. Schon das Neugeborene zeigt ganz unglaubliche Leistungen, um sich anzupassen und zu gefallen zwecks Überleben. Und das geht so weiter bis zum Tode und über alle Lebensbereiche. Schön formuliert und ganz ohne Pschologie finde wir das beispielsweise bei den DIN-Normen.

Beim DIN Deutsches Institut für Normung e.V. kann man nachlesen: „… Normung ist ein strategisches Instrument im Wettbewerb (kursiv von Jans). Unternehmen, die sich an der Normungsarbeit beteiligen, erzielen Vorteile durch ihren Wissens- und Zeitvorsprung. Sie können dadurch Forschungsrisiken und Entwicklungskosten senken. Durch die Anwendung von Normen können Transaktionskosten, z. B. im Einkauf und bei Ausschreibungen, deutlich reduziert werden. … Eine DIN-Norm ist ein unter Leitung eines Arbeitsausschusses im Deutschen Institut für Normung erarbeiteter freiwilliger Standard, in dem materielle und immaterielle Gegenstände vereinheitlicht sind. DIN-Normen entstehen auf Anregung und durch die Initiative interessierter Kreise (in der Regel die deutsche Wirtschaft), wobei Übereinstimmung unter allen Beteiligten hergestellt wird. … Das Normenwerk verändert sich ständig. Pro Jahr erscheinen über 2000 DIN-Normen neu. Spätestens alle fünf Jahre wird bei jeder Norm turnusmäßig überprüft, ob sie noch gebraucht wird und ob sie dem aktuellen Stand der Technik entspricht. … Die Vorarbeiten zur Rationalisierung der Rüstungsproduktion im Januar 1917 führten zu der Erkenntnis, dass ganz Deutschland zu einer Produktionsgemeinschaft für einen Abnehmer, die Streitkräfte, werden musste, und dass hierfür grundlegende Normen, insbesondere zur Zusammenarbeit im Maschinenbauwesen, notwendig waren. Die zur folgenden Gründung des DIN führende Initiative ging deshalb vom „Königlichen Fabrikationsbüro für Artillerie (Fabo-A)“ in Berlin aus. … Normen sollten auf den gesicherten Ergebnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung basieren und auf die Förderung optimaler Vorteile für die Gesellschaft abzielen. …“

Da finden wir alles, woran die verzweifelte Freundin sich wund fühlt und was ihr für ihren Erfolg im alltäglichen Überlebenskampf wichtig erscheint bzw. fehlt. Leider vererkennt sie  die „interessierten Kreise“ und versäumt die turnusmäßige Überprüfung, ob jede von deren Normen auch von ihr selbst noch gebraucht werden und ob die übrigen Normen dem aktuellen Stand der Lebenserfahrung ihrer Nutzerin noch entspricht.

Neurophysiologische Untersuchungen zeigen, dass mit dem Schwerpunkt der Beanspruchung sich das Gehirn organisch, in seinen Mengenverhältnissen verändert. Versteht man solche Erkenntnisse nicht nur als Kuriosität, belegen sie, wie jede Tätigkeit zur biologischen Anpassung des Denkorgans führt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die jeweilige Weltsicht: Während der geistige Kosmos eines Taxifahrers mehr aus räumlichen Verknüpfungen und Orientierungspunkten besteht, nimmt eine Musikerin die Welt eher als Fülle von Klängen und Rhythmen wahr; für traumatisierte Kriegsopfer wird sie zur Quelle ständig neuer Schrecken. Und dies gilt, wohlgemerkt, nicht im übertragenen, sondern im neurophysiologisch nachprüfbaren Sinne.

Der eigentliche Witz dieses Mechanismus und das ist es, worauf Rösler und Baltes mit ihrem „biokulturellen Ko-Konstruktivismus“ hinaus wollen, ist jedoch, dass die Wechselwirkung unendlich reziprok ist: Wer Musik besser wahrnimmt, weil er viel Musik gehört hat, macht auch bessere Musik. Wer Terror erfährt, neigt hirnphysiologisch zum Terror. Wer viel und regelmäßig seine virtuellen Viren löscht, könnte sich gegen diese Viren immunisieren, seine eigenen Gedankenfehler fortschreitend schneller und leichter auflosen.

Die verzweifelte Freundin, die sich beklagt, nicht „dem laufe der natur oder dem natürlichen zustande gemäsz“, nicht normal zu sein, könnte im ersten Schritt bemerken, dass sie ja lebt, dass sie ja in diesem Leben gut funktioniert, dass sie, dieser Geist, dieser Leib, dessen Organe und die Billionen Zellen nicht wild durcheinander purzeln, nicht sich allesamt in Chaos oder Krankheit gegenseitig zerstören, sondern dass doch eine hohe Harmonie herrscht – abgesehen von ihrer Selbstkritik, die ja nur bezogen ist auf einen winzigen Ausschnitt ihrer Haltungen zu diesem Leben. Ihre Ablehnung dieses, ihres winzigen Ausschnitts ihrer Haltungen könnte sie sich verzeihen.

Mir selbst verzeihen, heißt aber, mich selbst akzeptieren. Der Basissatz z.B. der Meridian-Klopftechniken lautet „ich liebe mich von Herzen und akzeptiere mich so wie ich bin, obwohl ich …“ und als einen Grund-Widerspruch zu vielen Verhaltensmustern, als Werkzeug in meiner Arbeit mit dem Re-evaluation Counseling fand ich den Satz „ich liebe mich so wie ich bin“. Den machte ich dann 1976 zu einem der FMK-Kerne des Vereins „Freundschaft mit Kindern“.

Das ist ein gewundener Weg. Am Wegrand wachsen bunte und duftende Blumen, sitzen aber auch Angst, Depression und Größenwahn, Narzissmus. „Ich liebe mich so wie ich bin“ heißt ja nicht „Augen zu und durch“, vielmehr, diese Selbstliebe möchte mich anregen, meine Tugenden und Laster, meine Stärken, Schwächen, Weisheit, Lächerlichkeit je als Urteile zu begreifen, Urteile, die zu anderer Zeit, in anderer Situation ganz umgekehrt dieselbe Tugend als Laster, die Stärke als Schwäche und Weises als lächerlich erscheinen lassen.

Da musste ich mich von einem alten Gefährten verabschieden — der Selbstkritik — Bruder Skorpion. Wenn ich mir all das vorstelle, was ein gutes Verhältnis zu mir selbst verhindert, dann sehe ich, gleichsam als Hintergrund aller meiner Probleme und alles andere überragend, einen Skorpion, der den Schwanz über den eigenen Rücken gekrümmt hat — bereit, sich selbst zu stechen. Das ist die schon früh als Kind am Modell der Erwachsenen und den Erwachsenen zuliebe gelernte Kritiksucht gegenüber mir selbst, mit der ich mich fertigmache, mit der ich mich unliebenswürdig finde. Internalisierter Adultismus: das Grundgefühl hinter vielen anderen Problemen, die ewigen Klagen gegen mich selbst, die mich das Licht nicht sehen lassen — und nicht die Wunder, die nur in diesem Licht zu sehen sind. Leicht saures Gefühl im Magen, wenn ich daran denke; so fühlt sich das Gift an, das ich mir selbst gebe, wenn ich es schlucke.

Andererseits, ich hatte wohl schon ziemlich früh keine so glaubensfeste Beziehung zu den Erwachsenen, den Autoritäten um mich herum, dass vor deren Beurteilungen ich wohl eher meinen Wahrnehmungen den Vorzug geben wollte. Das hat mein Zusammenleben mit Eltern, Lehrern und später Vorgesetzten oft nicht erleichtert. Als Kind, als Jugendlicher, ja, bis in meine 40er Jahre habe ich das verdrängt. Bis dahin habe ich mich immer für einen bemühten Schüler, geduldigen Mitarbeiter, braven Bürger gehalten, ja, die normale Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild. Denn wenn ich den Erzählungen von damaligen Mitschülern oder Kollegen lauschte, klang das ganz anders, mehr nach Anarchist, nach Kämpfer, um den herum immer was Besonderes los war. Das kam erst richtig nach außen und wurde fruchtbar mit FMK, Ende der 70er.

FREUNDSCHAFT MIT KINDERN beruht auf den drei Komponenten KINDERRECHTSBEWEGUNG, ANTIPÄDAGOGIK und SELBSTBEGEGNUNG [FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Heft 4 – 09/1982, II Gesellschaftlicher Bezug, 9. Unterscheidungen, Seite 47]. Eine isolierte Betrachtung der Komponenten führt zu einem falschen Verständnis. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist somit weder Nur-Kinderrechtsbewegung noch Nur- Antipädagogik noch Nur-Selbstbegegnung.

Vertiefe ich die Selbstbegegnung zur Selbstliebe, hilft die mir, in meine eigene Wahrheit bis zur Selbsterkenntnis einzudringen. Dann lösen sich meine Illusionen über mich auf. Besonders all das, was ich nie sehen wollte und nicht wahr haben will, wird deutlich und will endlich auch geliebt werden. So wird aus dem Gefühl des Unheilseins und des Mangels der Blick in meine Fülle und die Fülle meines Lebens, ein grundlegender Perspektivenwechsel.

– Das Gehirn ist in Bau und Funktion ungeheuer plastisch und so habe ich oft erlebt, das solch Perspektivenwechsel ganz schnell und manchmal sogar dauerhaft geschehen kann. Die oben erwähnte Freundin mochte sich entscheiden, ihr Leben und ihre Wirkung darin zu erkennen als durchaus „dem laufe der natur oder dem natürlichen zustande gemäsz“, nämlich ihrem Ureigenen, verbunden mit dem Leben ringsum. Und kein Platz bleibt für Zweifel, Zweifaches, nur Einheit.

Zehen am Boden behalten

„Immer fünf Zehen am Boden behalten!“ schreibt Miyamoto Musashi, ein japanischer Samurai des 17. Jhd. und Begründer der Niten Ichiryu-Schule des Schwertkampfes, in seinrm Werk Gorin no Sho (deutsch „Das Buch der Fünf Ringe“) als Quintessenz seiner Schwertschule. Er widmete sich 20 Jahre lang der Suche nach der „Meisterschaft der Strategie“. Nach eigenen Angaben erreichte er diese mit 50 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt lebte er nicht mehr nach irgendwelchen Prinzipien, sondern nur nach dem Geiste seiner Erkenntnis, der Ichi Schule, wie sie sich in Himmel und Erde widerspiegelt.

Nun bin ich wohl Lichtjahre entfernt von der Geistesgröße eines Musashi. Aber die Sache mit den Zehen, die hat mich gepackt. Ich habe einige Schulungswege und Einweihungen erlebt. Ich habe das jeweils solange betrieben, bis ich merkte ‚ja, das stimmt – und, es funktioniert‘. Wenn es funktionierte bin ich weiter gegangen. Nicht nur bin ich zu faul, um alle geschulten Prinzipien regelgerecht anzuwenden. Nicht nur bin ich viel zu neugierig, als dass ich bei einer Sicht auf die Welt stehen bleiben möchte. Vor allem, ich hatte immer wieder den Eindruck, dass die Lehrer und die fortgeschrittenen Adepten nicht erkennen ließen, ob oder wie sie ihre Zehen am Boden hatten. Sie waren oft die erzogenen Erzieher, die wissen, wo es für ihre Schüler langgeht.

Die Zehen am Boden zu behalten bedeutet für mich, mich ganz und gar einzurichten in meiner Leibhaftigkeit, in meiner Gebundenheit in ein Hier und Jetzt, wohl wissend, dass, was Hier und Jetzt sei, auch davon abhängt, wie ich dieses wahrnehme, wie ich diesem wahrgebe, nämlich meine Wahrheit diesem Hier und Jetzt dazugebe, meine Zehen am Boden behalte. Meine Zehen am Boden, das bedeutet anders gewendet, dass ich mich liebe und akzeptiere, so wie ich bin, dass ich mich wohlfühle in einem Wir ohne Herrschaft ohne Kampf mit der Wirklichkeit und in Anerkennung meiner Unwissenheit II. Ordnung, wo ich nicht weiß, dass ich nichts weiß.

Michael Eggert gab in seinem Blog und gekürzt in der Zeitschrift Die Drei 11/2005 einen Überblick auf den dazu passenden Stand der Neurobiologie und -psychologie. „… So erwähnt der Neurobiologe Gerald Hüther: Die effizienten Verschaltungen des Hirns können durchaus zur Belastung werden, indem sie die mögliche Neuroplastizität und Flexibilität unterlaufen. Denn wenn Menschen eine Erfahrung „zur Aufrechterhaltung ihrer inneren Ordnung“ zwanghaft immer wieder suchen, werden die „in ihrem Hirn aktivierten Verschaltungen (..) immer effizienter verknüpft und gebahnt“; aus den „Wegen“ werden „Autobahnen“, aus einer Bewältigungsstrategie ein „eingefahrenes Programm“ [21] (genaue Textnachweise in Eggert). Mit der aufkommenden Vereinseitigung werden möglichst Erfahrungen im Alltag ausgeblendet, die diesem Programm widersprechen; es entsteht ein Teufelskreis, eine geistige Verarmung. Manchmal laufen „ganze Kulturen (..) Gefahr, ganz bestimmte, einmal entwickelte und als besonders erfolgreich bewertete Strategien der Lebensbewältigung und die damit verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Grundüberzeugungen und Wertvorstellungen immer weiter auszubauen und zu festigen“ [23]

Hirnforschern wie Hüther graut auch deshalb vor einer Kultur, die ein „Leben in künstlichen Welten“ entwickelt und in immer größerem Tempo ausbaut, weil dieses Spezialistentum nicht nur Individuen psychisch und Hirne physisch formt, sondern vielleicht auch genetisch nachfolgende Generationen determinieren könnte. Die Virtualisierung der Lebenswelt schritte dann unaufhaltsam voran. Auch Rudolf Steiner spricht von „Schädigungen“ in der „menschlichen Kulturentwicklung“ durch die „elektrische Kraft“ – die Schädigungen liegen für ihn in dem „wüsten Egoismus,“ der sich „entfalten kann.“ [24] Dieser Egoismus konstituiert sich in dem Trieb, „jeden Menschen auf der Welt nur äußerlich anzuschauen,“ ja Erfahrungen überhaupt nur noch zu machen, „ohne dass das Innere irgendwie rege gemacht wird.“ [25] Die Folge dieses Autismus sieht Steiner im Aufkommen nationaler Identitätsubstitute, separatistischer Bestrebungen und wahrscheinlich religiöser Fanatismen [26].

Bei allem Spezialistentum, das in der Zukunft wohl nicht aufgehalten werden kann: Das „Innenleben, das wir suchen, bleibt falsch, bleibt ein versucherisches, wenn es nicht einhergeht mit einem liebevollen Interesse für die Eigenarten der anderen Menschen.“ [27] Die dauernde Korrektur und Überwindung der Spezialisierung durch soziale Erfahrungen, ja durch „das wärmste Interesse (..) für andere Menschen“ ist für Steiner nicht schmückendes Beiwerk, sondern eine kulturelle, gesellschaftliche und individuelle Grundvoraussetzung.

Verfrühte technologische Manifestationen menschlicher Entwicklungsschritte haben zwangsläufig eine erhebliche suggestive Dynamik, was die Faszination und überstiegene Heilserwartungen der frühen Internetpropheten erklärt. Zahlreiche Agitatoren wie der späte Timothy Leary, aber vor allem materialistische Mystiker wie Moravec, die frohen Sinnes das Ende der Menschheit und ihr Weiterbestehen in der Maschine bejubelt haben [61], zeugen von diesen Prophetien. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der die Suggestivkraft des Mediums beleuchtet, und das ist die Wirkung der globalen sofortigen Verfügbarkeit der Informationen selbst. Viele moderne spirituelle Lehrer wie Andrew Cohen machen darauf aufmerksam, wie weit das moderne Bewusstsein der westlichen Zivilisationen durch ein „starres, angstbesetztes und ichbezogenes Verhältnis zu unserem Erleben“ [62] determiniert ist. Aller scheinbaren Libertinität zum Trotz verlieren sich die meisten Zeitgenossen „in einem scheinbar endlosen Kampf“, der es vor allem unmöglich macht, zuzulassen, „Raum zu schaffen für das, was wir nicht wissen. Wir müssen Raum schaffen für das Nichtwissen, was unsere innere Erfahrung und unser äußeres Leben betrifft.“ [63] Sich so auf wirklich neue Erfahrungen einzulassen wird vor allem durch den Reflex verhindert, sich mittels permanenter Informationsbröckchen durch die Print-, Massenmedien und das Internet zu vergewissern, dass die Katastrophen zwar irgendwo stattfinden, aber möglichst nicht in unserer nächsten Nähe. Der intellektuelle Klammerreflex erkämpft ein Stück Identitätsgefühl: „Wir kämpfen, um am Angenehmen festzuhalten, und wir kämpfen, um am Schmerzhaften festzuhalten“ [64] – die Hauptsache besteht darin, zu verhindern, ins Unbekannte, „voll ins Leben einzutauchen.“ [65] Die dauernde „Ablenkung für den Verstand“ gibt eine „Illusion von Sicherheit“ [66] und stützt damit die starren „Vorstellungen des Selbst.“ [67]. Für das konstruktivistisch erschaffene Selbst ist die Vorstellung unerträglich, „keinen Standpunkt zu haben, keinen Bezugspunkt, keinerlei Ahnung.“ [68]

Ein Beispiel für solche ersten technischen Implantate ist das künstliche Innenohr (Cochlea- Implantat) bei tauben, möglichst jungen Patienten. Bei diesen elektronischen Geräten besteht einerseits eine Verbindung zu einem Mikrofon – andererseits ein verstärkter, „elektronisch in verschiedene Frequenzbänder“ [84] zerlegter Impuls. Kleine, vom Chip ausgehende Stromdrähte liegen direkt am Hörnerv an, damit dieser durch die Elektroden stimuliert wird. Diese elektronischen Impulse sind natürlich „völlig verschieden von denen des natürlichen Innenohres“ [85] – und so verwundert es auch nicht, dass zunächst vollkommen sinnlose, rumpelnde Geräusche, die den Patienten zutiefst irritieren, gehört werden. Die Stimulation erfolgt ja auch – im Gegensatz zum natürlichen Hören – nur an wenigen Stellen des Nervs und sie hat mit der normalen Art des Hörens denkbar wenig zu tun. Es stimmt eigentlich nichts: weder „die räumliche noch die zeitliche Ordnung der Impulse.“ [86]

Und dennoch geschieht das Erstaunliche: Innerhalb eines Jahres wird für die meisten Patienten (die Fähigkeit der neuronalen Plastizität nimmt mit dem Alter ab, wie wir wissen) das rumpelnde, sinnlose Chaos nicht nur zu einem strukturierten Hörorgan- auch Sprache kann ganz normal verstanden werden. Das elektronische Gerät – ein Minicomputer- ersetzt das natürliche Organ. Wie ist das möglich? Offensichtlich haben im Laufe dieses Jahres „im Gehirn massive Umbauvorgänge stattgefunden.“ [87] Das Gehirn organisiert sich um, überträgt die Repräsentanzen, die für das Hören zuständig sind, auf die Impulse, die nun eintreffen und doch vollkommen verschieden sind: Kleine Stromschläge sind etwas anderes als Hörwellen. Natürlich haben diese elektrischen Impulse eine gewisse Regelhaftigkeit, weil diese aus der regelhaften Umwelt gewonnen werden – das Gehirn muss diese Sprache aber erst völlig neu erlernen. Der Kortex ist also eine „Regelextraktionsmaschine.“ Wenn etwas, was Sinn machen kann, ankommt, dann lernt das Gehirn, diesen Sinn zu verstehen. Entsprechend werden neue Verbindungen in den Synapsen und Repräsentationen im Kortex gebildet. Für das Verstehen von Worten sind dabei die höchsten kortikalen Areale involviert, denn der Sprachsinn ist noch höher entwickelt als der reine Hörsinn. Keinesfalls wird zuerst gehört und dann verstanden, denn dies ist ein integrativer, synthetischer Prozess: Es geschieht gleichzeitig.

Wir sind als wahrnehmende Menschen zutiefst bedeutungs-, sinn- und kontextorientiert. Das Hirn orientiert sich in einem Top- down- Prozess von oben nach unten, vom Sinnzusammenhang, vom verstehenden Ich her. Dieses baut sich sein Gehirn Sinn stiftend um und integriert dem Organismus fremde Impulse, wenn diese regelhaft sind. So wird „der akustische Input erst durch Sinnzuweisung zu dem, was er zu sein scheint.“ [88] Diese Tatsache gibt Hoffnung für zahlreiche – zunächst sensorische – Behinderungen, denn die direkte Implantation von Computerchips an Nerven sollte auch bei anderen Sinnen gelingen. Der Mensch kann auch ihm fremde Geräte dann in sein sensorisches Feld integrieren, wenn sie Sinn stiftend wirken. Der Forschung ist damit ein weites Feld eröffnet. Warum sollten nicht auch bestimmte Hormonausschüttungen durch elektronische Regler gesteuert werden? Warum sollte nicht- auf lange Sicht – ein Hirn-Interface direkten neuronalen Zugang zu komplexen Computern und Netzwerken eröffnen? Es scheint nach diesen Erfolg versprechenden Anfängen eine Frage der Zeit, bis die Verbindung von inneren neuronalen und externen elektronischen Netzwerken neu definiert werden kann.

Der Mensch hat eine virtuelle Stadt gebaut, indem er seine Fähigkeiten aus sich heraus gesetzt und in Technik wieder hat erstehen lassen. Seine innere Neuroplastizität – die nicht, wie man vor kurzem noch gedacht hat, kurz nach der Geburt ausklingt – macht es möglich, dass diese Technik wieder in ihn einzieht. Der Mensch baut sein Gehirn Sinn stiftend danach um. Der Mensch wird dabei nicht zur Maschine – er verleibt sie sich nur ein und integriert sie in seine zutiefst harmonische Sinneswelt, die ein Abbild des Logos, des sinnvollen Ganzen ist. Der Mensch bleibt in der Maschine nicht stecken; sie kann ihm nichts verstellen. Er greift durch die Kraft seines Ich durch sie hindurch auf die Wirklichkeit zu. …“

Wo ich auch bin, wie ich auch meine Neuroplastizität mein Gehirn Sinn stiftend umbauen lasse, mit fünf Zehen am Boden können die Irrwege nicht allzu groß werden – glaube ich. Zumindest kann festgehalten werden, dass sich über die Jahrmillionen der Evolution die Maschine im Kopf für einen optimalen Umgang mit der Welt da draußen so entwickelt hat. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker (Steven Pinker „Denken – Wie das Denken im Kopf entsteht“; Fischer TB, 2. Aufl., 2011, 767 S.) beschreibt das sehr plausibel, von der Standardausrüstung bis hin zu Liebe und Sinn des Lebens. Zwar wird sich bald herausstellen, dass auch seine Kombination aus Darwin und schlauen Computerprogrammen den Schlüssel zu unserem Selbstverständnis nicht endgültig darstellt – Zehen am Boden behalten.

Altern als Mission

In den Dateiverzeichnissen gestöbert und einen spannenden Artikel wieder gefunden. In der Zeitschrift KOMMUNIKATION & SEMINAR 2/2011, Seiten 8-17, pdf-Download schrieb Regine Rachow über „Altern als Mission“; für sie hier vor allem eine Chance für die Weiterbildungspraxis, wie sie an einem Beispiel in Braunschweig deutlich macht.

Für mich sind es die Seiten 12-14, wo sie Informationen über das Altern recherchiert hat. Und diese sollte man sich, zumindest ab 70, zumindest an jedem Geburtstag, immer wieder zu Gemüte führen:

„… Es ist nicht einmal sicher, dass die Lebensspanne eines Menschen auf 120 oder 130 Jahre begrenzt ist. Seit gut 160 Jahren beschreibt der Anstieg der Lebenserwartung nahezu perfekt eine Gerade. Sie wächst noch immer pro Dekade um gut zwei Jahre, wie James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung, Rostock, nachwies ([6] FAS, 17. August 2003). Und nichts deutet darauf hin, dass sich dies ändern werde.

Im Unterschied zu den verbreiteten pessimistischen Bildern einer alternden Gesellschaft wird der weltweit renommierte Demograf Vaupel jedoch nicht müde zu betonen, dass der Trend zur Langlebigkeit eine „große zivilisatorische Errungenschaft“ ([7] Ebda) sei. Unterstützt wird diese Sicht von der Gerontologie. Seit Jahrzehnten setzt sie den negativen Altersstereotypen ihre Befunde vom „aktiven“, ja „produktiven“ Alter entgegen, die sie zumindest für die „jungen Alten“ reklamiert, also für Menschen zwischen 70 und 79 Jahren. Die „alten Alte“ trifft man nach dieser Sicht ab dem 80. Lebensjahr an.

Einen genauen Blick auf das Phänomen warf die Berliner Altersstudie, initiiert vom Psychologen und Gerontologen Paul Baltes, bis zu seinem Tod 2006 Direktor des Max-Planck-Institutes (MPI) für Bildungsforschung. Unter seiner Leitung untersuchten zwischen 1990 und 1993 Forscher unterschiedlicher Disziplinen 516 Westberlinerinnen und Westberliner im Alter von 70 bis 103 Jahren in insgesamt 14 Sitzungen nach unterschiedlichen Aspekten: medizinisch, psychologisch, soziologisch und ökonomisch ([8] Lindenberger, Ulman; Smith, Jacqui; Mayer, Karl Ulrich; Baltes Paul B. (Hrsg.): Die Berliner Altersstudie, 3. erweiterte Auflage. Akademie Verlag, Berlin 2o1o). Die wissenschaftliche Arbeit am Datensatz währt noch immer fort, jede neue Auflage der Studie erscheint erheblich erweitert.

Die Stärke des Selbst

Inzwischen ist die Berliner Altersstudie, in Fachkreisen kurz BASE genannt, das Standardwerk zum Thema Altern. Sie räumt nachhaltig mit einem Vorurteil auf, wonach das Altern ein automatisch fortschreitender Verfallsprozess sei, bei dem ein Mensch ab 70 unweigerlich dem Stadium eines deprimierten, desinteressierten, schließlich dementen Wesens entgegen dämmere. Ein geriatrischer Fall gewissermaßen.

BASE zeichnet eine andere Wirklichkeit. Zwei Drittel der 70- bis 103-Jährigen fühlten sich in den Befragungen körperlich im großen Ganzen gesund: 29 Prozent gaben dazu ein sehr gut bis gut an, 38 Prozent ein befriedigend. Im Vergleich zu Gleichaltrigen fällt die Einschätzung noch deutlicher aus: 62 Prozent beurteilten sich gesundheitlich besser oder viel besser als die anderen.

Auch mental erwiesen sich die Alten als stabil. Nur eine Minderheit von 30 Prozent gab an, sich regelmäßig mit Gedanken ans Sterben und an den eigenen Tod zu befassen, ein Anteil, der auch im hohen Alter kaum zunimmt. Hingegen befassten sich 70 Prozent der BASE-Teilnehmer gedanklich mit dem Wohlergehen ihrer Angehörigen, und 60 Prozent gaben an, dass sie sich mit ihrer geistigen Leistungsfähigkeit auseinandersetzen. Überraschenderweise entwarfen neun von zehn BASE-Teilnehmern, exakt 94 Prozent, für sich „Zukunftsszenarien, die ein breites Spektrum an Bereichen und Lebenszielen absteckten“ ([9] Ebda, S. 628).

Natürlich gibt es altersbedingte Verluste, die BASE auch sorgfältig dokumentiert. Zum Beispiel den „außerordentlich hohen Zusammenhang zwischen geistiger Leistungsfähigkeit und sensorischer Funktionsfähigkeit (Hören, Sehen, Gleichgewicht/Gang)“, den ein Forschungsteam um den Entwicklungspsychologen und MPI-Direktor Ulman Lindenberger in Tests erkundete ([10] Ebda, S. 637). Optimistischer sieht es im Bereich des Selbst und der Persönlichkeit aus. Dort erhoben die Forscher „Persönlichkeitsmerkmale, Selbstbeschreibungen, Gefühle, Motivation und verhaltensbezogene Strategien der Selbstregulation und Lebensbewältigung“. Und sie beobachteten überraschenderweise „keine oder eher geringe Altersunterschiede“. Nach Meinung der Autoren weisen diese geringen Altersverluste „vor allem auf die psychologische Widerstandsfähigkeit bzw. Plastizität des Selbst und der Persönlichkeit im Alter hin“ ([11] Ebda)

Lindenberger vermochte 2010 außerdem zusammen mit Kollegen in der so genannten Cogito-Studie weltweit erstmals den empirischen Beleg dafür vorzulegen, dass sich durch Hirntraining auch allgemeine, nicht direkt trainierte kognitive Fähigkeiten verbessern lassen ([12] Schmiedek, Lövdén, Lindenberger (2o1o): COGITO study. Front. Ag. Neurosci. 2:27. doi: 10.3389/ fnagi. 2010. 00027). Überraschenderweise lagen die Steigerungsraten der geistigen Leistungsfähigkeit bei Jung (Probanden zwischen 20 bis 31 Jahren) und Alt (65 bis 80 Jahre) ähnlich hoch.

Gegen die biologische Uhr

Ab wann ist ein Mensch alt? Auf der Suche nach entscheidenden biologisch-medizinischen Anhaltspunkten war Ellen Langer, Psychologie-Professorin an der Harvard-Universität, einst ins Staunen geraten. Es gibt solche geriatrischen Marker nicht, und zwar bis heute nicht. „Mit rein wissenschaftlichen Mitteln lässt sich das chronologische Alter eines Menschen nicht feststellen.“ ([13] Langer, Ellen J.: „Die Uhr zurückdrehen? Gesund alt werden durch die heilsame Wirkung der Aufmerksamkeit“ Junfermann, Paderborn 2011, S. 11) Die Wissenschaftlerin hatte nach solchen Markern im Vorfeld eines ihrer psychologischen Experimente gesucht, dessen Ergebnisse die Fachwelt nachhaltig fasziniert und auch beeinflusst haben. Ihre Frage lautete damals: Wie wirkt es sich auf den körperlichen, physiologisch messbaren Zustand von Menschen aus, wenn man ihre psychologische Uhr zurückstellt? Das Experiment erhielt später den Namen Counterclockwise-Studie. Ellen Langer beschreibt es in ihrem Buch „Die Uhr zurückdrehen?“.

Das Design hatte die Forscherin 1979 zusammen mit ihren Studenten entwickelt. Es führte eine Gruppe von 16 Freiwilligen – Männer im Alter zwischen Ende 70 und Anfang 80 – für eine Woche in ein abgeschiedenes Tagungshaus im US-Bundesstaat New Hampshire. Die Forscher richteten den Ort im Stile der 1950er Jahre ein und drehten gewissermaßen die Uhren um 20 Jahre zurück. Ihre Probanden sollten im Vorfeld Fotos von sich aus jener Zeit schicken, zusammen mit einem kurzen Lebenslauf aus der Sicht von 1959, aber in der Gegenwart verfasst. Die Forscher erklärten den Männern, dass sie von Anbeginn alles, was geschehen würde, in der Gegenwart erleben sollten. Sie legten alte Zeitungen und Magazine aus, sahen mit ihren Probanden Filme jener Zeit, wie „Manche mögen’s heiß“ und „Ben Hur“. Sie diskutierten mit ihnen den Start von Explorer 1 oder die sagenhafte 31:16-Niederlage der New York Giants gegen die Baltimore Colts in der National Football League.

Schon vom zweiten Tage an habe sie die Veränderung gespürt, schreibt Langer. Die Männer, die sich in den Interviews zuvor zum Teil extrem abhängig von ihren Verwandten gezeigt hatten, wurden auf einmal aktiv. Sie servierten das Essen, räumten die Tische ab und wuschen das Geschirr. Fast alle kamen ohne Hilfe zurecht. Eine Woche später verbrachte eine Kontrollgruppe eine ebensolche Woche, mit dem Unterschied, dass sie sie nicht in der Gegenwart erlebte, sondern als Erinnerung, etwas Vergangenes.

Beim Vergleich nach dem Experiment wiesen beide Gruppen eine höhere Hör- und Merkfähigkeit auf, und die Greifkraft ihrer Hände hatte zugenommen. Bei den Teilnehmern der Experimentalgruppe allerdings waren die Gelenke nicht nur beweglicher als zuvor, sondern auch im Vergleich zur Kontrollgruppe, und sie konnten ihre arthritischen Finger besser ausstrecken. Sie schnitten ebenfalls in den Intelligenztests und in der Sehfähigkeit besser ab. Anhand aktueller Fotos, die nach dem Experiment von ihnen gemacht und dann zur Beurteilung unabhängigen Personen vorgelegt wurden, wurden sie schließlich – im Unterschied zur Kontrollgruppe – deutlich jünger eingeschätzt als auf Fotoaufnahmen, die man vor dem Experiment von ihnen gemacht hatte.

„Nicht in erster Linie unser Körper, sondern unsere, geistige Einstellung zu unseren physischen Grenzen schränkt uns ein“, lautete ein Fazit, das Ellen Langer schon damals zog ([14] Ebda, S. 15). Wenn es einer Gruppe von Männern möglich gewesen sei, ihre biologische Uhr so deutlich zurückzudrehen, dann solle dies wohl allen Menschen möglich sein. Ellen Langer nennt ihre Forschung denn auch die „Psychologie des Möglichen“. Mit Blick auf das Altern wie generell auf ein Leben in Gesundheit plädiert sie für die „Befreiung von einschränkenden Geisteshaltungen ([15] Ebda, S. 16).

Aufgabe unseres Lebens

Unterstützt wird diese Sicht durch Ergebnisse einer Langzeitstudie, die die Psychologin Becca Levy, Yale School of Public Health, und Kollegen mit 660 Menschen aus Ohio machten. Zwischen 1975 und 1995 befragten sie die Probanden sechsmal, wie sie über ihr eigenes Altern und das Alter allgemein denken. Die Teilnehmer mit einer zuversichtlichen, positiven Sicht lebten um durchschnittlich siebeneinhalb Jahre länger als jene, die dem Alter und dem Altern nichts Erfüllendes, Positives abzuringen vermochten ([16] Levy, Slade, Kunkel, Kasl: „Longevity Increased by Positive Self-Perceptions of Aging“. Journal of Personality on Social Psychology, 2002, Vol. 83, No. 2, S. 261-270).

Das alles klingt, als sei Altern nicht einfach ein Prozess, der geschieht, sondern im Grunde ein Auftrag – zuerst einmal ein Auftrag an jeden Einzelnen. Frank Schirrmacher, der Aufklärer, sagt es so: „Unsere Mission ist es, alt zu werden. Wir haben keine andere. Es ist die Aufgabe unseres Lebens.“ ([17] Schirrmacher, Frank, „Das Methusalem-Komplott“ Heyne Taschenbuch, München, 2010, S. 155)

Wann beginnt diese Mission für uns? Werden wir sie erkennen, wenn sie auf der Tagesordnung steht? Und werden wir sie annehmen? …“

Für mich steht sie auf der Tagesordnung. Kann ich, will ich sie jeden Tag neu erkennen und annehmen? Kann ich, will ich mich jeden Tag neu aus dem Griff meiner Gewohnheiten und gesellschaftlichen Erfahrungen heraus ziehen? Wie werde ich mich dabei unterstützen zur Plastizität des Selbst in Selbsterkenntnis und Eigensinn?

Älter werden

Wer nicht alt werden will, muss jung sterben – dummer Spruch, uralt (wie manches Dumme, ständiges Recycling).

Aber es ist schon spannend, sich zu beobachten beim älter werden. Erstmal stehen die anderen unter Beobachtung. An denen fällt mir vielleicht an Veränderung auf, was in meinem Leben und Erleben sich als völlig normal und unverändert anfühlt.

Meine Mutter pflegte zu sagen, das mit dem Altwerden habe so um und bei 50 angefangen – ab da sei alles für sie beschwerlich geworden; eine andere Generation mit anderen Erwartungen. Mit 50 hab ich mich frisch verliebt, da fing mein Leben erst richtig an.

Beschwerlichkeiten beobachte ich bei mir seit etwa 73. Da hatte ich eine Blinddarm-Operation und das brachte anderes mit sich. Ein Jahr lang hatte ich 5 kg mehr am Bauch hängen. Die Arme wurden kürzer bzw. der Abstand zu den Füßen länger; heißt, es wurde zur Übung, weiterhin die Socken stehend freihändig anzuziehen. Und dann das Übliche: Die Lunge wird im Alter kleiner und ebenso die Blase, Finger und Zehen neigen zum Auskühlen.

Spannend finde ich, dass sich im Kopf, in meiner Vorstellung von mir selber kaum etwas ändert. Da nehme ich mich eher als den 50-Jährigen wahr statt des Heutigen. Nur, was sagt das? Wer von den beiden ist der Realere? Was meint da „wahrnehmen„? Ist das nicht tatsächlich „wahrgeben“, nämlich dem, was ich mit den Sinnen erkenne, dem gebe ich meine Sicht dazu, meine ‚Mein‘-ung und Haltung. Oder ist es stärker, ja, ist eigentlich „wahnnehmen„, nämlich eher ein Wähnen, Vermuten, glauben wollen als Wissen. Denn, wer könnte der Oberschiedsrichter sein und sagen, was ‚wirklich‘ los ist?

Ich werde weiter berichten über meine Erkenntnisse von mir selbst und meinen Eigensinn.